Essay

Entweder Nie wieder oder Nie wieder

Von Thierry Chervel
12.05.2022. Es gibt nicht ein "Nie wieder", es gibt zwei. Es gibt ein "Nie wieder Krieg" und ein "Nie wieder Auschwitz". Sie sind alles andere als miteinander identisch. Die Emma-Brief-Autoren ziehen auch aus dem jüngsten Krieg noch die Lehren aus den fünfziger Jahren: Es zeigt sich, dass wir den Schock des Krieges viel tiefer verinnerlicht haben als den des Holocaust. Habermas, Kluge, Schwarzer und Co. haben die antitotalitären Lehren aus der Geschichte  nie gezogen.
Im Licht der jüngsten Ereignisse ist nicht nur mir aufgefallen, dass es nicht ein "Nie wieder" gibt, es gibt zwei. Und sie sind alles andere als miteinander identisch, auch wenn sie sich zuweilen unentwirrbar verflechten.

Es gibt ein "Nie wieder Krieg" und ein "Nie wieder Auschwitz" (der Spiegel-Autor Alexander Neubacher hat neulich auf diesen Unterschied hingewiesen). Viele Sozialdemokraten, wenn nicht fast die gesamte Partei, agierten jahrzehntelang im Namen des "Nie wieder Krieg" und entwickelten dabei - wie sich im selben drastischen Licht der Ereignisse zeigt - eine unangenehme Selbstgefälligkeit. Sie werden unterstützt von Jürgen Habermas und von Alice Schwarzer und Alexander Kluge mit ihrem Emma-Brief und einem großen Teil der deutschen Öffentlichkeit.

Sie ziehen auch aus dem jüngsten Krieg noch die Lehren aus den fünfziger Jahren: Der Krieg ist ein großes Unglück, das wir über die anderen brachten, und das wir selbst erlitten haben. Denn durchaus, die Deutschen waren auch Opfer des Krieges, viele von ihnen unschuldig: Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vergewaltigt wird, ist ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vergewaltigt wird. Diese Gewalt lässt sich nicht aufrechnen. Die Deutschen haben ihre Väter verloren, ihre Heimat, ihre Häuser. Es ist ein Unglück, das nicht einmal recht artikuliert werden konnte, denn der Krieg war von den Deutschen angezettelt worden. Die Deutschen waren schuld, aber nicht alle Deutschen hatten Schuld.

Den Krieg hatten sie am eigenen Leibe erfahren. Das "Nie wieder Krieg" war für die Deutschen darum eine allseits anschlussfähige Maxime: In ihrem Namen schlossen sie deutsch-französische Freundschaft. In ihrem Zeichen entwarfen sie die Entspannungspolitik.

Auch jenseits der Mauer skandierte man "Nie wieder Krieg" im Namen des Antifaschismus. Der Kommunismus hatte, sagte er, auf der richtigen Seite gestanden. Unter ungeheuren Opfern hatte die Rote Armee Europa von den Nazis befreit und die Hälfte Europas danach unterjocht. Das "Nie wieder Krieg" war auch die Leitlinie, mit der die Sozialdemokraten wieder neue Kontakte mit den einstigen Feinden im Osten knüpften und auf die sich beide einigten konnten. Die Entspannungspolitik war eine Friedenspolitik, die zugleich - "Röhren gegen Erdgas" - wirtschaftliche Perspektiven eröffnete.

Vor genau fünfzig Jahren fand das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt statt, das dieser gewann - zum Glück muss man bis heute sagen, angesichts der Revanchisten in der CDU und der bundesdeutschen Gesellschaft. Aber das ändert nichts daran, dass Bestechung im Spiel war. Die Stasi hatte einen CDU-Abgeordneten gekauft, weil sie schon wusste, wie dringend die DDR die Wirtschaftsbeziehungen brauchen würde. Im Laufe der Zeit entwickelte sich aus der an sich zu begrüßenden Entspannung eine zynische Symbiose, an der sich ganz Deutschland bereicherte.

