Vom Nachttisch geräumt

Plötzlich so viel Übersicht?

Von Arno Widmann
18.12.2017. Wieviele Kraftwerke gibt es auf der Welt? In welchem Land spenden Privatleute am großzügigsten? Wie besetzen Bienen die Welt? Karten geben die Antwort.
In Zeitungen werden Karten gerne eingesetzt, damit der Leser sich vom Lesen ausruhen kann. Ein gewaltiger Irrtum. Meist braucht er mehr Zeit, um die Karte zu verstehen als den Text. Wenn sie gut sind, lohnt sich der Aufwand. Nicht nur, weil sie Überblick verschaffen, sondern auch, weil sie helfen, sich den Sachverhalt einzuprägen. Es ist immer nur ein ganz bestimmter Überblick, eine Antwort auf eine möglichst genau gestellte Frage. Wer die falsche Frage stellt, dem verweigert die beste Karte die Antwort.

Man betrachte nur die fast ganz in Schwarz getauchte Weltkarte, auf der doch zwanzigtausend verschiedenfarbige Pünktchen glimmen: Kraftwerke aller Art. Zu den nur zu leicht erklärbaren Mängeln des bei Prestel erschienenen Bandes gehört, dass man zum Beispiel bei dieser Karte nicht sehen kann, welche Farben für Kohle, Atom, Wind oder Sonne stehen. Wie dick aber hätte der Band mit seinen mehr als 260 Karten sein müssen, wenn die Erläuterungen mitabgedruckt worden wären! Gleich am Anfang eine Karte, die ich noch nie gesehen hatte: Ein Luftballon in der Form eines groß geratenen Eis. Je nachdem, wo man auf ihn drückt, zeigt er mehr Details.


Weltmacht Elektrizität: Die Karte bildet ungefähr 20000 Kraftwerke der verschiedensten Typen rund um die Welt ab, darunter auch Windenergie und Solarkraft. Die Daten dafür lieferte die Webseite Enipedia.

Eine unserer nationalen Eigenliebe vehement widersprechende Karte findet sich am Ende des Bandes. Sie wurde für die italienische Tageszeitung Corriere della Sera erstellt. Gefragt wurde danach, in welchen Ländern Privatleute am großzügigsten spenden. Daten aus 160 Ländern wurden gesammelt. Angeführt wird die Liste von Birma. Deutschland hat keinen Auftritt unter den ersten zehn. Der Corriere übertitelte seinen Artikel mit der Schlagzeile: "Buddha lehrt auch die Ärmsten Solidarität". Kurz davor gibt es eine Karte "La carte du Monde du chocolat". 52 Prozent der Kakaoproduktion landen in Europa. Ich fürchte, dazu trage ich einen gar zu erheblichen Anteil bei.

Nicht alle Karten beantworten so praktische Fragen. Zum Beispiel zwei Straßenkarten von Mumbai, von deren Gebrauch beim Gang durch die Stadt ich nur abraten kann. Dafür haben sie ganz andere Qualitäten. Ich zitiere aus den Erläuterungen: "Die Straßenkarten von Mumbai wurden aus Plakaten für Bollywoodfilme gestaltet. Im Ozean rund um die Halbinsel, die vom Stadtzentrum Mumbais bedeckt wird, erkennt man bei genauer Betrachtung ein rituelles Shri-Yantra-Diagramm, das die Schönheit dreier Welten (der Erde, der Atmosphäre, des Himmels) sowie die Vereinigung der männlichen und der weiblichen Göttlichkeit zu Diwali darstellt."


Ren Ri, Yuansu Projects, Yuansu Series I, Geometric Series #01-World, 2007-08, PearlLam Galleries

Landkarten reizen seit ein paar Jahrzehnten auch Künstler. Sie lieben es, sie zu übermalen oder sie umzuformen. Manche greifen dabei auf sehr überraschende Mitarbeiter zurück. Der zweiunddreißigjährige Chinese Ren Ri ist Künstler und Imker. Vergangenes Jahr war in Goslar eine Ausstellung seiner Arbeiten zu sehen. In "Cartographics" sieht man eine Reliefkarte der Welt, die er an Stelle der in einem Bienenstock üblichen Rähmchen anbrachte. "Erstaunlicherweise störten die Bienen sich nicht an den Fremdkörpern und setzten den Wabenbau fort. Das taten sie jedoch nicht ganz im Sinne ihres menschlichen Auftraggebers: Sie bissen sich durch die Erhebungen im Relief und nutzten auch die Hohlräume darunter für ihre Waben, um sie mit Honig zu füllen." Eine künstlerische Kooperation über Speziesgrenzen hinweg. Beuys hätte seine Freude gehabt. Nicht nur jeder Mensch ist ein Künstler. Es sei mir gestattet, auf eine im Band nicht genannte Künstlerin, die in Stuttgart lebende Brasilianerin Cristina Barroso, zu verweisen, in deren Werk seit vielen, vielen Jahren Karten eine wichtige Rolle spielen.

Zurück zum Buch. Da sieht man zum Beispiel eine von Michael Tompsett anmutig überkleckste Weltkarte, auf der die Verteilung von Land und Meer die bleibt, die wir kennen. Die Kleckse auf der Weltkarte von Cecilia Della Longa haben dagegen eine Bedeutung. Sie zeigen, wo überall austretendes Öl große, größere oder gar gigantische Ausmaße angenommen hat. Am Schlimmsten ist es - natürlich, ist man versucht zu sagen - in Saudi-Arabien und Umgebung.

Cartographics - Die Kunst der Kartengestaltung, Prestel Verlag, herausgegeben von Jasmine Desclaux-Salachas, 256 Seiten, 267 farbige Abbildungen, 39,95 Euro
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