Essay

Die Spur des Irrläufers

Von Alida Bremer
25.10.2019. Man soll Peter Handke bitte genau lesen, sagen Eugen Ruge und Thomas Melle. Gut, dann sei er hier nochmal gelesen und in den Kontext gestellt. Vielleicht schauen die Handke-Verfechter dann auch mal aus ihrer Lektüre auf und nehmen die Fakten zur Kenntnis. Handke idolisierte die gleichen rechtsextremen Kriegsverbrecher wie später Andres Breivik und Brenton Tarrant. In einer extremistischen Postille relativierte Handke noch im Jahr 2011 den Genozid von Srebrenica.
(Dieser Artikel wurde um 10.15 Uhr ergänzt, d.Red.)

Die Leser Peter Handkes seien eine Art "Gemeinde", eine "Anhängerschaft, die ein gläubiges Verhältnis zu ihm hat", so sagte Marcel Reich-Ranicki im "Literarischen Quartett" vom 25.  April 1997 (Datum korrigiert, d.Red.). Er wusste gar nicht, wie recht er hatte. Bis heute hat Handke seine ehrfürchtigen Jünger. Man solle nur sein Werk lesen, wie er den Dingen lauscht, den "andersgelben Nudelnestern", halten sie seinen Kritikern vor, und wollen doch selbst nicht hören, was Handke in drastischer Offenheit seit über zwanzig Jahren und bis heute verkündet.

Reich-Ranicki wurde zu einem der ersten Opfer von Handkes schockierender Aggressivität. Der Kritiker mochte diesen Autor nicht, und Peter Handke nahm es ihm so übel , dass er den Überlebenden des Warschauer Ghettos in seinem Buch "Die Lehre der Sainte-Victoire" zu einem wütenden Hund machte, "der in seiner von dem Getto vielleicht noch verstärkten Mordlust jedes Rassemerkmal verlor und nur noch im Volk der Henker das Prachtexemplar war" (mehr zu diesem Zitat hier). Der Germanist Jürgen Jacobs schrieb dazu im Jahr 1993 - drei Jahre vor der "Winterlichen Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien": "Ob dies noch 'reine', absichtslose, meinungsfreie Literatur ist, wird man bezweifeln müssen. Fraglich scheint auch, ob eine so maßlose Attacke, die offensichtlich vom Hass diktiert ist, sich mit jenem 'sanften Gesetz' in Einklang bringen lässt, das doch im Zentrum der 'Lehre der Sainte-Victoire' steht."

Und ausgerechnet dieses Werk, "Die Lehre der Sainte-Victoire", nannte Henrik Petersen, Mitglied des Nobelpreiskomitees, in seiner Stellungnahme am 17. Oktober 2019 als eines jener Werke, die von "Handkes Auseinandersetzung mit dem faschistischen Deutschland" zeugen. Er betonte: "Im Gegensatz zu vielen, die sich in den letzten Tagen über ihn geäußert haben, wollen wir uns auf der Suche nach Antworten seinen Texten zuwenden - und dort werden wir die antifaschistische Haltung entdecken, die sein gesamtes Oeuvre durchzieht. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nationalsozialismus."

Es ist zu befürchten, dass dem schwedischen Juror die Szene mit dem Hund entgangen ist, beziehungsweise dass er sie in Unkenntnis des Kontextes gelesen hat, das heißt ohne zu wissen, wer mit dem wütenden Hund gemeint war. Handke selbst erklärte es in mehreren Interviews, so dass es keine Zweifel daran geben kann. "Das wurde mir übel genommen als Antisemitismus, aber da konnte ich auch nur staunen drüber. Er lebe in Frieden", sagte er 2012 im Interview mit dem SZ-Magazin. Ähnlich wie im Fall der Auseinandersetzung mit Handkes Texten über die Kriege auf dem Balkan, wäre es für die Einschätzung der politischen Haltung des Autors wichtig, diesen Text noch einmal unter Berücksichtigung des Kontextes zu lesen. Hier wird im Namen der Kritik des Faschismus die Grenze der Auseinandersetzung in einer Brutalität überschritten, die meines Erachtens Zweifel am Antifaschismus des Autors erlaubt. Ich bin also anderer Meinung als Lothar Struck, einer der größten Bewunderer Handkes , der in seinem Handke-Buch nicht nur die Sichtweise Handkes auf die Ereignisse auf dem Balkan vollständig verinnerlicht hat, sondern zu dieser Episode schreibt: "Wenn Handke nun tatsächlich Reich-Ranicki als Hund darstellt, dann geschieht das nicht aus antisemitischen, sondern aus literarischen Gründen". Struck geht so weit, den möglicherweise skeptischen Lesern in zwei Fußnoten die Worte "Getto" und "Rassenmerkmal" zu erläutern: "Mit Getto ist der vorher beschriebene eingezäunte Bereich gemeint, in dem der Hund lebt" und "Der Hund wird vorher als Doggenart bezeichnet."


