Essay

Die doppelte Zukunft des Buchs

Dreizehn Thesen Von Gundolf S. Freyermuth
16.10.2009. Die Folgen der Digitalisierung haben Film und Musik schon vor Jahren zu spüren bekommen. Jetzt - mit Kindle und iPhone - trifft es mit Wucht auch die Bücher. Was wird sich dadurch verändern? 13 Thesen zur Zukunft des Buchs.
In Epochen des Umbruchs herrscht radikale Ungleichzeitigkeit. Unser Umgang mit Medien demonstriert das gegenwärtig drastisch: Bei den meisten von uns reicht die Bandbreite von konservativem Klammern ans Hergebrachte bis zu euphorischer Etablierung gänzlich neuer Gewohnheiten. Kulturell korreliert dem der höchst ungleiche Entwicklungsstand der einzelnen Medien.

Seit der Jahrhundertwende - seit Napster, iTunes, Bittorrent - sind die gewachsenen Strukturen analoger Produktion, Distribution und Rezeption von Musik binnen kürzester Frist zerfallen. Neue, gänzlich digitale Praktiken haben sich ausgebildet. Dieselbe Entwicklung hat seit der Mitte des Jahrzehnts - seit YouTube - die audiovisuellen (Massen-) Medien erfasst. Schon 2006 ließ sich so nahezu jeder Song, der je aufgenommen wurde, herunterladen, dazu rund 50 000 abendfüllende Filme, ein Zehntel des Gesamtbestandes. Demgegenüber aber fand sich, Googles scannenden Bemühungen zum Trotz, höchstens ein Buch von zwanzig online.

Der Wandel der Textmedien schien daher zunächst weniger dramatisch. Zwar zeugte der schleichende Niedergang der journalistischen wie wissenschaftlichen Periodika von der Ablösung analoger durch digitale Schriftlichkeit. Doch das Buch, das älteste Medium standardisierter Reproduktion, trotzte eine Weile der historischen Tendenz. Viel Geld wurde in die Entwicklung digitaler Lesegeräte gesteckt - und mehr oder weniger verloren. Demgegenüber wuchs die Zahl der gedruckten Bücher weiterhin jährlich, die Branche blieb erträglich ertragreich. Bis vor kurzem konnten daher nicht nur eingefleischte Traditionalisten glauben, die Digitalisierung werde das analoge Buch und diejenigen, die von ihm leben, mehr oder weniger verschonen.

Doch nun ist - seit Kindle und iPhone - die Digitalisierung mit Wucht auch im Reich der Bücher angekommen. Dabei lassen sich keinerlei Anzeichen dafür erkennen, dass schriftliche Kunst und Kommunikation einen Sonderweg nehmen würden. Im Gegenteil, bislang folgt die Publikations- und Rezeptionspraxis für Texte strukturell recht deutlich, wenn auch mit einiger Verzögerung dem kulturellen Umgang mit Tönen und Bildern.

Dieses Vorbild der anderen Medien erlaubt, denke ich, die Zukunft des Buchs ein Stück weit zu prognostizieren. Vorsicht ist natürlich angebracht. Denn Prognosen, das wissen wir aus der Vergangenheit, verraten oft viel über die Ängste und Hoffnungen der Zeitgenossen und recht wenig über das, was tatsächlich eintreten sollte.

Meine dreizehn Thesen zur doppelten Zukunft des Buchs versuchen dieser Gegenwartsverfallenheit ein wenig entgegenzusteuern, indem sie sich von der Medientheorie zu absehbaren Medienpraktiken vorarbeiten: vom Prinzip der Digitalisierung (These 1) und den allgemeinen Kennzeichen digitaler Buch-Hardware (Thesen 2 & 3) und Buch-Software (Thesen 4-6) zum Wandel der Buch-Produktion (Thesen 7 & 8) und den dabei entstehenden neuen Formen schriftlicher Kunst und Kommunikation (Thesen 9-11). Auf dieser Basis wage ich dann abschließend zwei Prognosen zur idealen Form
des virtuellen Buches und zur digitalen Schriftkultur (Thesen 12 & 13).

