Im Kino

Lee verliebt sich sehr

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Silvia Szymanski
05.06.2019. Plastik, Regen, Neonlicht, Autorauschen und drei wunderbar minimalistische junge Schauspieler: Der südkoreanische Filmregisseur Lee Chang-dong führt uns mit "Burning" in eine andere Wirklichkeit. "Zwischen den Zeilen" von Olivier Assayas bleibt dagegen ganz im bürgerlichen Hier und Heute: mit Paris, Sex und Konversation über den Literaturbetrieb.


Seoul summt wie eine deutsche Stadt in den frühen sechziger Jahren. Der gleiche Gegensatz zwischen einem weit verbreitet niedrigen proletarischen Lebensstandard und einem brutalistisch modernen Vorwärtsdrang. Leute in einer billigen Seouler Einkaufszone in ihren angenommenen/zugewiesenen Rollen als Kunden, Passanten, Verkäuferinnen… zwei herausgeputzte Reklamemädchen werben vor einem Kaufhaus. Ein trüber Lieferantenjunge kommt vorbei. Das eine Mädchen schaut auffällig herzlich zu ihm hin. Sie sagt, erkennst du mich nicht, wir kennen uns von früher; wir stammen doch aus demselben Dorf! Zwei, drei Atemzüge, und wir sind schon backstage, auf der Rückseite der Welt.

Lee und Haemi (der junge koreanische Filmstar Yoo Ah-in und Jeon Jong-seo in ihrer ersten Filmrolle). In ihrer Pause unterhalten sie sich im Abstellhof; zwei alte Seelen. Sie sind low budget, müde, alles andere als zuversichtlich, dass sich ihre Träume mal erfüllen werden. Lee macht Handlangerjobs und schreibt, für sich allein. Haemi wäre gerne Schauspielerin. Dass Lee sich nicht an sie erinnern kann, liege daran, dass sie eine Schönheitsoperation hat machen lassen, sagt sie. Sie aber habe sofort gewusst: Das ist doch der Junge, der sie gerettet hat, als sie als Kind in einen Brunnen fiel. Und der sie dann, als Teenie, nie mehr beachtete. Das einzige, was er zu ihr gesagt habe: wie hässlich sie sei.

Nun ist sie sehr hübsch. Ein munter unbefangenes, leichtfertiges, anhängliches, verlorenes Kätzchen, das poetisch-philosophische, ein bisschen verrückte Sachen sagt. Da sitzen sie in einem billigen Café. Um sie herum Plastik, Hinweisschilder, Regen, Neonlicht, Reklamen, Autorauschen. In ein paar Tagen wird Haemi zu den Buschmännern in die Kalahari fliegen, über die sie gelesen hat und deren Weltsicht und Lebensweise sie bewundert. Ob Lee in ihrer Wohnung ab und zu nach ihrem zugelaufenen Kätzchen namens Boil sehen würde? Lee verliebt sich sehr.

Ihre Wohnung ist so durcheinander und ärmlich wie seine. Voller Kram, leicht zugemüllt. Die beiden haben nicht genügend Zeit und Kopf, sich drum zu kümmern. Da alles, was Haemi sagt, so klingt, als könnte es auch ausgedacht sein, bezweifelt Lee das Kätzchen. Es lässt sich auch nie blicken. Aber sein Fressnapf ist jeden Tag leer, und das Klöchen frisch belegt.



Lee hat eine auffallend leidende Art, sich durch die Gegend zu schleppen. Wie betäubt, als würde etwas ihn vergiften. Sein Mund steht, weit und weh, halboffen. Sein Gesicht, tränenverquollen. Sicher hat er ein zu schweres Herz. Aber er hat eine schöne, dunkle Stimme. Wenn er dazu kommt, etwas zu sagen. Er scheint zwar voller Worte, aber die anderen sind meist schneller.

Als Lee Haemi bei ihrer Rückkehr aus Afrika vom Flughafen abholt, kommt sie in Begleitung eines charismatischen jungen Mannes, den sie unterwegs kennen gelernt hat. Ben (Steven Yeun, bekannt aus "The Walking Dead"). Jung, reich, charmant, leicht, rätselhaft. Der Große Gatsby, findet Lee. Viele widerstreitende Gefühle spiegeln sich auf Lees Gesicht, in minimalen mimischen Bewegungen: Enttäuschte Verliebtheit und Nettseinwollen. Abneigung und Neugier. Neid und Bescheidenheit. Sympathie und Eifersucht.