Verbrechen, Genozid, Leugnung

Es ist bisweilen merkwürdig zu beobachten, dass die meisten Handke-Verteidiger ihre Balkan-Kenntnisse vorwiegend aus Handkes Behauptungen selbst zu beziehen scheinen. Sie suchen nach Gründen für seine Medienkritik, machen sich aber nicht die Mühe, sich wirkliche Kenntnisse über den Krieg anzueignen. So kann Eugen Ruge in seinem Handke-Plädoyer mit dem verräterischen Titel "Lest ihn doch einfach mal!" (FAZ vom 23. Oktober) einfach Handkes Relativierungen wiederholen: Ja, es habe serbische Massaker gegeben, aber es habe auch muslimische Massaker gegeben und kroatische - alles irgendwie gleich. Als hätten die Medien, die Historiker und die Gerichte die Verantwortlichkeiten nicht längst benannt. Und als gäbe es "alternative Wahrheiten" zu diesen Erkenntnissen.

Die Jugoslawien-Kriege gehören zu den besterforschten Kapiteln der Geschichte überhaupt: Auf einer Seite stehen alle internationalen Berichterstatter, die internationalen Juristen und die internationale Wissenschaft, auf der anderen einige Verschwörungstheoretiker, Peter Handke und einige von ihm in der Geschichte des Balkans angelernte deutsche Kritiker und Schriftsteller. Diese wiederholen im Chor, dass Handke 2006 Srebrenica als "das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in Europa nach dem Krieg begangen wurde" bezeichnet habe (ohne zu wissen, dass er sogar dieses schwache Zugeständnis 2011 revidierte, siehe unten).

Doch Handke, der in seiner Jugend Jura studierte, vermied auch bei dieser Aussage sehr geschickt den Gebrauch des Worts "Genozid". Der Tatbestand des Genozids gehört zwar zum Oberbegriff "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", aber nicht jedes "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" erfüllt die Kriterien des Tatbestands eines Genozids. Und das weiß Peter Handke sehr genau; seine Verteidiger wissen es nicht.

Die Handke-Verteidiger beziehen sich hier auf einen Text von 2006 (er erschien zuerst in Libération, später in der SZ). In einer besonders perfiden Passage stellt Handke die Verhältnisse auf den Kopf. Das Massaker von Srebrenica (ja, "es handelt sich bei Srebrenica um das schlimmste 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit', das in Europa nach dem Krieg begangen wurde", konzediert Handke) sei eine Reaktion auf das Massaker von Kravica.

Dies von Muslimen begangene Verbrechen aber sei ein "Genozid" gewesen, da ihm "auch Frauen und Kinder zum Opfer fielen (und nur für ein solches Verbrechen trifft das Wort 'Genozid' zu)". Die "abscheuliche Rache" der Serben aber sei "als 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit' zu bezeichnen: Nuance..." Hier vollzieht Handke in Manier der Selbstjustiz eine Verdrehung der juristischen Begriffe: Nicht das vom Internationalen Strafgerichtshof als Genozid genannte Massaker von Srebrenica sei ein Genozid, sondern das Verbrechen von Kravica, das er, der Dichter, als Genozid definiert.