Vernetzte Von-Neumann-Maschine. Die erste These

Digitalisierung bewirkt die funktionale Ersetzung von Hard- durch Software. Zentrales Kennzeichen des kulturellen Wandels ist denn auch die Ablösung der Gehalte von ihren analogen Speichermedien: der Musik von Schallplatten, Tonbändern und CDs, der Filme von Zelluloidstreifen, Videokassetten und DVDs. Die Nutzung der so virtualisierten - von Hard- zu Software gewordenen - Töne und Bilder erfolgt mittels einer Vielzahl mehr oder weniger neuer Apparaturen (Desk- und Laptops, MP3-Spieler, PDAs, Smart Phones usf). Gemeinsam ist ihnen, dass es sich bei ihnen um so genannte Von-Neumann-Maschinen handelt, um Computer also, deren funktionale Basis die Trennung von Hard- und Software ist und die wiederum über digitale Netze mit anderen solchen Computern interagieren.

Wie immer daher das durchschnittliche "Buch der Zukunft" aussehen mag, strukturell wird es als Apparatur zur Distribution und Nutzung von Texten eine vernetzte Von-Neumann-Maschine sein.

Insofern hat das vertraute analoge Artefakt Buch nicht eine, sondern eine doppelte digitale Zukunft vor sich - einerseits als Hardware, andererseits als Software.

Arbiträrität. Die zweite These

Eine Konsequenz der Trennung von Hard- und Software ist die Möglichkeit, jede digitale Hardware nach Belieben durch eine andere zu ersetzen. Hardware wird arbiträr. Was für den Umgang von Tönen und Bildern bereits gilt, steht für den mit Texten bevor.

Dieselbe Software Buch wird sich zukünftig mittels verschiedener Multifunktionsgeräte nutzen lassen (zum Beispiel PCs, Laptops, Tablets, mobile Kommunikatoren oder Mini-Beamer, die auf äußere Oberflächen oder direkt auf die Retina projizieren) sowie auch mittels neuer spezialisierter Hardware (zum Beispiel Lesebrillen oder vernetzte Reader wie dem Kindle, die auf den diversen Spielarten elektronischen Plastikpapiers basieren und in allen denkbaren Größen angeboten werden, vom Taschenbuch- bis zum Tabloid-Format).

Alle technischen und sozialen Anstrengungen, die dieser Tendenz zur arbiträren Hardware-Nutzung zuwiderlaufen - etwa geschlossene proprietäre Systeme wie das Kindle oder restriktive DRM-Regimes, auf die viele heute noch setzen - dürften auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt sein.

Hybridität. Die dritte These

Die Arbitrarität der Hardware, die sich aus dem Zerfall des analogen Artefakts Buch in getrennte Soft- und Hardware-Anteile ergibt, beschränkt sich freilich keineswegs auf Digitales. Das neue Mediensystem Text, das sich gegenwärtig entwickelt, bietet an seinem Ende, auf der letzten Meile sozusagen, durchaus die Alternative, die Software Buch weiterhin analog auszugeben.

Zumindest zu Lebzeiten von Lesern, die mit Holzpapier aufwuchsen, dürfte - digital gesteuerter - Druck eine wichtige Rolle spielen. Er wird freilich zunehmend auf Abruf erfolgen. Vom Massendruck unterscheidet sich solch ein hybrides System kategorial durch weitreichende Möglichkeiten zur Personalisierung (s. u. These 6).

Virtualisierung. Die vierte These

Eine weitere Konsequenz der Digitalisierung ist die Virtualisierung zuvor materieller Artefakte. Mediale Gehalte - so genannter Content, ob nun Ton-, Bild- oder Textdokumente - lassen sich, sobald sie Software geworden sind, beliebig und der Tendenz nach kostenfrei vervielfältigen und vertreiben. Für jedwede Kunst und Kommunikation folgt aus dieser technischen Transformation zweierlei.

Erstens beendet Virtualisierung den medialen Mangel, auf dem in der industriellen Epoche die Macht der kulturellen Institutionen beruhte, von Musikfirmen, Filmstudios, Fernsehsendern und eben Verlagen. Virtualisierung bedeutet die Ermächtigung der einstigen Kunden gegenüber den Konzernen.