Ben liest Haemi spielerisch aus der Hand: Sie habe einen Stein im Herzen. Und zaubert ihn im Spaß heraus. Er scheint wirklich sehr nett zu sein. Bei ihm zu Hause ist es stylisch, aufgeräumt und neu, wie in einem chicen Katalog. Alles edel, grau, weiß, beige. Kostbar funkelnde kleine Mosaikkacheln, eindrucksvolle Stereoboxen. Gute, moderne Kunst. "Ich koche so sorgfältig, als würde ich ein Opfer für die Götter zubereiten. Und dann esse ich alles selber auf!", lacht Ben. Lee und Haemi fragen sich, warum er bloß mit ihnen abhängt.

Lees und Haemis Ursprungsdorf sieht völlig anders aus. Es liegt in der Nähe der nordkoreanischen Grenze. Lee muss sich um das vernachlässigte, wie aus Pressspanplatten und Altglas gebaute Häuschen seines pleite gegangenen Vaters kümmern. Ein letztes verbliebenes Kalb im Schuppen muht hungrig und müde im tiefblauen Abendlicht. Lees Vater sitzt in U-Haft, wegen seines Renitenz- und Wutproblems, zu bockig und zu stur, um sich um gute Führung oder Strafminderung zu bemühen. Lee kämpft für ihn, sammelt Unterschriften von Nachbarn, die bezeugen sollen, sein Dad sei immer freundlich gewesen. Doch das war er nicht, weiß Lee und alle anderen auch. Lees Mutter hat ihn deswegen verlassen.

Das schwächliche Vorfrühlingslicht, noch schmutzig vom Winter, scheint auf Dinge, die sich noch nicht bereit gemacht haben. Gute Außengeräusche. Diskrete, bassige, holzige Klänge (Musik: Mowg). Lee und Ben sitzen auf der einfachen Veranda hinter Lees Elternhaus. Hinter ihnen trennt ein Fensterrahmen senkrecht wie eine Spiegelachse zwei verschiedene Möglichkeiten der Seele. (Kamera: Hong Kyung-pyo). In der Abenddämmerung, in der die zwei nur noch verschwimmende Schemen sind, vertrauen sie der Luft vor ihnen Dinge an, ohne einander dabei anzusehen. Ben plaudert in seiner entspannten Art von seiner Obsession, alte, verlassene Treibhäuser niederzubrennen. Zu bewirken, dass etwas Nutzloses verschwindet, mache ihn ekstatisch; es erzeuge in ihm ein tief befriedigtes Summen, das den Kern seiner Seele hin und her wiege. Nur so könne er leben.



Er sagt das mit unverstellt genießerischem Narzissmus und Sadismus. Und doch unschuldig; im Grunde ist diese Passion ja wirklich eher harmlos. Aber man teilt mit Lee ein langsam wachsendes Unbehagen. Als wären die Treibhäuser nur Metaphern. Als stecke Schlimmeres dahinter. Manchmal hat man das Gefühl, man blicke einem jungen, unschuldigen Teufel in die Karten, der um eine Seele wirbt - aus manipulativem Machtbedürfnis, aber vielleicht auch, um nicht allein zu sein. Der funkelnde, selbstsichere, gewandte Mephisto und der schüchterne, triste Dr. Faustus. Lee ist abgestoßen und fasziniert. Etwas von Bens amoralischer Privatphilosophie steckt ihn an.

Die Treibhäuser in Lees Gegend sehen trashig und vergammelt aus, geisterhaft trüb. Die Folien beschädigt. Im Traum steht Lee als kleiner, brandstiftender Junge vor der goldenen Feuerpracht eines brennenden, alten Treibhauses wie vor einem Weihnachtsbaum. Die Poesie des Qualms, des schwer reißenden und fallenden, schmelzenden Zellophans, der Wellenbewegungen der vielen Flammen, die wie eine Schrift aussehen.

Immer tiefer sieht man Lee in ein inniges und trauriges Nachdenken tauchen und versinken. Es ist faszinierend, wie sein Gesicht sich minimal, kaum merklich, fließend ändert, wie das Spiel von Licht auf Wasser, ein tieferer Spiegel, mit mehr Wahrheit als seine Umgebung und unendlichen Facetten. Alles in diesem Film ist wunderbar subtil gespielt und inszeniert, mit einer diskreten, innewohnenden, großen Kunst. Feeling, Fingerspitzengefühl, Magie. Die drei Hauptdarsteller spielen wie im Schlaf, traumwandlerisch; alles stimmt. Keinen Augenblick denkt man daran, dass das ein Film ist. Es ist eine andere, ebenso zwingende Wirklichkeit. An diesen Film wird man noch lange denken.