Beim Verbrechen von Kravica wurden laut Wikipedia 49 Menschen umgebracht, fünf gelten als vermisst. In Srebrenica starben 8.000 Menschen, die genaue Zahl ist immer noch nicht bekannt, viele werden immer noch vermisst.

Handke sichert sich in der Passage ab: "Vielleicht irre ich mich in den juristischen Termini". Wenn er sich irrt, dann absichtlich: Das Verbrechen von Kravica gehört zu den 'Verbrechen gegen die Menschlichkeit' wie viele andere Verbrechen in diesem Krieg auch. Schrecklich genug. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat dagegen nur das Massaker in Srebrenica zum Genozid erklärt, denn als Genozid gilt nur ein Verbrechen, das auf die Auslöschung einer ganzen Bevölkerung abzielt. Den Hinterbliebenen der Opfer ist diese Unterscheidung sehr wichtig - und Handke, der Sprachkünstler, weiß das sehr genau.

Zwei französische Autorinnen haben im Jahr 2006 den schillernden, bewusst vagen Umgang Handkes mit dem Massaker von Srebrenica analysiert. Louise Lambrichs legte im Jahr 2006, dem Jahr, als Handke der Heine-Preis zuerkannt und abgesprochen wurde, das Buch "Le cas Handke" vor. Sylvie Matton ist Autorin des Buchs "Srebrenica, un génocide annoncé" (Flammarion 2005). Sie ließen vor allem Handkes in knapper Not konzedierte Anerkennung des Massakers von Srebrenica als "dem schlimmsten Verbrechen" nicht gelten. Mats Malm, Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie, aber machte diese Anerkennung zum Kriterium für Handkes nobelpreiswürdige Aufrichtigkeit. Allerdings hatte Handkes Konzession einen Kontext: 2006 musste er sich für seine Grabrede für Milošević rechtfertigen. Lambrichs antwortete darauf in Libération: "Weder Angreifer, noch Angegriffene, alle sind 'Kriegführende', alle schuldig: Da sind wir also wieder bei den grobschlächtigen Lügen und offiziellen Verleugnungen der ersten Jahre." (Der Perlentaucher resümierte die damalige Debatte in einem "Link des Tages".)


Handke und der "Dat Face Soldier"

Da die Handke-Befürworter seiner Kritik der Medien und der Experten vertrauen, können sie sich auf nichts anderes als seine Zeugenschaft und sprachliche Kunst berufen. Ohne den Kontext zu kennen, können sie jedoch beispielsweise Handkes Theaterstück "Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg" (1999) nicht gut verstehen. In diesem Stück wird eine europäisch-amerikanische Verschwörung beschrieben, über dem Geschehen schwebt ein "Weltkomitee für Ethik".

In der Zeit vom 29. April 1999 analysierte Thomas Assheuer dieses Theaterstück: Der Autor spreche nicht "von der Gesellschaft, sondern vom Volk", und er führe einen "Kampf gegen den weltweiten Westen, gegen Amerika und Europa, Deutschland und die Nato, Uno und IFor, gegen Menschenrechtsorganisationen und 'Humanitätshyänen'". All das kennt man auch aus Handkes Interviews, von denen es - eigentlich erstaunlich angesichts seines Hasses auf Journalisten - doch zahlreiche gibt, und immer wenn die Rede auf die edlen Wilden vom Balkan kommt, kippt das Ganze ins Mystische, ein wenig wie in einem Karl-May-Imaginarium, aber langweiliger.

Schwadronieren über das Volk, Hass auf die Journalisten, Kritik des Westens, die Überzeugung, dass man im alleinigen Besitz der Wahrheit sei, diese raffinierte Schläue, mit der Handke bestimmte Dinge sagt und nicht sagt, diese rhetorische Fragerei, dieses ständige Vor-und-Zurück der Aussagen, all das gehört zum Instrumentarium des rechten Diskurses, der zwanzig Jahre nach jenem Theaterstück auch unseren öffentlichen Raum bedroht.

