Vom Nachttisch geräumt

Danke und alles Gute
zum Geburtstag!

Von Arno Widmann
17.03.2016. Am Samstag wird Joachim Sartorius 70 Jahre alt. Zum Geburtstag schenkt er uns einen neuen Gedichtband. Ein Dankeschön eines treuen Lesers.
Gedichte wie Tagebuchaufzeichnungen. Man stellt sich den Autor vor, wie er mal am Abend, mal in einer Mittagspause sich hinsetzt und, statt sich Notizen zu machen, ein Gedicht schreibt. Wer wie ich schon zu faul ist sich etwas aufzuschreiben, der ist natürlich voller Bewunderung für jemanden, der nicht nur notiert, was er gesehen, empfunden, assoziert hat, sondern sich auch noch die Zeit nimmt, es in eine Form zu bringen.

Dass die Notiz nicht nur da sein, sondern schön da sein soll, ja ergreifend, das ist ein solches Mehr an Aufmerksamkeit der Welt - und natürlich der eigenen Existenz - gegenüber, dass viele von uns auch ein Gefühl der Beschämung beschleicht. Wir haben so viel weniger zu tun als dieser Jahrzehnte lang in allen möglichen Jobs der Kulturverwaltung beschäftigte gelernte Diplomat, der von Termin zu Termin zu hechten hatte und doch daneben - und auch dagegen - die Zeit fand zu schreiben. Von sich zu schreiben und seinen Empfindungen. Wir, die Nur-Leser, sind mitten in der Bewunderung und auch in der Beglückung durch ein paar Wendungen auch ein klitzeklein wenig neidisch. Dass da einer, der sein Leben lang - sei es z.B. als Chef des Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, sei es bei der Leitung des Goetheinstituts oder der Berliner Festspiele, sei es als Übersetzer - dafür gesorgt hat, dass wir andere Autorinnen und Künstlerinnen wahr nahmen, nicht nur die Zeit, sondern auch das Selbstbewusstsein, ja den Stolz fand, selbst ein Autor zu sein, das kommt uns ein wenig gar zu vermessen vor.

Aber Recht hatte und hat er. Unsere Kleinmütigkeit, unser "wie soll ich singen, wenn schon Fischer-Dieskau singt!" ist falsch und verlogen. Statt uns Ernst zu nehmen, setzen wir uns in Konkurrenz. Das hat man uns in der Schule beigebracht. Die Vorstellung davon, dass es von allem etwas gibt, das so ist, wie es sein muss und dass unsere ganze Arbeit darin besteht, dem möglichst nahe zu kommen, ist der Grundfehler fast einer jeden Pädagogik. Richtig ist: Jeder soll singen. Jeder auf seine Weise. Tut er das, dann wird sich zeigen, dass er eine eigene Schönheit hervorbringt. Zum Beispiel so etwas, geschrieben im Flugzeug über Afrika:

"Stattdessen rückte die Sahelzone näher.
Dieses Schwarzwasser hatte tiefblaue Ränder,/
wie die Strümpfe der Stewardess, blaue Seide,/
zwei lange Träume aus vergeblicher Ruhe."/

Ich mag diese Zeilen nicht nur weil sie - das Vorrecht der Dichtung - Unvergleichbares vergleichen, sondern weil sie indiskret, also erotisch aufgeladen sind, ohne dass sie es sagen. Man kann das "wie die Strümpfe" auf das Tiefblau beziehen und dann ist es nichts als ein Vergleich, bezieht man es aber auf die "Ränder", dann wird es unanständig. Denn über die Ränder der Strümpfe der Stewardess weiß der Passagier nichts. Er kann sie sich, übergriffig wie in Träumen, allenfalls vorstellen. Das ist wunderschön, sagen die einen, eine Altmännerfantasie, die anderen.

Ich habe, auch als ich noch ein junger Mann war, nie verstanden, warum Altmännerfantasien zu verwerfen sein sollten, während Jungmädchenträume allenfalls zu belächeln waren. Es ist ein sicher nicht nur menschliches Vorrecht, sich in jedem Alter, in jedem Moment des Lebens aus diesem zurückziehen zu können, einem mehr oder weniger feuchtem Tagtraum zu folgen, um dann wieder - hoffentlich ein wenig erfrischt, jedenfalls aus einer hilfreichen Entfernung - wieder in die Realität einer Konferenz, einer Schulstunde oder eines Artikels zu kommen. "Red Bull verleiht Flügel" ist wahrscheinlich gelogen. Gedichte tun es. Wie Musik es tut oder die Kunst oder auch einfach nur der aus der Welt wie sie ist uns hinauskatapultierende Gedanke. Manchmal führt der uns dank eines uns erschütternden Rückstoßeffektes mitten hinein in die Wirklichkeit. Wie in Sartorius' Gedicht "Fruchtfleisch", das wie geschrieben ist für einen, dem gerade attestiert wurde, dass er grauen und grünen Star hat und dass sein Herz manchmal für Bruchteile von Sekunden streikt:

"Zuerst sterben die Augen, dann die Hand/
in diesem Sommerherbst, dann der übrige Körper./
An der linken Hüfte nun tiefere Muskellagen,/
feinkörnige Schichten, papierähnlich./
Darüber die eingesunkene Brust,/
darüber ein Zimmervoll Zähne./

Ruinös alles, Dreck und Skelett./
Aber die Haut zart noch, wie Blütenblatt von Mohn./
Nur nicht der Sonne aussetzen, den Schirm/
Aufspannen, plötzlich besorgt./

Dreizehn Granatäpfel rollen auf dich zu./
Warum auch nicht? Wir wollen Fruchtfleisch,/
Rubine, die ganze Fülle vor dem Stoßgebet."/

Joachim Sartorius wird am 19. März 70 Jahre alt. Dazu das Dankeschön eines Lesers und einen herzlichen Glückwunsch obendrauf.

Joachim Sartorius: Für nichts und wieder alles - Gedichte, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 89 Seiten, 15 Euro.
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