Die Auflösung der Rätsel will ich nicht verraten, und auch nicht die Konsequenz, die Lee draus zieht. Ich liebe sie nicht, aber sie ist schlüssig. Eine von vielen, vielen Möglichkeiten, und eben seine.

Das Treibhausmotiv kommt, las ich, aus zwei literarischen Quellen: einer Story von William Faulkner und einer von Haruki Murakami, die beide den gleichen Titel haben: "Scheunen abbrennen". Sie inspirierten das Drehbuch, das der Regisseur zusammen mit der Autorin Oh Jung-mi schrieb. "Burning" feierte schon große Erfolge in seinem Heimatland, beim Filmfestival in Cannes 2018 und bei der internationalen Filmkritik, und das freut mich sehr. Es ist der sechste Film des fünfundsechzigjährigen südkoreanischen Filmregisseurs, Schriftstellers und Drehbuchautors Lee Chang-dong, von dem ich mir nun unbedingt noch mehr ansehen will.

Silvia Szymanski

Burning - Südkorea 2018 - OT: Beoning - Regie: Lee Chang-dong - Darsteller: Yoo Ah-in, Jun Jong-seo, Steven Yeung, Kim Soo-kyung - Laufzeit: 148 Minuten.

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Zwei nackte Körper im Bett, eng umschlungen, regelrecht ineinander verkeilt, zunächst ist kaum auszumachen, wo der eine anfängt und der andere aufhört, fast scheinen wir es mit einem einzigen, anatomisch undurchsichtigen Wesen zu tun zu haben. Aber es sind doch zwei einzelne Menschen, eine Frau und ein Mann. Die Frau beginnt sich aus dem Knäuel zu lösen, der Mann klammert, im Halbschlaf, gibt sie nur widerwillig, Gliedmaß für Gliedmaß, frei. Das hat etwas Spielerisches, aber nichts Sexuelles, in seinen Bewegungen steckt eine Sehnsucht nach Trägheit, nach Regression.

Aber es hilft alles nichts. Sie steht auf, er bleibt zwar vorläufig noch liegen, quer übers Bett gefläzt, wie hingeworfenes und liegengelassen, aber bald muss auch er aufstehen, sich anziehen, unter Leute gehen und vor allem: reden. Denn in "Zwischen den Zeilen" von Olivier Assayas ist das Gespräch das Zentrum des Seins und der Welt. Die Menschen in dem Film sind zum Gespräch geboren, zum Gespräch verdammt. Nur ganz selten, wirklich vehement eigentlich tatsächlich nur in der beschriebenen Szene im Bett, leisten sie Widerstand gegen den Zwang des Miteinandersprechens. Notwendigerweise ist dieser Widerstand passiv und unartikuliert - denn wenn sie ihn ausformulieren würden, wären sie ja schon wieder im Gespräch gefangen.

Worüber wird da geredet, fast stets in von nüchternem Winterlicht illuminierten Pariser Altbauwohnungen und nicht selten direkt vor Bücherregalen? Über den Buchmarkt. Die Leute lesen einfach weniger. Aber stimmt das, oder wird einfach nur weniger als Buch gelesen? Leben wir nicht ganz im Gegenteil in einem vom geschriebenen Wort dominierten Zeitalter? Mein Blog zum Beispiel hat hohe Klickzahlen. Aber da schreibst Du doch nicht über Literatur. Da schreibe ich über alles, über das, was die Leser_innen lesen wollen. Die Zukunft gehört jedenfalls dem E-Book. Nein, stimmt nicht, da sinken die Verkaufszahlen zur Zeit, während sie beim Hardcover sogar wieder gestiegen sind, neulich, irgendwo, angeblich. Zwei Gespräche weiter: Wie steht es eigentlich um die Literaturkritik im Zeitalter der Digitalisierung? Wichtig ist der direkte Kontakt zum Publikum, Zeitungen liest doch erst recht niemand mehr. Vier Gespräche weiter: Also ich finde es nicht ok, dass der Autor sich hinter einem Kunstbegriff versteckt, um private Geschichten auszubreiten. So etwas wie das Recht am eigenen Bild muss auch für die Literatur gelten.