Bereits 2010 stellte der Germanist Jürgen Brokoff fest: "Es wird Zeit, sich bewusstzuwerden, dass von einem Autor solchen Ranges wie Handke eine Gefahr ausgehen kann. Seine auf vermeintliche Nebensächlichkeiten ausweichende, literarische Mittel einsetzende Ideologie gehört, gerade weil sie so subtil verfährt, zu den problematischsten Entgleisungen eines deutschsprachigen Autors nach dem Zweiten Weltkrieg. Dass diese Ideologie nicht nur neben einem - fraglos bedeutenden - Werk existiert, sondern tief in dieses Werk hineinragt, sollte ein Anlass zur Beunruhigung sein."

Brokoff sagt auch: "Der eigentliche Sündenfall dieses Autors ereignet sich nicht auf dem Feld des Politischen, sondern auf dem Feld des Literarischen." Textstrategisch sei Handke äußerst geschickt, und das Verunklaren gehört dazu: Wirklich festnageln können wir diese Stimme nie. Mit dem Adjektiv "schuldlos-schuldig" wird einer der Protagonisten aus dem genannten Theaterstück "Die Fahrt im Einbaum" beschrieben - der "Waldläufer", der "Irrläufer", der "Nebensteher" - , der an einer Stelle erzählt: "Ein paarmal bin ich im internationalen Fernsehen aufgetreten, so mit der Flasche in der Hand, als der dritte Böse in der zweiten Reihe von links. (...) Und nach dem Krieg war ich fünf Jahre in einem Gefängnis in Deutschland, verurteilt von einem deutschländischen Richter, wegen Hilfe beim Volksmord."

Dieser "Irrläufer" ist nicht fiktiv. Das ganze Theaterstück diente dazu, eine echte Person zu rechtfertigen. In der Zeit vom 11. November 1999 heißt es dazu: "Das Bayerische Oberste Landesgericht hielt sich dagegen an die Wahrheit und verurteilte Handkes Vorbild, Novislav Djajic, wegen Beihilfe zum Mord an 14 Muslimen zu fünf Jahren Haft. Nun amtierte Handke als Trauzeuge bei der Hochzeit des serbischen Kriegsverbrechers - Mitläufer beim Irrläufer." Auch in seinem Essay "Rund um das große Tribunal" (2003) behauptet Handke, das Gericht habe sich geirrt, er aber wisse die Wahrheit über Đajić.

Novislav Đajić  hat im Internet auch nach seiner Hochzeit noch Karriere gemacht. Am 15. März 2019 meldet Radio Free Europe, dass Brenton Tarrant, der Attentäter von Christchurch, das Video seiner Tat mit einer Autofahrt beginnt und dabei ein Lied hört: "Karadžić, führe deine Serben", das in einem Videospot 1995 aufgenommen und erst 2006 als "Serbia Strong" oder "Remove Kebab" auf Youtube gepostet und unter den "radical white nationalists" sehr populär wurde. Darin ist ein Akkordeonspieler in einer Kampfuniform zu sehen. Der Mem mit seinem Gesicht wurde in rechtsradikalen Kreisen unter dem Namen "Dat Face Soldier" berühmt. Es handelt sich um Novislav Đajić.

Novislav Đajić, dessen Trauzeuge Handke war, Vorbild "schuldlos-schuldigen" einer Figur in Handkes Stück "Die Fahrt im Einbaum", als "Dat Face Soldier"


Die Worte "Remove Kebab" hat der Attentäter von Christchurch in sein Gewehr eingeritzt. In seinem Manifest schreibt er "more recently I have been working part time as a kebab removalist." Weiter schreibt er, dass ihn Anders Breivik inspirierte, der laut The Economist in seinem Manifest, Kosovo 143, Serbien 341, Bosnien 323 und Albanien 208 Mal erwähnte. Die Faszination für die serbischen Kriegsverbrecher fußte bei diesen Terroristen auf der Annahme, dass "die Serben" gegen "Muslime" kämpften, um Bosnien, Kosovo, Europa von ihnen zu befreien.

