Vom Nachttisch geräumt

Lesen ist noch keine Alternative

Von Arno Widmann
02.07.2018. Als Kind konnte Allan Jenkins keine Wurzeln schlagen. Jetzt versucht er es in einem Garten.
Ich bin kein Gärtner. Nicht, weil ich etwas gegen Pflanzen habe, sondern weil ich unfähig bin, mich um etwas oder jemanden zu kümmern. Es ist schrecklich, wenn man das im Alter von siebzig Jahren über sich sagen muss. Es hilft auch nicht, wenn man weiß, dass man auch unfähig ist, sich um sich selbst zu kümmern. Es ist großer Defekt, der einen immer wieder in Katastrophen treibt und die, die das Pech haben, mit einem zu leben, mitreißt.

Ich schreibe das hier, weil ich gleich zu Beginn des Buches von Allan Jenkins darauf hingewiesen werde, dass es auch ganz anders hätte kommen können. Er schreibt, seinen Bruder Christopher habe er im Kinderheim allein gelassen, seine Schwester Lesley wähnte er in Sicherheit bei ihrem Dad, und Caron überließ er sich selbst, "während meine Mutter auf der Suche nach neuen Männern, neuem Sex und Abenteuern war". Allan schützte niemanden von denen, die ihm nahestanden. Er überließ sie sich selbst. Er hatte auch keinen kleinen Hund, kein Kätzchen, keinen Hamster, nicht einmal Plüschspielzeug, dem er zugewandt war, wo er die Tugend der Fürsorglichkeit hätte entwickeln können, ohne die der Mensch ohne Menschlichkeit bleibt.

Die Jenkins-Brüder, Devon, 1959. Foto: © Allan Jenkins

Aber es gab etwas, das ihn aus seiner Verpupptheit befreite: "Es war die hoffnungsvolle Hilflosigkeit keimender Jungpflanzen, die nach mir rief, etwas Verletzliches, das betreut werden wollte. Das Bedürfnis zu beschützen, da zu sein, war stark." Der englische Journalist Allan Jenkins erzählt: "Ich ziehe kleine Pflanzen so heran, wie ich als kleiner Junge gerne umsorgt worden wäre." Man ist nicht dazu verdammt, weiterzugeben, was man bekam. Man kann auch geben, was man niemals erhielt. Weil man weiß, wie gut es getan hätte, es zu bekommen. Ganz schlimm ist es, dass auch die, die vieles bekamen, so sehr sie es vielleicht sogar wollen, oft nicht in der Lage sind, etwas von der Freundlichkeit, der Güte, dem Vermögen zuzuhören und sich einzulassen auf die Sicht des anderen, weiterzugeben.

Weil es ihnen zu selbstverständlich war. Weil sie fanden, das Umhegen und Pflegen nahm ihnen die Freiheit? Stimmt das oder sind das doch vor allem beschönigende Redereien, mit denen sie verdecken, dass sie einfach nicht bereit sind, aus sich auszubrechen? Was doch der erste Schritt zur Freiheit wäre. Vielleicht ist es doch nicht so, dass die Selbst- zur Nächstenliebe führt. Vielleicht kann nur der, der andere liebt - und seien es nur Pflanzenkeimlinge -, lernen sich selbst zu lieben.

"Ich pflanze sie immer noch, diese ungebärdige, knallbunte Blume: Nasturtiums. Foto von Jenkins' Blog "Plot 29", Fotograf: Howard Sooley

Allan Jenkins' "Wurzeln schlagen" lebt auch von Erinnerungen an den Sechsjährigen, der seine Erbsen einfach wachsen ließ und sich wunderte, dass sie es taten, der sie und ihre Umgebung beobachtete und ihnen alles aus dem Weg räumte oder ihnen, als sie es brauchten, in den Weg stellte. Es ist ein Buch über die Menschwerdung des Allan Jenkins und seine Erkenntnis, dass er dazu einen Garten - und sei er noch so klein - braucht. Das ist seine Erfahrung. Für uns Leser ist es eine Metapher. Manche werden sie wörtlich nehmen und anfangen, selbst zu hegen und zu pflegen. Andere werden es nur ergriffen lesen und weiterempfehlen, um sich anschließend zum Beispiel dem KPD-Verbot oder dem Zusammenhang von Kunst und Vergewaltigung zu widmen.

Das ist kein Gartenbuch, das ihnen dabei hilft, die richtigen Pflanzen in den richtigen Boden zur rechten Zeit ins richtige Licht zu stellen. Es sind Erinnerungen ans Gärtnern. Der Journalist - er arbeitet als Gastrokritiker und Herausgeber des Observer Food Monthly - hat kein Schloss mit entsprechenden Landschaftsgärten. Er hat eine Parzelle in einer Londoner Kleingartenkolonie, um die kümmert er sich. Davon erzählt er. Also von sich. So erkennt der Leser in diesem Spiegel sich selbst. Nicht jeder zu seinem Vorteil.

Allan Jenkins: Wurzeln schlagen - Ein Jahr im Garten auf der Suche nach mir selbst, Rowohlt Hundert Augen, Reinbek 2018, aus dem Englischen von Christel Dormagen, 303 Seiten s/w Fotos, 20 Euro
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