Im Kino

Hauptsache Tempo

Die Filmkolumne. Von Michael Kienzl, Fabian Tietke
09.01.2020. Johnnie Tos "Chasing Dream" feiert in einem wilden Ritt über Genregrenzen hinweg die beiden Popkulturphänomene, die das Kino Hongkongs groß gemacht haben: Martial Arts und Popmusik. Auch Ping Lumpraploengs Horrorfilm "The Pool", in dem ein Alligator in einem Schwimmbecken die Hauptrolle spielt, macht gerade wegen seiner ästhetischen Maßlosigkeit viel Spaß.


"Gao Finanzen. Wir treiben jede Schuld ein", prangt es auf dem Rücken des Trainers, während "Tiger, der gefräßige Boxer" zum Boxkampf "Champion of the Champions" einläuft. Die Gefräßigkeit des Boxers wird der jungen Cuckoo, die als Rundengirl arbeitet, zum Verhängnis: Tiger erkennt sie wieder, weil ihre Großmutter in der Nähe seiner Boxschule Nudelsuppen verkauft. Trainer und Geldeintreiber Gao erkennt sie wieder, weil sie Schulden hat. Kaum ist der Kampf vorüber, sucht Cuckoo das Weite, versteckt sich jedoch ausgerechnet im Auto von Tiger. Johnnie Tos "Chasing Dream" beginnt mit einer filmischen Setzung, die sich nicht wirklich um Plausibilität bemüht, die beiden Protagonisten des Films aber ausgesprochen effizient zusammenbringt.

Während Gao noch überlegt, wie sich aus Cuckoo am besten Geld herausquetschen lässt, nimmt Tiger sie kurzentschlossen mit zu sich in die Lagerhalle, in der er wohnt. Sie rollt im Erdgeschoss ihren Schlafsack aus, er liegt oben im Bett. Vom nächsten Tag an schleppt er sie von einem Job zum nächsten, um ihr zu ermöglichen, die Schulden zurückzuzahlen: vom hässlichen Schwan in einem Tanzfilm über Autowaschen in knappen Shorts bis zum Gogotanzen in einem Nachtclub. Auf einer Werbetafel entdeckt sie, dass ihr Exfreund, der mit ihren Songs Karriere gemacht hat, Juror bei der Talentshow "Perfect Diva" ist. Sie beschließt, sich bei der Show zu bewerben. Als sie es beim ersten Casting nicht in die Show schafft, fahren die beiden so lange durch China, bis es schließlich doch noch klappt. Aus den beiden Außenseitern ist ein Team geworden.

"Chasing Dream" ist ein harter Einblick in die Lebenswelten der Hauptfiguren: Während Cuckoo ihr Geld damit verdient, angestarrt zu werden, legt Tiger sich abends, nachdem das Blut abgewischt ist, ein Paket mit Eiswürfeln auf die Augen, um die Schwellungen zu lindern. Wie ähnlich beider Leben ist, zeigt sich, als eines nachts beide Krämpfe in den Beinen haben, und einander nicht helfen können, weil keiner der beiden noch gehen kann. Cuckoo träumt davon, die Schulden zurückzuzahlen, mit ihrem Exfreund abzurechnen und dann erhobenen Hauptes zu ihrer Großmutter zurückzukehren. Tiger träumt von einem Hot-Pot-Restaurant nach dem Ende seiner Boxerkarriere. Ein Ende das drängt, werden die Sorgen der Ärztin über die gesundheitlichen Schäden durch die Mixed-Martial-Arts-Kämpfe doch immer größer. Auch eine der Konkurrentinnen bei der Talentshow wird zunehmend invalide durch die körperlich fordernden Bühnenauftritte.