Auch Handke macht sich Gedanken um die Muslime: In seinem "Sommerlichen Nachtrag zu einer winterlichen Reise" aus dem Jahr 1996 fragt sich der Erzähler: "Aber gab es nicht tatsächlich noch einige 'Mohammedanerinnen' in Višegrad, verheiratet in 'Mischehe' mit einem 'Orthodoxen'?" Nun, wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass bosnische Muslime aus Višegrad brutal vertrieben worden sind. Die Faktenlage dazu ist eindeutig. Das Problem ist, dass Peter Handke die Fakten nicht für aussagekräftig hält. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung antwortete er auf die Frage, was denn falsch sei an der Frage nach der Schuld: "Das ist so schwierig, dem kann man nur durch die Fiktion gerecht werden, es geht nicht historisch oder journalistisch." Man stelle sich vor, wir würden auch über den Zweiten Weltkrieg nur fabulieren und die Historiker nicht ernst nehmen.

Der Autor suggeriert, im Besitz von geheimnisvollen historischen Wahrheiten zu sein: "Es ist der Fall, dass ich wohl einiges weiß - vielleicht mehr als du und du -, aber trotzdem nicht zuständig bin", so sagt er auf Seite 85 des "Sommerlichen Nachtrags". Einen Lokalbesitzer aus Srebrenica nennt er "Der von der Haager Liste" - "Warum auf der Liste?" -  "Es sei Krieg gewesen".
 
Schon in seiner "Winterreise" taucht die Andeutung einer "Vorgeschichte" auf - er schreibt gerne "Vor-Geschichte" - etwas, womit sich die Muslime von S. (mit S. meint Handke Srebrenica) irgendeine Schuld (jene Schuld der osmanischen Eroberung Bosniens, die vor 600 Jahren stattfand? Die Kämpfe in Ost-Bosnien?) aufgeladen haben, durch die sie dann eine Art Strafe auf sich gezogen haben. Man ahnt, dass der Autor hier einen der Mythen aus dem reichen Fundus der serbischen Nationalisten in seinem undeutlichen Stil voller Anspielungen verpackt hat: "Die Muselmanen", wie er sie gerne nennt, haben vor 600 Jahren "das Serbenvolk" unterworfen (oder vielleicht doch nicht?), weshalb sich der Genozid, falls es überhaupt einen Genozid gegeben hat, ereignen konnte. Selbstverständlich benutzt Handke das Wort "Genozid" nicht. Er deutet an, dass etwas Schreckliches passiert sein könnte - und relativiert das mit seinen Andeutungen und seinen rhetorischen Fragen. In der Erinnerung nach der Lektüre bleibt nur der Eindruck, dass niemand etwas genau wissen könne, aber sogar dann, wenn man es wisse, und sogar dann, wenn dieses Wissen eindeutig auf ein Verbrechen hinausliefe, wäre immer noch ungeklärt, wie stark die "Vor-Geschichte" hineingewirkt hat.

Handke ist nicht einer, der zweifelt, wie Eugen Ruge in der FAZ schreibt, sondern einer der Zweifel sät. Dem weithin abgesicherten Konsens über die Ereignisse stellt er seine eigenen, nie klar umrissenen Geheimwahrheiten entgegen.

Denn einen Genozid offen zu leugnen, wäre nicht populär, da draußen wüten die politisch korrekten Ethikpolizisten, deshalb ergänzt der Autor: "Doch wieder Achtung: Wie solch ein Klarstellen der Vorgeschichten nicht mit Aufrechnung zu schaffen hat, so selbstredend auch gar nicht mit einer Relativierung oder Abschwächung. Für die Rache gilt kein Milderungsgrund." Gesagt, und nicht gedacht, denn alles in diesem Abschnitt dient der Anspielung auf mögliche Gründe für eine (gerechte) Rache.


