Im Kino

Der Schmerz des Patriarchen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Karsten Munt
03.01.2020. Valentina Primavera hält in ihrer Doku "Una primavera" die Geschichte ihrer Eltern fest, vor allem die ihrer Mutter, die sich von dem prügelnden Patriarchen trennt und dann doch zurückkehrt. Die Kamera bleibt dabei immer im Familiengefüge. In seinem zweiten Film über Jeanne d'Arc erzählt Bruno Dumont die Geschichte der Jungfrau von Orléans mehr entlang der historischen Eckdaten. Der alternative Mythos des Films blüht hier nur kurz auf.


Valentina Primavera ist aus Italien weggezogen, nach Deutschland. Jetzt ist sie wiedergekommen, um einen Film zu drehen. Hier fahren alle mit dem Auto, erzählt sie im Voice Over. Sie selbst fährt meist auf dem Beifahrersitz mit, in der Hand eine Kamera, die sie auf die Fahrerin richtet. Das ist eine interessante Perspektive, weil sie eine intime Nähe impliziert und gleichwohl mit dem öffentlichen Raum vermittelt ist; und weil die Person, die gefilmt wird, am Steuer sitzt und deshalb ihre Aufmerksamkeit in erster Linie auf den Straßenverkehr zu richten hat, nicht auf die Kamera. Wir sehen einen Menschen, der unter Spannung steht, und der deshalb möglicherweise Dinge von sich preisgibt, die er in einer anderen, aus seiner Sicht souveräneren Aufnahmesituation für sich behalten würde.

Die Kamera produziert, anders ausgedrückt, durch ihre Anwesenheit Stress. Das ist eine Konstante in diesem außergewöhnlichen Film. Wo dokumentarische Ästhetiken ansonsten oft alles daran setzen, Menschen möglichst "natürlich", also ohne sichtbares Bewusststein für die Aufnahmesituation agieren zu lassen, ist den Protagonist_innen in "Una Primavera" oft anzusehen, dass ihnen das Gefilmtwerden bewusst und nicht allzu angenehm ist. Aggressive Abwehrreaktionen gibt es keine, auch klassisch kamerascheu ist niemand, eher macht sich eine gewisse Verlegenheit breit, die zu tun hat mit einer jahrelangen intimen Vertrautheit, die nun plötzlich auf einen anderen, kinematografischen Raum hin geöffnet wird.

Diese Vertrautheit schließt die Regisseurin mit ein. Auf dem Beifahrersitz sitzend ist sie zwar eher Beobachterin denn Akteurin; aber ein bisschen Akteurin ist sie schon, denn was sie beobachtet, mit der Kamera, manchmal eben vom Beifahrersitz aus und auch in allen anderen Szenen stets aus nächster Nähe, ist ihre eigene Familie. Ihre Mutter Fiorella vor allem, die den Beschluss gefasst hat, sich von ihrem Mann, Valentina Primaveras Vater, zu trennen. Keineswegs ist das eine Entscheidung aus heiterem Himmel. Jahrzehntelang, die ganze Ehe hindurch, wurde sie misshandelt, die ersten Schläge kamen, erzählt sie, kurz nachdem sie, sehr jung, geheiratet hatte (einer unter vielen herzzerreißenden Momenten: Mutter und Tochter blättern im Fotoalbum, die Mutter weiß nicht, ob sie ihr Hochzeitsfoto lieben oder hassen soll). Es ist auch nicht so, dass das alles im Verborgenen geschehen wäre: In der Familie wusste jeder Bescheid, aber abgesehen von ihren eigenen Kindern haben sich alle stets auf die Seite des Mannes gestellt.



