Vom Nachttisch geräumt

Literarische Zugbegleiter

Von Arno Widmann
09.09.2015. Eine kleine, proppenvolle Anthologie: 77 kurze Geschichten für den öffentlichen Nahverkehr, gesammelt von Klaus Wagenbach
Klaus Wagenbach, der am 11. Juli seinen 85. Geburtstag feierte, hat eine kleine, proppenvolle Anthologie vorgelegt. 143 Seiten mit 77 Kurz- und Kürzestgeschichten. Sie sind der Länge nach angeordnet. Zuerst kommen Geschichten, die man von einer zu nächsten U-Bahn-Haltestelle lesen kann, dann kommen die, die zwei Haltestellen brauchen und zuletzt die, für die man schon die Strecke vom Alexanderplatz bis zum Hauptbahnhof braucht. Wer schon einmal den Koran in Händen hielt und sich darüber wunderte, dass auch dort die Suren der Länge nach aufgereiht sind, der kommt jetzt auf die Idee, dass es damals auch um Verkehrsdistanzen gegangen sein könnte. Wagenbach hat sich noch einen kleinen Zusatzscherz erlaubt: die Autoren stehen am Ende des Buches. Man kann also das Buch auch als ein Quiz lesen.

Ich habe vom ersten Augenblick an, durch alle neun Sätze hindurch den "Herbst der singenden Menschenaffen" geliebt. Wäre ich jünger, ich hätte versucht die Geschichte auswendig zu lernen. Niemals aber wäre ich auf Helmut Heißenbüttel als Autor gekommen. Nicht, weil diese Geschichte so ganz anders ist als alles andere von Heißenbüttel, sondern einfach, weil ich keine Ahnung habe von Heißenbüttel. Ich glaube, ich habe nur Doderer und Canetti erkannt. Nein, Heiner Müller auch und bei der Kaschnitz kam ich zwar nicht drauf, dachte dann aber sofort: Ja natürlich, warum kamst Du nicht drauf!

Das heitere Autorenraten ist so ein Nebenspäßchen bei der Lektüre des Bändchens. Der Hauptspaß sind doch die Geschichten selbst. Da ist zum Beispiel ein Text von Enzensberger "Vorschlag zur Strafrechtsreform". Er entstand wohl im Vorfeld der im Mai 1970 verabschiedeten Großen Strafrechtsreform. Enzensberger ironisiert das Vorhaben, in dem er die Sprache des Gesetzes als Spielmaterial benützt. Er lässt durch das Räderwerk dieser Formeln alle möglichen anderen Vorschläge laufen. Das hat einen schnell erlahmenden Reiz. Zu übersichtlich ist, dass von Rädelsführern und Hintermännern, von Zusammenrottung und von der Gestattung des Beischlafs die Rede sein muss. Das Gedicht hat ihn nicht über den Zeitgeist hinweg getragen, sondern ihn mitten hinein geweht. Die Rebellion erscheint selbst als ein Stück aus dem - wie man kurz zuvor in den einschlägigen Kreisen gerne sagte - verwalteten Leben.


Alltag in der DDR, Szene aus Gerhard Kleins Defa-Film "Berlin - Ecke Schönhauser" von 1957

Es gibt in dieser Anthologie auch einen bisher unbekannten Text. Gerhard Wolf hat ihn aus dem Nachlass seiner Frau Christa Wolf beigesteuert. Er heißt "Vatertag". Ich habe ihn am 15. Mai gelesen, also am Tag danach. Aber darum geht es nicht. Vatertag ist in der Geschichte der Tag, an dem der geschiedene Vater seine Tochter besuchen darf und die beiden in ein Café gehen, einander nichts zu sagen haben, die Erzählerin darum, selbst auf der kurzen Strecke von zwei Seiten, ausweichen muss auf fast alle anderen Besucher des Cafés, ohne freilich die beiden je aus den Augen zu lassen. Bis sie gehen.

Es ist ein sehr früher Text von Christa Wolf. Er erinnert an die Zeit als man nicht nur in der DDR versuchte, des Alltags habhaft zu werden. Zum Beispiel ganz großartig schon 1957 Wolfgang Kohlhaase (Drehbuch) und Gerhard Klein mit dem Film "Berlin - Ecke Schönhauser". Im Westen liebten wir damals den 1961 entstandenen Film "Bitterer Honig" von Tony Richardson. Es gehört zu den Schönheiten dieser Anthologie, dass die winzigen Texte, einem die unterschiedlichsten Bilder, Klänge und Geschmäcker ins Gedächtnis rufen. Viel interessanter als die Autorennamen sind dann die Assoziationen, die ein Satz oder ein Wort wecken. Sie können einen sehr weit tragen.

"Unverlöschlich" zum Beispiel ist ein Wort von Wolfgang Hilbig. Dessen kleiner Text "Der Leser" heißt, aber in Wahrheit doch von einem Schreiber erzählt. Wenn ich mich nicht irre, kommt das Wort "schick" einzig bei Heinrich Böll vor. Dass er es gewissermaßen in Anführungszeichen setzt, rettet es nicht. Es gibt in seinem in Portugal spielenden Text noch den Fischer und den Touristen. Das ist eine heute längst unmöglich gewordene Konstellation. Böll macht daraus eine Parabel, in der der Fischer, die Grille, dem Touristen, der Ameise, die Schönheiten des - wenn möglich von Touristen unbehelligten - in der Sonne Dösens vorführt. Man kommt viel rum mit diesen Geschichten, auch wenn man sie nicht im Öffentlichen Nahverkehr, sondern in seinem Sessel liest.

Störung im Betriebsablauf - 77 kurze Geschichten für den öffentlichen Nahverkehr, gesammelt von Klaus Wagenbach, Wagenbach Verlag, Berlin 2014, 143 Seiten, 9,90 Euro.