Zweitens verlieren die analogen Artefakte virtualisiert ihre feste Gestalt. Sie werden flüssig und lassen sich arbiträr und interaktiv verändern; von ihren Produzenten, aber auch von jedem anderen. Virtualisierung bedeutet daher die Ermächtigung des einstigen Publikums auch gegenüber den ursprünglichen Produzenten, gegenüber Musikern, Filmemachern, Autoren.

Beiden kulturellen Konsequenzen der Digitalisierung müssen sich Verlage wie Autoren stellen, denn mit ihnen verändert sich die Software Buch nachhaltig.

Privatisierung. Die fünfte These

Mit dem Wandel des Buchs von Hard- zu Software setzt - wie schon im auditiven und audiovisuellen Bereich geschehen - eine eskalierende Privatisierung arbiträrer Verfügung über größere Bestände ein, ob sie nun unter analogen Verhältnissen urheberrechtlich geschützt waren oder nicht. Wie zu industriellen Zeiten jedes Buch in öffentlichen Bibliotheken nahezu kostenlos zu lesen war - idealiter jedenfalls -, so wird das Software-Buch der Zukunft auch jederzeit einer privaten und in der Regel von hohen Einzelgebühren freien Nutzung zur Verfügung stehen.

Dieser Wandel verspricht einen zivilisatorischen Schub und scheint mit juristischer Kriminalisierung kaum aufzuhalten. Das historische Vorbild für die notwendigen Anpassungsleistungen gibt die Industrialisierung, als im Interesse des Gemeinwohls und gegen den Widerstand etablierter sozialer und ökonomischer Interessen die privaten Buchbestände von Adel und Klerus zugunsten öffentlicher Bibliotheken verstaatlicht und die Verlage der urheberrechtlichen "Schrankenregelung" des Bibliotheksverleihs unterworfen wurden.

Die Digitalisierung erfordert eine vergleichbare Adaptation der juristischen Rahmenbedingungen an das von ihr eröffnete kulturelle Potenzial. Die gegenwärtig absehbaren Möglichkeiten reichen von minimierten Preisen für Software-Bücher über die Rückführung des Copyright-Systems auf seine ursprünglichen, nur wenige Jahre umfassenden Schutzfristen bis zu Kulturflatrate-Modellen.

Personalisierung. Die sechste These

Der Software-Privatisierung des Buchbestands wird, wiederum dem Vorbild digitaler Nutzungsweisen von Musik und Video folgend, eine sukzessive Personalisierung ihres Gebrauchs korrelieren.

Die persönliche Zurichtung beginnt bei der Einrichtung der Rezeption (Schriftart, Schriftgröße) und mündet in interaktive ästhetische Nutzungsweisen wie Annotation und Adaptation, Kompilation und Remix.

Ersteres wird im Bereich tradierter Praktiken dominieren (These 7), letzteres im Bereich innovativer Praktiken (These 8).

Marginalisierte Mittelmenschen. Die siebte These

Nicht alle, aber einige Institutionen des literarischen Lebens der industriellen Epoche werden fortexistieren; wie ja auch bis in die spätindustrielle Kultur hinein zentrale Strukturelemente und Institutionen der vor- und frühindustriellen Epoche überlebten, wenn auch nachhaltig gewandelt.

Die Rolle von Verlagen und Buchhandel wird sich dabei freilich nicht minder radikal reduzieren als etwa die des Fernsehens. Die einstigen Gatekeeper werden von Institutionen medialer Grundversorgung zu - quantitativ, wenn auch nicht unbedingt ökonomisch und kulturell - marginalisierten Zulieferern diverser Supplementierungen. Im Idealfall garantieren sie sorgfältig ausgewählte, gut lektorierte und professionell gestaltete Publikationen.

Dominierende Nutzer. Die achte These

Dominieren werden in der digitalen Kultur - unterhalb der elitären Spitze traditioneller Verlagsprodukte - die nach Millionen zählenden Texte der so genannten Self-Publishing-Revolution. Die Aufhebung der massenkulturellen Trennung in Sender und Empfänger war für den Durchschnittsbürger der entwickelten Länder spätestens um 2005 erreicht: Jeder Laptop- oder Handy-Besitzer kann seitdem überall und zu jeder Zeit Mediales - Texte, Fotos, Videos - nicht nur nach Belieben konsumieren, sondern auch selbst produzieren und anbieten.