Auch jetzt reden sie noch so, vor Valentina Primaveras Kamera. Fiorellas Mutter, ein Onkel, Valentinas Schwager, alle sagen in Variationen dasselbe: Mitleid mit dem Mann müsse man haben, weil der von seiner Frau verlassen wurde und nun alleine in einem großen Haus lebt. Der Schmerz des Patriarchen ist, das sei gleich dazu gesagt, zweifellos echt. Zu sehen ist das in einer besonders eindringlichen Szene, in der Fiorella nach mehrmonatiger Abwesenheit wieder das Familienanwesen betritt. Während die Kamera der Frau folgt, die ihr Zuhause, das sie selbst geplant und eingerichtet hat, inspiziert und sich über den schlechten Zustand von Zimmerpflanzen und Mobiliar über alle Maßen echauffiert, geistert ihr Mann im Bildhintergrund herum, schluchzend, flehend, ein Wrack. Aus seinen Gesten spricht die totale Abhängigkeit von der Frau, über die zu herrschen er sich angemaßt hatte. Der unbedingten Solidarität mit der ihrerseits den ganzen Film über am Boden zerstörten Mutter zum Trotz auch das Leid des Vaters anzuerkennen, im Wissen, dass dieses Leid keineswegs zu Einsicht oder gar Verhaltensänderung führen wird: Das ist eines der waghalsigen emotionalen Manöver, die dem Film mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit und ganz ohne distanzierende Diskursivierung gelingen.

Die Wiederbegegnung der Eltern ist nicht zuletzt deshalb eine Schlüsselszene, weil hier die Rolle des Kamerablicks besonders ambivalent ist. Er etabliert keine Außenperspektive, sondern bleibt im Familiengefüge, übernimmt eine Vermittlerrolle zwischen Mutter und Vater, allerdings gerade nicht mit dem Ziel, beide wieder in einer Einstellung zu vereinen. Vielmehr möchte er beiden Elternteile separate Bildräume zuweisen. Am liebsten würde er selbst zu einer Barriere werden, die den Vater von der Mutter und auch sie von ihm fernhält. Natürlich kann das auf die Dauer nicht funktionieren.

Una primavera: Der Frühling der Fiorella Primavera währt nicht lange, sie erträgt das Leben in Freiheit, vor allem das Leben fern des Hauses nicht. Die alten Muster setzen sich wieder in ihr Recht, der Vater hat sofort, wie auf Knopfdruck, wieder Oberwasser. Ein optimistisches Ende ist das nicht. Was sind die Perspektiven? Kann es überhaupt ein Ankommen geben gegen ein Patriarchat, das gesellschaftlich und historisch derart tief verwurzelt ist, dass es sich am Esstisch der Primaveras auch heute noch ohne Widerrede auf Benito Mussolini berufen kann? Werden zum Beispiel die Familien von Valentinas Geschwistern einfach nur dieselbe Struktur reproduzieren? Letztere Frage bleibt im Film implizit, ist aber sehr präsent. Beantwortet wird sie nicht. In jedem Fall sind alle drei Kinder Fiorellas so gründlich in die unselige Dynamik ihres Elternhauses verstrickt, dass man Hoffnungen vielleicht eher auf eine noch jüngere Generation setzen sollte. Zum Beispiel ist da Valentinas Nichte, die lebendigste, dynamischste Präsenz im Film. 16 ist sie, in dem Alter hatte ihre Großmutter geheiratet, sie selbst erzählt fröhlich kichernd, neugierig, aber nicht allzu beeindruckt, von ihrem Verehrer und dessen Motorrad.

Lukas Foerster

Una primavera - Deutschland 2018 - Regie: Valentina Primavera - Laufzeit: 80 Minuten.

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Die französische Heeresführung kommt auf einer Düne zusammen. Man ist sich nicht sicher, was heute, an diesem Spätsommertag im Jahre 1429 passieren wird, aber man ist sich immerhin sicher, dass es ein entscheidender Tag werden könnte. Nachdem die Gruppe diese Tatsache laut festgestellt hat, löst sie sich wieder auf. Die Rüstungsträger stapfen klappernd durch den Sand davon, bis nur die junge Jeanne übrig ist. Auf der Stelle verharrend hält sie ein Banner in den Wind, das wir nie zu sehen bekommen. Kurz darauf beginnt die Schlacht um Paris, die als Überblendung auf den Sand im Hintergrund projiziert wird.