Wer auch nur gelegentlich am Rand mit dem Literaturbetrieb oder allgemeiner mit der Sphäre des Kulturbürgertums zu tun hat, wird nicht nur all diese Themen, sondern tatsächlich fast jeden einzelnen Satz schon gehört, vielleicht auch selbst ausgesprochen haben. Und zwar, und das ist, glaube ich, das entscheidende, nicht nur einmal, sondern immer wieder, am laufenden Band. Die meisten Figuren in "Non-Fiction" sind Teil des Literaturbetriebs und haben also durchaus Grund, derartige Gespräche zu führen; was nichts daran ändert, dass die ewig sich wiederholenden Formeln eine ermüdende, erdrückende Wirkung haben. Léonard (Vincent Macaigne), der männliche Teil des Gliederknäuels im Bett, ist Schriftsteller, Selena (Juliette Binoche), der weibliche Teil, ist die Ehefrau seines Verlegers Alain (Guillaume Canet). Selbst arbeitet sie als Schauspielerin, in einer Polizeiserie. Die Sätze, die sie benutzt, um ihren Job zu beschreiben, wirken ebenfalls abgenutzt, wie ein schon ein paar Jahre zu lang getragener Mantel: Es ist keine große Kunst, aber ich mag es, beim Spiel meinen Körper einzusetzen.

Die Literaturszenegespräche gehen fließend in Beziehungsgespräche über. Léonard wird von seiner Frau Valérie (Nora Hamzawi, jede Szene mit ihr ist eine Freude) konfrontiert: Liebst Du mich? - Ja. - Ich frage Dich, weil ich Dich liebe. - Wirklich? Auch wenn wir uns oft streiten? - Gerade weil wir uns oft streiten. Die kommunikativen Muster gleichen sich, auch wenn im Reich der Intimität der Zwang zur Verbalisierung natürlich einen anderen Stellenwert hat als in Verlagshäusern. Dennoch: Die destruktiven Hohlformeln des Literaturbetriebs färben früher oder später vermutlich tatsächlich auf die notwendigen Hohlformeln der Liebeskommunikation ab. Alain wiederum hat ebenfalls eine Affaire, mit Laure (Christa Théret), einer Strategieberaterin, die dabei helfen soll, den Verlag auf Vordermann zu bringen. Laure ist eine faszinierende Präsenz im Film, gleichzeitig ätherisch verhuscht und geschäftsmäßig glatt, außerdem die einzige Figur, die einmal im Zustand sexueller Erregung gefilmt wird.

Assayas, seit jeher von jungen Frauen des Typs tough-sexy fasziniert, investiert in sie offensichtlich einiges an Fetisch-Energie, weist ihr aber auch eine etwas problematische Drehbuchfunktion zu: Laure, die bei jeder Gelegenheit über die Unvermeidbarkeit des Wandels und den enttäuschenden Konservativismus der Buchbranche doziert, fungiert in "Zwischen den Zeilen" als eine Art Stand-In für die Digitalisierung, für die neuen Medien, mit denen das Verlagswesen bei jeder Gelegenheit flirtet und mit denen es gelegentlich auch tatsächlich ins Bett schlüpft, denen es sich aber vorerst noch nicht komplett, mit Haut und Haaren, verpflichten möchte.

Laure wird, anders ausgedrückt, metaphorisch überformt, sie ist letzten Endes eher ein Element des Literaturdiskurses, als eine Akteurin im Beziehungsgeflecht. Ein Argument, keine Agentin. Ein Riss im Gewebe eines Films, der zwar, Szene für Szene, Gespräch für Gespräch, souverän gefertigt ist, aber nie ganz die filigrane Leichtigkeit der besten Assayas-Filme - wie etwa der beiden Vorgänger "Sils Maria" und "Personal Shopper" - erreicht. Es gibt diesmal eine gewisse Unbeweglichkeit der Gedanken, eine diskursive Lähmung, die auch auf den Bilderfluss überzuspringen droht. Aber das muss vielleicht so sein in einem Film über den Literaturbetrieb. Alles andere würde sich, glaube ich, falsch anfühlen.

Lukas Foerster

Zwischen den Zeilen - Frankreich 2018 - OT: Doubles vies - Regie: Olivier Assayas - Darsteller: Vincent Macaigne, Guillaume Canet, Juliette Binoche, Nora Hamzawi, Christa Théret - Laufzeit: 108 Minuten.