Gegenwärtig existieren weltweit über 150 Millionen Text- und Videoblogs. Fiktional überwiegt Fan Fiction, Fortschreibungen populärer Erzählungen, von literarischen Klassikern und Bestsellern genauso wie von Spielfilmen und digitalen Spielen. Quantitativ ist der Output schier unüberschaubar. Auf populären Sites wie fanfiction.net publizieren Zehntausende. Allein im Umkreis der populären Harry-Potter-Fiktion existiert eine halbe Million Fan-Fiction-Texte. Zwar wird das Self-Publishing, ob in Blog- oder Buchform, bislang noch immer, kaum dass es von Erfolg gekrönt ist, in den etablierten Betrieb integriert. Doch als millionenfache Alltagspraxis bewirkt es eine schleichende Veränderung des literarischen Lebens wie der literarischen Produktion.

In absehbarer Zukunft können zumindest die erfolgreichsten Autoren ohne Agenten oder Verlage operieren. Wichtiger freilich ist der Wandel auf Seiten der Rezipienten. Gerade das gebildetere jüngere Publikum orientiert sich immer weniger an den großen Verlagen und ihren Programmen oder an Buchhandelsketten und ihrem Angebot. Leser werden zu Nutzern, das massenkulturell-passive Publikum rekonstituiert sich online als virtuelle - weil über Software interagierende - Öffentlichkeit.

Vernetzte Kollaboration. Die neunte These

Entscheidend für die Qualität der schnell wachsenden Zahl online gestellter Texte wie auch für das literarische Leben, das sich rund um das New-Publishing-System entwickelt, sind die innovativen Momente sozialer Interaktion in Produktion wie Rezeption. Ob Fan Fiction oder originäre Werke, sie alle werden in der Regel von freiwilligen Beta-Readern - besonders engagierten Fans der Autoren - über peer review kritisiert, lektoriert oder auch umgeschrieben und dann von der breiteren Lesergemeinde über die üblichen Ranking- und Rating-Systeme empfohlen beziehungsweise "beworben".

Diese aus permanenter Vernetzung resultierende kollaborative Text- und Wissensproduktion verändert zwangsläufig die Entstehungsprozesse und die Gestalt dessen, was wir analog als literarisches Werk beziehungsweise als Buch kennen. In der Konsequenz entstehen neue Formen von P2P-Autorschaft und neue Varianten der Software Buch: in entorteter sozialer Interaktion geschaffene Gattungen und Genres von Fiction wie Nonfiction, veröffentlicht in gänzlich neuen, gerade erst entstehenden Kontexten (Open Access, Creative Commons, Mashups, Mikropublishing usf.).

Renaissance der Kurzform. Die zehnte These

Die Kombination von Self-Publishing-Revolution mit der Infragestellung nahezu aller tradierten Distributionscontainer analoger Medien durch Online-On-Demand-Distribution ihrer Bestandteile - der Bedeutungsschwund also von Musik-CDs und Video-DVDs, von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern - führt zu einer Renaissance kurzer Formen.

Dem Erfolg des einzelnen Songs oder des Kurzfilms, der als Einzelwerk online das Publikum findet, das ihm Kino, Fernsehen und auch DVD nie boten, entspricht literarisch die Popularisierung von Textformen, die analog nur im Container-Verein mit anderen zugänglich sein konnten: Kurzgeschichten und Gedichte, Glossen und Essays, Feuilletons und Reportagen, Kolumnen und serielle Formen des Erzählens.

Transmediale Textualität. Die elfte These

Aus der technologischen Aufhebung der tradierten Vielfalt analoger Speichermedien in einer prinzipiell transmedialen Software, die Texte, Töne, stehende und laufende Bilder gleichermaßen speichern kann, resultiert eine Öffnung zur Cross- und Transmedialität. Die ästhetische Realisierung der medientechnisch bereits geleisteten Integration steht an.

Rein textuelle Formen von Wissensvermittlung und Narration dürften, da sie sich vorrangig der Not analoger Medien beziehungsweise deren medientechnischer Trennung verdankten, um die Mitte des 21. Jahrhunderts so obsolet erscheinen wie einst der schwarzweiße nach der Einführung des farbigen Films. Transmedialisieren sollten sich vor allem wissenschaftliche Darstellungen, das populäre Sachbuch und die journalistische Reportage, vermutlich aber auch fiktionale Erzählformen.