Zugleich ist "Chasing Dream" jedoch eine Feier der beiden Popkulturphänomene, die das Kino Hongkongs groß gemacht haben: Martial Arts und Popmusik. Johnnie To kehrt nach "Office", einem Büro-Musical mit Seitenhieben auf die Arbeitsethik Hongkongs von 2015, und dem Actionfilm "Three" von 2016 mit einem wilden Ritt über Genregrenzen hinweg auf die Kinoleinwände zurück. Was als Gaunerkomödie beginnt, driftet kurz in Richtung Klamaukkomödie (ein Tonfall, in dem Hongkong-Kino und chinesisches Kino recht gut zueinander finden), um dann zu großer Form aufzulaufen und sich zwischen RomCom und Drama zu stabilisieren, nur um sich gegen Ende noch einmal zum großen Musicalshowdown fortreißen zu lassen. To bestätigt in seinem neusten Film einmal mehr, dass es kein Kino auf dieser Welt gibt, das einen souveräneren Umgang mit Genres pflegt, als das Hongkongs. Zu dieser Souveränität gehört auch, dass sich nicht alle Elemente immer gleich gut ineinanderfügen.

Wie nahezu alle großen Regisseur_innen Hongkongs ist auch Johnnie To mit "Chasing Dream" endgültig im Limbo zwischen dem Fortführen der eigenständigen Kinotradition Hongkongs und der Annäherung an das Kino Chinas angekommen. Hauptdarsteller Jacky Heung ist als ältester Sohn von Produzentenlegende Charles Heung Produkt des Hongkonger Filmkosmos, den er in Filmen wie dem Remake des Klassikers "72 Tenants of Prosperity" oder dem Wong-Jing-Chow-Yun-Fat-Franchise "From Vegas to Macau" fortführt. Hauptdarstellerin Keru Wang entstammt hingegen eher dem chinesischen Kino. Ihre einzige frühere Rolle spielte sie in Feng Xiaogangs "Youth" von 2017. Auch die Darsteller_innen der Nebenrollen wie Shao Bing als Boxmeister Ma Qing und Wu Yitong als Jurorin Zhao Ying haben keinen Bezug zum Kino Hongkongs.

Die Größe Johnnie Tos zeigt sich darin, wie er den kulturellen Wandel im Film selbst reflektiert: Während die jungen Boxschüler Tiger bei jedem Kampf anhimmeln, sieht Boxmeister Ma Qing in den Mixed Martial Arts einen Verrat an der chinesischen Boxtradition. Erst über viele Krisen hinweg zeigen sich die Vorteile, wenn man beide Kampfstile verbindet. Der Wandel offenbart sich auch in den zahlreichen Szenen, in denen es ums Essen geht. Während die wahre Liebe sich in der Suppenküche oder in Tigers tänzelnder Zubereitung eines Hot Pots für Cuckoo während einer Probe zeigt, sind die Rezepte in Tigers neueröffnetem Restaurant allesamt zusammengeklaut - ohne, dass das den Film sonderlich interessieren würde. Wäre Johnnie To nicht noch viel zu jung für ein Alterswerk, "Chasing Dream" wäre eines. Der Film mag nicht der beste sein, den er je gedreht hat, doch wenigen Regisseuren gelingt es auf ähnliche Weise, sich immer wieder neu zu erfinden. Eines jedoch bleibt auch bei diesem Film gleich: hungrig sollte man ihn auf keinen Fall sehen.

Fabian Tietke

Chasing Dream - Hongkong, China 2019 - OT: Chihuo quan wang - Regie: Johnnie To - Darsteller: Jacky Heung, Keru Wang, Shao Bing, Ma Qing, Wu Yitong, Zhao Ying - Laufzeit: 118 Minuten

---



In einem ruhigen Moment überreicht Koy (Ratnamon Ratchiratham) ihrem Freund Day (Theeradej Wongpuapan) ein kitschiges, mit Goldrand verziertes Deko-Ei. Erst als sie es öffnet und ein kleines Plastikbaby zum Vorschein kommt, ahnt man, was der Anlass für dieses Geschenk ist. Dabei verrät die verhaltene Reaktion Days, dass er von der Nachricht alles andere als begeistert ist. Doch noch bevor sich das Unbehagen über die neue Vaterrolle wirklich ausbreiten kann, offenbart sich, dass das Ei mit seiner hilflos eingesperrten Figur auch zum Symbol einer anderen, sehr viel lebensbedrohlicheren Angst wird. Denn während sich Koy und Day zu diesem Zeitpunkt noch als Crewmitglieder eines Fotoshootings in einem schon etwas verfallenen Schwimmbad befinden, wird dieser Ort für sie durch eine Verkettung unglücklicher Ereignisse bald zur tödlichen Falle. Allein und ohne Aussicht auf Rettung sind die beiden schließlich in einem sechs Meter tiefen, sich langsam leerenden Pool ohne Leiter gefangen.
 