Handke und die Medien



Wenn wir alle Beleidigungen, die Peter Handke Journalisten zugeworfen hat, beiseite lassen (berühmt sein Spruch "Schieben Sie sich Ihre Betroffenheit in den Arsch!"), alle Lesungen, die er zelebrierte und wo er keine Fragen zuließ, wenn wir bedenken, dass er im Juni 1978 im Gespräch mit André Müller sagte, er fühle sich "dem Hitler als Mensch manchmal sehr nahe" und dass er "manchmal eine tiefe, perverse Sympathie für die faschistische Gewalt, die aus der Verzweiflung kommt" fühle, wenn wir all das als Trivia und Kuriosa zur Seite legen, bleiben uns immer noch seine literarischen Texte, die sich mit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien beschäftigen, und sie wiegen schwer. In ihnen wird Sprache mit poetischer Geste missbraucht, um eine Faktenlage durch eine prophetische "Wahrheit" zu ersetzen, und dieser Missbrauch wird zur Offenbarung der Dichtkunst erklärt, während all jene 45 in diesen Kriegen getöteten Journalisten als Lügner diffamiert werden, zusammen mit den Hunderten anderer KollegInnen, die ihr Leben riskiert haben, um die Welt über die Vorgänge zu informieren. Es ist mir schier unbegreiflich, was die Journalisten bewegte, die in Interviews mit Handke diese Beschuldigungen ihrer Zunft ertrugen und weiterverbreiteten, ohne sich einmal zu fragen, von welchem hohen Ross der Erkenntnis dieser Mann das eigentlich tut?

Die Behauptung, dass die gesamte Presse der westlichen Welt lügt, ist ein weiteres Element des rechten Diskurses. Sie wird in Handkes Werken verklärt: Nur der Dichter verwende die Sprache richtig, die Journalisten verunreinigen sie. Seine Verteidiger benutzen in diesen Tagen schon wieder unüberlegt seine Argumente, sie sagen, Handke wollte dort hinschauen, wohin niemand schaute. Doch das ist Nonsens. In jenen Kriegszeiten berichteten die internationalen Journalisten selbstverständlich auch aus Serbien, mühten sich um Interview-Termine mit Milošević oder Karadžić, unterhielten sich mit Menschen auf den Straße Belgrads.

Eine andere Behauptung seiner Befürworter lautet: Man lese die Texte nicht richtig. Ich frage mich allerdings: Haben Eugen Ruge oder Thomas Melle (hier), die diese Forderung stellen, selbst gelesen? Und vor allem: Haben sie den Kontext verstanden, in welchen diese Texte eingebettet sind? Die sommerliche Reiseprosa Handkes endet mit einer Passage, die meines Erachtens  in der tendenziös-dreisten Verkehrung der Wahrheit in der gesamten Weltliteratur ihresgleichen sucht:

"'Letzte Frage': Wie hat man den Kampf der Serben in Bosnien wahrgenommen? - Dazu siehe vielleicht wieder 'Geographie': die Freiheitskämpfer oben - auf den Bergen -, die Zwangsherren in den Tälern, so als Opfer 'vor-gesehen' - aber erscheinen nicht auch in den Western die bösen Indianer oben auf den Felsklippen, die friedlichen Ami-Karawanen überfallend und metzelnd - und kämpfen die Indianer nicht doch um ihre Freiheit? Und 'allerletzte Frage': Wird man einmal, bald, wer?, die Serben von Bosnien auch als solche Indianer entdecken?"

Die "Freiheitskämpfer" in den Bergen! Von den Bergen oberhalb von Sarajevo wurde die Stadt 1.400 Tage lang beschossen, es gab 11.000 Tote, darunter 1.600 Kinder. Und die "Zwangsherren" in den Tälern? Nur in der Fantasie von Peter Handke lebten im Tal von Sarajevo Muslime als "Zwangsherren". Denn unten im Tal lebte die multikulturelle Stadt. Es gibt zahlreiche Studien dazu, die von Experten geschrieben wurden. Doch wie sagte Handke so schön: "Bei all den 'Experten', die über das zerfallene Jugoslawien reden, kann ich diese Wahrhaftigkeit nicht finden - schon im Wort 'Balkanexperte' rieche ich die Tendenz und Ideologie. Das Wort gehört zu meiner Schimpfwörterlitanei." An dieser Stelle stellt ihm der Journalist der Süddeutschen Zeitung (26. November 2010) leider nicht die einzige naheliegende Frage: "Warum?". Wieso glaubt er, dass die Wissenschaft keine Antworten kennt?