Das "Nie wieder Krieg" führte dazu, dass die Bundesrepublik das Unrecht in Osteuropa stabilisierte und subventionierte - schon lange vor dem Mauerfall. Die westdeutsche Gasrente sorgte für ein starkes Eigeninteresse der Bundesrepublik an der Stabilität des "Ostblocks". Politiker wie Egon Bahr stehen bis heute für diese Politik, die Bewegungen wie die Solidarnosc und alle Dissidenten als Störfaktor betrachtete. Oskar Lafontaine war nicht der einzige Sozialdemokrat, der sich nach 1989 gegen die Wiedervereinigung einsetzte. Schon vor 1989 etablierten sich Strukturen, für die der Mauerfall letztlich überhaupt keinen Bruch bedeutete. André Glucksmann hatte die deutsche Heuchelei schon 1986 in seiner "Philosophie der Abschreckung" gegeißelt. Nach dem Mauerfall arbeitete Timothy Garton Ash sie in seiner Studie "Im Namen Europas - Deutschland und der geteilte Kontinent" auf.

Über das "Nie wieder Krieg" hatten es die Deutschen, angeführt von der einzigen Partei, die in der Geschichte honorig geblieben war, geschafft, ihre historische Zerknirschung in ein Businessmodell und ein komfortables Arrangement mit der Geschichte umzuwandeln. Es ging ihnen viel besser als den meisten ihrer einstigen Kriegsgegner.

Der Schock des Krieges war in den Deutschen darum nicht weniger körperlich. Er war sichtbar in den Versehrungen der Invaliden und der Städte und artikulierte sich bald schon in den fünfziger Jahren in Protesten gegen die Wiederbewaffnung und eine Atomrüstung Deutschlands. Diese Bewegungen wurden von drüben natürlich mit Hingabe unterstützt. Es entstand ein antifaschistisches Bündnis über die Grenzen hinweg, das auch der Keim der späteren Ostpolitik war.

Mit dem "Nie wieder Auschwitz" hat es eine völlig andere Bewandtnis. Der Schock kam für das Gros der bundesdeutschen Gesellschaft erst sehr viel später, in Wellen, die Arbeit an diesem Schock dauerte Jahrzehnte. Dass im sich im Krieg ein Verbrechen versteckte, das nicht identisch mit dem Krieg war, auch wenn der Krieg, wie sich herausstellte, um seinetwillen geführt worden war, ist den Deutschen erst sehr allmählich bewusst geworden. Die unerhörte Düsternis der Bilder aus Bergen-Belsen, der Film von Erwin Leiser, die von Fritz Bauer angestrengten, unter ungeheuren Mühen zustande gekommen Gerichtsverfahren, die grelle Vergegenwärtigung durch die "Holocaust"-Serie und schließlich die Monumente der Wahrheit und der Schande, die von Hilberg, Lanzmann und anderen ins deutsche Geschichtsbild gestellt wurden, bildeten die Etappen eines stets prekären Erkenntnisprozesses.

Prekär war dieser Erkenntnisprozess, denn der Holocaust hat, aus welchen Gründen auch immer, die Eigenschaft, permanent in Frage gestellt zu werden, oft im Namen einer Opferkonkurrenz. A. Dirk Moses und andere Postkolonialisten griffen zuletzt eine alte linke, im Grunde von Stalin begründete Tradition auf, die darin besteht, den Holocaust in eine lange Kette von Verbrechen einzureihen, deren Ursprung der Westen oder der Kapitalismus sein sollen. Es ist gerade die Linke, die das "Nie wieder Krieg" verabsolutierte, indem sie den Holocaust zum Epiphänomen erklärte. Vielleicht war das "Nie wieder Auschwitz" gar kein Schock, erst recht nicht ein Trauma, sondern nur eine abstrakte Einsicht, und die von A. Dirk Moses gegeißelte Ritualisierung des Gedenkens hätte gar nicht die beklagte religiöse Bindekraft, sondern diente nur einer hilflosen Beschwörung: Wir wollen "nie wieder Krieg", also werden wir auch "nie wieder Auschwitz" anrichten.