Von Anfang an streut der thailändische Horrorfilm "The Pool" fleißig Hinweise darauf, was seinen Protagonisten alles widerfahren wird oder sie vielleicht auch retten könnte: Eine weggeworfene Zeitung etwa informiert über einen entlaufenen Alligator, der ihnen schon wenig später Gesellschaft leisten wird. In unerreichbarer Ferne am Beckenrand befinden sich eine Pizza, ein Handy, eine Insulinspritze für den Diabetiker Day sowie ein angeleinter Bobtail, der zwar auf den Namen Lucky hört, mit seiner Tollpatschigkeit aber alles nur schlimmer macht. Besonders in der ersten Hälfte inszeniert Regisseur Ping Lumpraploeng, der bisher vor allem Mainstreamkomödien gedreht hat, einen regelrechten Wettstreit parallel stattfindender Ereignisse. So muss sich Day entscheiden, ob er seinen Hund rettet, der sich aus Versehen selbst erhängt hat, oder sein Handy, das auf der anderen Seite des Pools gerade Richtung Wasser vibriert. Auch ansonsten gilt: Hauptsache Tempo halten und im Zweifelsfall noch eins oben draufsetzen, ob mit kleinen, aber effektiv umgesetzten Ereignissen wie einem abgebrochenen Fingernagel oder körperlichen Gefechten mit dem weiblichen Krokodil, das auch schon Eier gelegt hat.
 


Obwohl das Setting zunächst an Filme wie "Saw", "Open Water" oder "Crawl" denken lässt, erweist sich "The Pool" keineswegs als straighter oder gar minimalisitscher Genrebeitrag. Sein Spiel mit Requisiten und Motiven ist vor allem auf Überwältigung ausgerichtet, seine Ästhetik ist glossy und erinnert an Musikvideos und nach einem ruhigeren Mittelteil fährt Lumpraploeng schwere melodramatische Geschütze auf. Auch wenn nicht jeder Einfall gelungen ist, macht der Film gerade wegen seiner Maßlosigkeit viel Spaß. Wie der Film seinen Protagonisten mit einer endlosen Kette an verpassten Chancen und unglücklichen Zufällen zermürbt und in immer neue Dimensionen der Ausweglosigkeit vordringt, ist nicht frei von makabrem Witz und doch auch fast immer spannend.
 
Interessant ist "The Pool" außerdem, weil er sein Horror-Gerüst nutzt, um vom Meistern einer Beziehungskrise und der Angst vor familiärer Verantwortung zu erzählen. Während einer kurzen Ruhepause gesteht Day seiner Freundin, dass es ihm unmöglich sei, ein Kind großzuziehen, wenn er es noch nicht einmal schaffe, sich aus einem Schwimmbecken zu befreien. Nicht zuletzt wegen der roten Couch, die sich noch als Überbleibsel des Fotoshoots im Pool befindet, wirkt das weiß gekachelte Gefängnis wie ein improvisiertes Wohnzimmer - oder auch eine Probebühne für ein späteres Familienleben. Auf ihr muss der von Selbstzweifeln geplagte Day seine notwendige Mannwerdung durchlaufen. Spätestens, wenn es am Ende zu einem westernartigen Duell mit dem Krokodil kommt, bei dem der verwundete Protagonist wie ein Martial-Arts-Krieger über sich selbst hinauswächst, offenbart sich dann, dass wir uns hier schon die ganze Zeit in einem Boot Camp für werdende Väter befinden.

Michael Kienzl

The Pool - Thailand 2018 - OT: Narok 6 metre - Regie: Ping Lumpraploeng - Darsteller: Theeradej Wongpuapan, Ratnamon Ratchiratham - Laufzeit: 91 Minuten.