Vom Kodex zur Rolle. Die zwölfte These

Einst verdrängte der Kodex die kulturell dominierende Schriftrolle dank seiner technologischen Überlegenheit: Er konnte größere Textmengen speichern, ließ sich besser transportieren und war im Gegensatz zur Rolle, die nur beidhändig zu lesen war und daher zum Schreiben abgelegt werden musste, bequemer und schneller von Einzelnen zu bearbeiten.

Was in der analogen Schriftlichkeit von Vorteil war und seine Durchsetzung bewirkte, schlägt in der digitalen nun jedoch in einen Nachteil um, wie jeder nachvollziehen kann, der sich nur durch ein paar Dutzend Seiten klicken musste statt bequem scrollen - rollen - zu können. Mit digitaler Schriftlichkeit dürfte daher die vormoderne Schriftrolle auf höherem technologischen Niveau zurückkehren. Virtuell geworden und dem Prinzip nach endlos, entspricht sie den Anforderungen einer nonlinearen, vernetzten und für interaktive Modifikationen offenen Schriftlichkeit weit besser als die entsprechende Software-Simulation des auf lineare Rezeption ausgelegten Kodex.

Vom Buch zur Bibliothek. Die dreizehnte These

Das medientechnische Ende des analogen Buchs, das wir heute erleben, ist der Anfang der Verwirklichung des alten, auf die Aufklärung zurückgehenden Traums von der allen Menschen gleichermaßen zugänglichen Universalbibliothek. Vom jeweiligen technischen Stand inspiriert haben ihn im zwanzigsten Jahrhundert viele nachgeträumt: Ende der dreißiger Jahre wollte H. G. Wells die Weltbibliothek als global distribuiertes Mikrofiche-Arsenal realisieren, Mitte der vierziger Jahre imaginierte Vannevar Bush sie in Gestalt eines persönlichen Trockenkopierer-Memex und in den frühen sechziger Jahren konzipierte Ted Nelson sie als Hypertext-Xanadu.

Dabei ging es aber schon Bush und Nelson nicht nur um die unmittelbare globale Verfügbarkeit analog schwer zu erlangender Informationen, also nicht allein um das Kindle-Ziel: "jedes Buch, das jemals gedruckt wurde, in jeder Sprache, verfügbar in weniger als 60 Sekunden" (Amazon-CEO Jeff Bezos). Der Traum richtete sich vielmehr auf eine personalisierte und die kreative Wissensproduktion befördernde Vernetzung.

Zukunftsträchtig ist, denke und hoffe ich, Kevin Kellys Vision von der Integration aller je geschriebenen Texte in eine virtuelle Weltbibliothek: "Exemplare isolierter Bücher, gebunden zwischen trägen Einbänden, werden bald von wenig Wert sein ... Was zählen wird, ist die Art und Weise, in der diese gewöhnlichen Exemplare eines kreativen Werks untereinander verlinkt, manipuliert, mit Anmerkungen, Lesezeichen und Stichworten versehen, markiert, übersetzt, in anderen Medien belebt und so mit der universellen Bibliothek verwebt werden können."

Die kulturellen Konsequenzen eines solchen Übergangs vom Einzeltext zur vernetzten Weltbibliothek scheinen mir gewaltig. Wie sich unser Umgang mit Schriftlichem unter diesen Bedingungen verändern wird, welchen virtuellen Weg Kunst, Kommunikation und Wissensproduktion nehmen werden, können wir beim heutigen Rückstand der Entwicklung wohl kaum imaginieren, geschweige denn prognostizieren.

Gundolf S. Freyermuth

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Diese Thesen fassen den umfangreicheren Essay "Die doppelte Zukunft des Buchs" zusammen, gerade erschienen in: Stephanie Jacobs (Hg.), Zeichen - Bücher - Wissensnetze. 125 Jahre Deutsches Buch- und Schriftmuseum der deutschen Nationalbibliothek, Wallstein: Göttingen, 2009, S. 318-333.