Weil er ein durch und durch rechter Denker ist, der an die Aufklärung nicht glaubt. Weil er ein Guru, ein Seher, ein Prophet sein möchte, und dieses in seinen hochtrabenden Texten verkündet, und für diejenigen, die es daraus nicht herauslesen, erklärt er es in seinen Interviews. Weil er einen Rückzug aus der Welt des Konsums, in der die Mehrheit von uns gewöhnlichen Menschen lebt, predigt und damit Sehnsüchte nach einem Leben im Einklang mit der Natur weckt. Weil er die westliche Welt mit ihren komplizierten demokratischen, menschenrechtsorientierten, politisch korrekten Gesellschaften hasst. Weil er seine hartnäckige Abwertung von Journalisten mit der Betonung seiner heiligen Rolle als Sprachmagier untermalt. Dadurch etabliert er eine Hierarchie, in der es besondere Menschen gibt, die mehr sehen und mehr verstehen (nämlich ihn und alle, die ihm folgen) und gewöhnliche Menschen, die anders als er denken, und die er gerne beschimpft. Da er seine Verachtung der Experten am Exempel "Balkan" vorführt, glauben seine Bewunderer, dass der Krieg auf dem Balkan nicht rational zu analysieren sei. Und dass sie über seine Balkan-Texte urteilen können, ohne die den Balkan betreffenden Sachverhalte kennen zu müssen. Deshalb ist für sie die Gestalt des "schuldlos-schuldigen" Irrläufers aus dem Theaterstück Handkes eine weitere coole Kritik der westlichen Medien und der demokratischen Justiz - während der Attentäter von Christchurch die Lieder des realen Vorbilds für diese Gestalt hört und bewundert.


Die Ketzerbriefe: Neuerliche Relativierung

Sicher, Handke konnte nicht wissen, dass Terroristen wie Anders Breivik oder Brenton Tarrant die gleichen Kriegsverbrecher idolisieren würden wie er selbst. Und doch hätte er vorsichtiger sein müssen, als er einem verurteilten Kriegsverbrecher ein Theaterstück widmete, in dem er Journalisten und Gerichte der Manipulationen bezichtigte.

Ketzerbriefe, Cover der Nummer 169.
Aber Vorsicht ist nicht Handkes Tugend. Fünf Jahre nach seinem mit zusammengepressten Lippen vorgetragenen Bekenntnis zu Srebrenica als dem "schlimmsten Verbrechen" gab er den obskuren Ketzerbriefen (Nr. 169, erschienen 2011 im rechten Ahriman Verlag, in dem auch Titel wie "Die Flutung Europas mit falschen Flüchtlingen" erscheinen)  ein Interview, das man im Internet nachlesen kann:

"Jetzt kommt man ständig mit den 8.000 Opfern und dem angeblich schlimmsten Massaker seit dem Zweiten Weltkrieg; unversehens kommt hier mit Auschwitz der deutsche Faschismus rein. Das Gerede mit den 8.000 Toten wird immer intensiver. Vielleicht war es ein Rachemassaker oder was auch immer; ich weiß es nicht, ich bin kein Experte".

Nun, er ist tatsächlich kein Experte, aber leider glaubt er auch nicht den Experten - und das im Jahr 2011, nachdem bereits zahlreiche komplizierte und langwierige Prozesse in Den Haag abgeschlossen waren! Entgegen allen Erkenntnissen schildert er die Ereignisse in Srebrenica laut Ketzerbriefen so:

"Es hat sich ein unglaublicher Haß in Srebrenica aufgestaut. Sind die tatsächlich gekommen und haben - eigentlich will ich Zahlen vermeiden - zwischen 2.000 und 4.000 Menschen umgebracht? Niemand von der westlichen Presse fragt, wie es dazu kam; das interessiert niemanden."

