Vom Nachttisch geräumt

Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen

Von Arno Widmann
08.12.2017. Die harte Schule der Alternativ- bewegung begann schon sehr früh, 1900, auf dem Monte Verità, lehrt uns Stefan Bollmann.
Stefan Bollmann verdanke ich, damals hatte er noch einen eigenen Verlag, die schönen Bände einer leider niemals abgeschlossenen Ausgabe der Schriften Vílem Flussers, ich mag seine im Sandmann Verlag erschienenen Bücher über lesende Frauen. Welche Bücher des C. H. Beck-Verlages, bei dem er als Lektor arbeitet, ich ihm verdanke, weiß ich nicht. In der Deutschen Verlagsanstalt ist jetzt sein Buch erschienen: "Monte Verità - 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt". Er erinnert darin daran, dass Erich Mühsams 1905 unter dem Titel "Ascona" erschienene Verriss der Lebensverhältnisse auf dem "Monte Verità" sich heute eher als Empfehlungsschreiben liest: "Was die Mitwirkung weiblicher Kräfte an irgendeinem einigen Fernblick erfordernden Unternehmen betrifft, so steht für mich apriori fest, dass die alten Griechen, Römer und Orientalen von einem sehr sicheren Instinkt geleitet wurden, indem die den Weibern zu jedwedem wichtigeren Beginnen den Zuschauerplatz anwiesen."

Soweit der Anarchist Mühsam, der hier doch auf sehr klaren und sehr traditionellen Machtverhältnissen und Hierarchien besteht. Bollmann erzählt vom Vegetarismus, von Dampfdruckkochtöpfen, die die Frauen von der Last des Kochens befreien sollten und sehr eindrücklich von der Abschaffung der regelmäßigen Mahlzeit im Sanatorium Monte Verità. Von Nackt- und Friedenskultur.


Reformtanz auf dem Monte Verita

Neben dem Sanatorium, in dem man ein paar Wochen blieb, gab es eine Reihe von Kommunen, in denen die unterschiedlichsten Gruppierungen die unterschiedlichsten Lebensformen praktizierten. Bollmann erzählt von ihnen allen. Zum Beispiel auch von einem reichen holländischen Kaufmann, der sich auf dem Monte Verità in einen Apostel des naturnahen Lebens verwandelte, in seinen Rezitationen Wagners "Parsifal" zur ersten vegetarischen Oper verwandelte  und den Veganismus und das dritte Geschlecht kreierte. Als Joseph Salomonsohn war er ins Zentrum der europäischen Reformbewegung um 1900 gekommen. Als Meva verließ er es. Meva, das ist Eva und Mann. Wobei es sich fügte, dass das M auch für mens, das lateinische Wort für Geist stehen konnte. Wie bei Mühsam ist der Mann der Geist und die Frau?

Die Reformbewegung war, da hatte Mühsam recht, stark weiblich geprägt. Aber nicht jeder dieser Frauen ging es um Gleichberechtigung und schon gar nicht den Männern. Meva wollte womöglich nicht darauf verzichten, außer Mann auch noch eine Frau zu sein. Er wollte alles. Das Weibliche sich einverleiben. Freilich fleischlos. Wer ein Stück durch die harte Schule der Alternativbewegung der 70er oder 80er Jahre gegangen ist, der erkennt vieles wieder, der amüsiert sich oder ärgert sich womöglich auch darüber, dass so vieles schon vor dem ersten Weltkrieg nicht nur in langen Nächten diskutiert, sondern auch tatkräftig durchexperimentiert worden war. Die wunderbare Ausstellung "Monte Verità", mit der Harald Szeemann 1979 der Berliner Alternativszene einen Spiegel vorhielt, wurde damals wohl mehr als Ermunterung denn als Warnung gesehen. Das Buch zur Wanderausstellung, die von 1978 bis 1980 von Ascona über Zürich, Berlin,Wien bis München reiste, hatte den Titel "Monte Verita. Berg der Wahrheit. Lokale Anthropologie als Beitrag zur Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakralen Topographie."

Das Wort von der "sakralen Topographie" gibt das Selbstverständnis vieler der ja sehr unterschiedlichen Akteure auf dem Monte Verità wieder. Das totalitäre Moment, das in diesem Willen zur Umwälzung aller Lebensbereiche liegt, wurde dadurch entscheidend gemäßigt, dass man nicht andere, sondern vor allem sich selbst bezwingen wollte. Am 9. Juni 1979 besetzte eine Kommune namens "Fabrik für Kultur, Sport und Handwerk", die seit 1976  in zwei Fabriketagen in der Schöneberger Kurfürstenstraße gelebt und gewirkt hatte, das Ufa-Fabrikgelände. Sie errichteten für eine Weile so etwas wie einen Monte Verità in Berlin. Die Ufa-Fabrik gibt es noch immer. Sie ist noch immer kein Monte Varieté, wie in den zwanziger Jahren über den nach der Revolution heruntergekommenen Monte Verità gelästert wurde.

Stefan Bollmann, Monte Verità: 1900 - der Traum vom alternativen Leben beginnt, DVA, München 2017, 317 Seiten, sw Abbildungen, 20 Euro