Vom Nachttisch geräumt

Die Mythen sind verwundet

Von Arno Widmann
10.02.2020. Auch im "Neuen Divan" gibt es den Becher, den Brunnen, den Mond, die Wüste sogar. Sogar Suleika hat einen Auftritt. Allerdings zusammen mit Marilyn Monroe.
Vorbild ist Goethes "West-östlicher Divan", dessen erste Fassung vor zweihundert Jahren erschien. "Vorbild" ist falsch. "Ein neuer Divan" ist etwas ganz anderes. Es ist nicht die Auseinandersetzung eines westlichen Dichters mit Traditionen der östlichen Dichtung, sondern "ein lyrischer Dialog zwischen Ost und West". Der sieht im Groben so aus: Zunächst das Gedicht eines lebenden Autors, einer lebenden Autorin im Original, daneben die Übersetzung. Am Ende dann vierzig Seiten Essays von 225. Die Herausgeber Barbara Schwepcke und Bill Swainson "beauftragten 24 Dichter, Gedichte als Antworten auf die Themen der 12 Bücher von Goethes ursprünglichem Divan zu schreiben. Die zwölf Lyriker aus dem 'Osten' schreiben auf Arabisch, Persisch und Türkisch, diejenigen aus dem 'Westen' auf Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch, Slowenisch und Spanisch." Die deutschen Fassungen stammen unter anderen von Ann Cotten, Ulrike Draesner, Elke Erb, Silke Scheuermann, Durs Grünbein, Raoul Schrott und Jan Wagner.

Manchmal hat man den Eindruck, es wäre gut, den Goetheschen Text im Hinterkopf zu haben. Andere Male denkt man nicht daran, obwohl es vielleicht gerade da besonders angebracht wäre. Die Kapitelüberschriften jedenfalls zitieren die des Divan. Der 1948 in Marokko geborene Mohammed Bennis beginnt "Das Schenkenbuch" nicht nur mit dem Ruf, ja der Anrufung "O Dichterfürst, Goethe", sondern er bleibt auch bei ihm: "Wahrlich, ich werde das Licht deines Bechers heben./Es gibt keinen anderen Weg in meiner versehrten Zeit,/ als sich von der Sehnsucht nach Dir führen zu lassen." (Übersetzung: Marion Poschmann) Der überraschte Leser entnimmt den Anmerkungen zu den Autoren, dass Bennis die erste Übersetzung ins Arabische von Stéphane Mallarmés "Ein Würfelwurf" vorlegte.

Auch im Neuen Divan gibt es den Becher, den Brunnen, den Mond, die Wüste sogar. Auch Suleika hat einen Auftritt. Allerdings zusammen mit Marilyn Monroe. Touristen sind da, aber auch Wanderer. Liegt es an der Auswahl der Herausgeber, an Goethe? Der 1930 in Syrien geborene Adonis (Ali Ahmad Said) eröffnet den Band. Er schreibt: "Der alleinige Leib wird zerrissen, Stück für Stück:/ Ein Körper, der vom Orient nicht mehr enthält als diesen Namen,/ ein Körper, der vom Okzident nicht mehr enthält als diesen Namen." Das Gedicht endet mit den Zeilen: "Die Mythen sind verwundet, im Osten wie im Westen, / und ich bin nur das Blut, / das abtropft." (Übersetzung: Lutz Seiler)

So betrachtet, denkt der Leser, sind wir das alle. Aber wir leben doch auch, bäumt er sich auf. Müde war der Orient. Der Westen war die Zukunft. Das ist vorbei. Die Mythen sind verwundet. Aber es gibt auch neue, die weitergereicht werden wie Drohungen. "Inder statt Kinder" war zum Beispiel ein solcher Mythos. Der spielt heute keine Rolle mehr. Er ist unverwundet verschwunden. Der Vorsprung, den der Osten inzwischen digital vor dem Westen hat, spielt in den Versen dieses Bandes keine Rolle.

"Elektrokardiogramm" heißt das Gedicht der 1983 geborenen Iranerin Fatehmeh Shams, das vom 1961 in Prag geborenen Farhad Showghi ins Deutsche nachgedichtet wurde. Fatehmeh Shams lebt in den USA. Sie ist also schon ganz für sich ein west-östlicher Divan. In "Elektrokardiogramm" verbindet sie Medizintechnik und Paranoia, das neue Herz mit den alten Bedrängnissen: "… In diesen Tagen erfahre ich die Nachrichten von meinem EKG/ Die Schlagzeilen betreffen die Vergangenheit/ Eine lachende Frau/ Einen Mann, den ich liebte/ Angezapfte Telefone/ Und kerngesunde Herzen…" Man entkommt der Vergangenheit nicht.

Ein neuer Divan - Ein lyrischer Dialog zwischen Ost und West, hrsg. von Barbara Schwepcke und Bill Swainson. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 225 Seiten, 30 Euro.