Dazu noch verhöhnt Handke die "Mütter von Srebrenica":

"Überhaupt, diese sogenannten 'Mütter von Srebrenica': Denen glaube ich kein Wort, denen nehme ich die Trauer nicht ab. Wäre ich Mutter, ich trauerte alleine. Es gab die Mütter von Buenos Aires, sehr richtig, die hatten sich zusammengeschlossen und die Militärdiktatoren gefragt, was mit ihren Kindern geschehen ist. Aber diese billige Nachahmung ist scheußlich. Es gibt die Mütter von Buenos Aires, und das genügt."

Die beiden Handke-Interviewer Alexander Dorin und Peter Priskil stellen die Toten von Srebrenica im Gespräch als Gefallene regulärer Kriegshandlungen dar, ohne dass Handke widerspricht. Dies stellt seine Äußerung von 2006 in Frage, als er Srebrenica als "das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in Europa nach dem Krieg begangen wurde" bezeichnet hatte.


Woher kommt diese Blindheit?

Das Phänomen Handke ist schon längst kein auf den Balkan begrenztes Phänomen mehr; die Kritik seiner Rechtfertigungen der Gewalt ist schon längst nicht mehr eine Kritik, die nur von den Betroffenen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien kommt, von den zahlreichen Schriftstellern, von den Müttern aus Srebrenica, von den Opfern aus dem Kosovo, von den Kroaten aus Dubrovnik - er soll den Beschuss dieser Stadt laut der Protestnote des kroatischen PEN Zentrums geleugnet haben ("in der Altstadt sind, schlimm genug, ein Paar Dachziegel heruntergefallen", sagte er zu André Müller), sowie von vielen Serben, die mit Politik von Milošević und Karadžić nie einverstanden waren. Svetlana Slapšak schrieb, er habe Serbien "ernsthaft beleidigt, weil er nichts außer das brutale Gesicht der Macht gesehen und dieses mit dem Volk gleichgesetzt" habe.

Nein, dieses Phänomen mit seiner ganzen antiaufklärerischen Wucht und mit seiner ganzen Verklärung der (eigenen) poetischen Sprache als der einzigen Wahrheit betrifft uns hier und heute, nicht nur den Balkan der späten neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Doch woher kommt die Blindheit jener, die Peter Handke am 10. Oktober beglückwünschten, und zwar in den gleichen Medien, in denen sich Extremismusexperten (schon wieder solch ein verhasstes Wort?) mühten, das Attentat von Halle zu erklären, und einige beobachteten, dass der Attentäter den aus Christchurch nachahmte?

Es ist Handkes häufig betonter Hass auf die Nazis von vor siebzig Jahren, sein von Henrik Petersen  herausgehobener "Antifaschismus", der zur Verblendung seiner Befürworter führte, die seinen Hass auf die internationale Berichterstattung oder auf das Haager Tribunal zwar sahen, aber nicht als rechtes Denken erkannten.

Es waren "die Nazischergen" der Deutschen, der Österreicher und der Kroaten, freilich zusammen mit dem Vatikan, so sagte Handke im Gespräch mit seinem Serbisch-Übersetzer im Schreibheft Nr. 71 (September 2008), die Jugoslawien zerschlagen haben. Es war also nicht Milošević, es war also nicht die Jugoslawische Volksarmee. Am Ende glaubt man fast, dass Milošević und die Volksarmee Jugoslawien verteidigt haben und eine Art Partisanen waren. Auch bei dieser Behauptung interessieren Handke die Fakten überhaupt nicht, die Analysen der Experten, die Chronologie der Ereignisse. Hier steckt ein Stück jener ideologischen Links-Rechts-Verwirrung, die auch der Strategie von Milošević innewohnte. 

Ignazio Silone soll gesagt haben: "Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: 'Ich bin der Faschismus.' Nein, er wird sagen: 'Ich bin der Antifaschismus'" Möglicherweise versteckt sich in dieser Warnung die Antwort auf die Frage nach der Verblendung einiger Bewunderer des jüngsten Nobelpreisträgers gegenüber seinen politischen Positionen und diskursiven Praktiken.

Alida Bremer