Was zunächst wirkt wie die Kooperation eines örtlichen Laientheaters mit dem Videoclub des Kunst-Leistungskurses, ist in Bruno Dumonts zweitem Jeanne-d'Arc-Film ein gezieltes Verfremdungsprogramm, das den französischen Nationalmythos verzerrt, zerhackt und neu zusammenpuzzelt. Nicht auf Kosten der Protagonistin, die in erhabener Pose verharren darf, sondern auf Kosten derer, die sie für die eigenen Zwecke vor den Karren spannen. Zielte dieser Gestus in "Die Kindheit der Jeanne d'Arc", dem ersten Teil (hier unsere Kritik), noch direkt in Richtung Gegenwart (wo die französischen Nationalisten weiterhin ihr eigenes Zerrbild der Jeanne d'Arc feiern), ist der zweite Teil mehr daran interessiert, die Geschichte der Jungfrau von Orléans entlang der historischen Eckdaten zu erzählen. Erneut dient Charles Péguys Drama als Vorbild für die ästhetische Neuausrichtung des Mythos.



Statt einer Headbanging-Choreografie führen die Darsteller in "Jeanne d'Arc" nun symmetrische Pferdetänze auf, die die Schlachten des Hundertjährigen Kriegs mimen. Statt der Heavy-Metal-Riffs von Gautier Serre aka Igorrr gibt es Elektropop mit Kopfstimme von Indiesänger Augustin Charnet. Musik, die für uns trauert, während Jeanne die erste Niederlage auf dem Schlachtfeld vor Paris erleidet. Siege und Jubel scheinen schon wenigen Minuten nach Beginn des Films ferne Erinnerungen zu sein. Dumont erzählt diese Niederlage als eine schmerzhafte Ellipse. Jeanne, die zunächst in voller Rüstung gen Horizont reitend, kehrt nicht vom Schlachtfeld zurück. Nur ihr Schlachtross ist noch zu sehen, wie es panisch und verwirrt über von Schwertern im Boden symbolisierte Reste des Gemetzels trabt. Jeanne selbst bleibt verschollen in den Dünen des französischen Niemandslands.

Als sie wieder auftaucht, sind Monate vergangen und die Breite der verwaisten Dünen weicht den Bögen der Kathedrale von Rouen. Aus der verschwindenden Horizontlinie wird die sakrale Vertikale. Ein Setup für den Verfremdungswillen, den Dumont auch im zweiten Teil des Films ausführlich ausagiert. Die aus den Höhen der Kathedrale winzig anmutenden Kleriker plustern sich zu ihrer selbsterklärten gottgegebenen Größe auf. Auf den Zehenspitzen wippend erwarten sie ungeduldig auf die Gelegenheit, Jeanne der Häresie zu überführen und sie an den Scheiterhaufen binden zu lassen. Vor den eigentlichen Prozesssitzungen gibt Dumont dem buckligen Hochklerus noch Zeit sich gegenseitig zu begrüßen. Man seift sich mit seinen Titeln ein und nimmt sich noch die Zeit, Gottes Segen für das eigene Werk zu erbitten: ein Mädchen foltern und verbrennen zu lassen. Einer der alten Männer kann die offizielle Androhung dieser Strafe gar nicht erst abwarten und springt von seinem Platz auf, um sie wollüstig einzufordern.

So trifft die böswillige, klerikale Haarspalterei, die Dumonts Darsteller im grotesken Sprach- und Mienenspiel präsentieren, auf die unverfälschte, kindliche Entschlossenheit der Jungfrau von Orléans. Der Prozess ist das lange, strapaziöse Ergebnis dieses Aufeinandertreffens. Im Verlauf des theologischen Paragrafenreitens konfrontiert die Fratzen der Mächtigen mit dem undurchschaubaren Gesicht von Lise Leplat Prudhomme, die eine eigentlich viel zu junge Jeanne d'Arc spielt. Ein im Grunde tragisches Spiel, das aber während des Prozesses nie mehr ist als eine furztrockene Farce. Der alternative Mythos des Films blüht nur dort kurz auf, wo Dumont ihn über eine Auslassung erzählt: im französischen Niemandsland.

Karsten Munt

Jeanne d'Arc - Frankreich 2019 - OT: Jeanne - Regie: Bruno Dumont - Darsteller: Lise Leplat Prudhomme, Annick Lavieville, Justine Herbez, Benoît Robail, Alain Desjacques, Serge Holvoet - Laufzeit: 137 Minuten.