Aber die Opfer des Holocaust wurden unter der Parole "Nie wieder Krieg" gewissermaßen zum zweiten Mal begraben. Das ist die antitotalitäre Lehre aus dem Stalinismus, die die Emma-Briefautoren bis heute nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Stalin verhinderte auch deshalb die Benennung der Opfer von Babyn Jar und ordnete sie im Namen des "Nie wieder Krieg" in die Unzahl der sowjetischen Kriegsopfer ein, weil er selbst entsprechende Verbrechen auf dem Gewissen hatte, die auch nicht benannt werden sollten. Und sie waren ebenfalls in der Ukraine verübt worden.

Die Emma-Brief-Autoren suchen einen "Kompromiss" mit dem Kriegsverbrecher Putin. Henryk Broder fragt zurecht, wie ein Kompromiss Polens mit Hitler hätte aussehen sollen. Und wie hätte der Kompromiss der ukrainischen Bauern, wenn sie sich 1932 hätten wehren können, mit Stalin ausgesehen? Ob Putins Krieg Züge eines Genozids hat, sollten Historiker und Juristen klären. Putin ist nicht Hitler, aber mit Hitler - und übrigens auch Stalin - hat er einiges gemeinsam. Alle drei sahen sich als Gesandte und legten ihre Ideen in Büchern und Texten nieder, die von ihren Adepten als Handlungsanweisungen verstanden wurden. Putins Diskurs ist einer der Wiederholung und einer der Auslöschung, und er ist es schon seit zwanzig Jahren. Die taz brachte neulich nochmal einen Text von Anna Politkowskaja aus dem Jahr 2004. Da war schon alles gesagt. Wenig später wurde sie als Geburtstagsgeschenk für Putin erschossen. Politkowskaja war auch in Deutschland sehr bekannt. Steinmeiers "Ich habe mich geirrt" klingt ein bisschen wie "Wir haben von nichts gewusst".

In Texten wie denen von Jürgen Habermas und Alice Schwarzer und Co. zeigt sich, dass der Schock des Krieges in uns sehr viel körperlicher nachhallt als die Erkenntnis aus dem Holocaust. Immer noch! Dieser Schmerz pocht in uns und führt zu überschießender Rhetorik: Ulrike Guérot macht sich die Maxime zu eigen, dass der ungerechteste Frieden (also der mit dem Holocaust, ist das nicht die Implikation?) besser sei als der gerechteste Krieg. Alexander Kluge verwechselt die russischen Aggressoren mit den amerikanischen Befreiern - er will sich so oder so ergeben. Und Harald Welzer erklärt dem ukrainischen Botschafter von oben herab, was der Krieg sei, und warum er als Deutscher besonders qualifiziert sei, ihn zu erklären.

Die Lehre aus dem "Nie wieder Auschwitz" verraten wir nicht zum ersten Mal: 1973 herrschte eine gigantische Empörung über Pinochet, zurecht. Aber gleichzeitig geschah vor den Augen einer mäßig interessierten Weltöffentlichkeit der Völkermord in Kambodscha. In den Jugoslawien-Kriegen brauchte die westliche Öffentlichkeit Jahre, bevor sie intervenierte. Erst musste Srebrenica geschehen. Peter Handke bekam trotz seiner Bagatellen zu einem Massaker Jahre später den Literaturnobelpreis - mit Unterstützung großer Teile des hiesigen Feuilletons. Und auch Ruanda geschah vor den Augen der Öffentlichkeit.

Es ist entweder "Nie wieder Krieg" oder "Nie wieder Auschwitz". Beides zusammen geht nicht. "Nie wieder Krieg" ist ein Geschehenlassen, "Nie wieder Auschwitz" erfordert ein aktives Eingreifen. Man kann  dagegen sein. Aber man kann nicht sagen "Nie wieder Krieg" und sich dann noch mit seiner Moral brüsten.

Thierry Chervel