Bücher der Saison

Lyrik

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
11.11.2023. "Sachte, sachte. Atme den Leichnam ein und / trag ihn weiter", dichtet Tomaž Šalamun in seinem Poem "Es ist zu heiß". "Meine Flügel sind älter als deine Geduld, / meine Flügel flogen dem Mut voraus, / der das Irren auf sich nahm", hielt einst Christine Lavant ihrem Schöpfer entgegen. Außerdem empfehlen wir zwei Anthologien mit slowenischer und neuer japanischer Lyrik.
Wussten Sie, dass im kleinen Slowenien mit seinen zwei Millionen Einwohnern jedes Jahr rund 300 Gedichtbände publiziert werden? So wünscht man sich seine Nachbarn! Einer der ganz Großen der slowenischen Lyrik ist der 1941 in Zagreb geborene Tomaž Šalamun. Schon mit seinem ersten, 1966 erschienenen Gedichtband "Poker" brach er mit der traditionellen Lyrik und arbeitete mit surrealistischen und futuristischen Mitteln, mit Assoziationen und später postmodernen Elementen. Der hier vorliegende Band "Steine aus dem Himmel" (bestellen) versammelt eine Auswahl aus seinem Spätwerk. Nichts für schwache Nerven, warnt Rezensent Alexandru Bulucz in der NZZ. Für Salamun ist der Tabubruch Programm, ob der Leser etwas versteht oder nicht, ist völlig unerheblich. Seine Gedichte "wollen den Leser am besten vor den Kopf stoßen, ihn überrumpeln, ganz so wie Eingebungen den Wortkünstler beim Dichten überfallen: 'als würde sich ein Spalt öffnen oder ein Tonus, eine Spannung, die zerreißt, und es ist, als ob dann ein Strahl aufleuchtet oder ein Satz hervorbricht'", erklärt Bulucz und verspricht "ein poetisches Ereignis". Dem kann FAZ-Kritikerin Marica Bodrozic, die Salamuns lyrisches Ich mühelos von einem Baum zu Meister Eckart gleiten sieht, nur zustimmen. Bei Lyrikline kann man ihn einige Gedichte selbst lesen hören, "Lack" zum Beispiel.

In ihrer Lyrikkolumne "Tagtigall" hat Marie Luise Knott die Leser schon mit dem slowenischen Rimbaud bekannt gemacht, den 1904 geborenen Srečko Kosovel, den wir auf Deutsch mit dem Band "Mein Gedicht ist mein Gesicht" (bestellen) entdecken können: "So arm die Slowenen gewesen sein mögen, Kosovels Verse sind stolz und so zerklüftet und schroff wie der Karst selbst, und dabei in ihrem Minimalismus von großer Schönheit. Kalkstein, Flechten und Wacholderbeeren kennzeichnen die Region und finden sich auch in seinen Landschaftsgedichten. In den Felsklüften bricht sich das Licht, das die Erde mit dem Kosmos verbindet", schwärmte Knott. "'Felsen und Wacholder und Sterne und dazwischen mein Weg', schrieb er 1921." Wer jetzt - hoffentlich - von slowenischer Lyrik angefixt ist, kann seinem Gelüst hemmungslos mit der Anthologie "Mein Nachbar auf der Wolke" (bestellen) frönen, einer Sammlung neuer und neuester slowenischer Gedichte, die virtuos die verschiedenen Ausrichtungen und Prinzipien anhand von 80 Einzelstimmen verdeutlicht. Nico Bleutge hat sich für die SZ auf eine anregende Entdeckungsreise begeben und findet immer wieder auch formal wagemutige Gedichte, die ihm, nicht zuletzt dank der Übersetzer, "gleich das ganze Weltall auffalten, wirbelnd, flimmernd, immer wieder nah und fremd in einem". Gedichte der Gegenwart, nur diesmal aus Japan, versammelt auch der Band "Eine raffinierte Grenze aus Licht" (bestellen), den die beiden Dichterinnen Marion Poschmann und Yoko Tawada herausgegeben haben. Der Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit fielen zwar ein paar kleine Ungereimtheiten auf, wie sie in der FAZ erklärt, aber insgesamt kann sie diesen "inspirierenden und höchst verdienstvollen" Band nur empfehlen, der Gedichte über körperliche und seelische Verletzlichkeit, Natur "im weitesten Sinne" oder Gewalt in den unterschiedlichsten Übersetzungstonfällen vereint. Lob auch von Marie Schmidt (SZ), die lernt, wie streng getrennt Haiku- und Tanka-Dichtung von der freieren Shi-Dichtung ist, die für diesen Band ausgewählt wurde.

Wer seine Lyrik gern mit politischen Themen unterfüttert mag, könnte hier fündig werden: Die russische Dichterin Darja Serenko ist Mitbegründerin der Bewegung Feministischer Antikriegswiderstand (FAS), die sich im Februar 2022 bildete, um gegen die russische Invasion der Ukraine zu protestieren, lesen wir in den Verlagsinfos zur Autorin. Serenko saß deshalb auch im Gefängnis und lebt heute im Exil in Georgien. In ihrem Band "Mädchen und Institutionen" (bestellen) erzählt sie "Geschichten aus dem Totalitarismus". Es sind elegante Prosagedichte voller Alltagsimpressionen und Reflexion über das Gefängnis, weibliche Kollektive, Verantwortung und Schuld, empfiehlt im Dlf eine angeregte Olga Hochweis. 23 Jahre alt ist die britische Sängerin/Songwriterin Arlo Parks. Mit "The Magic Border" (bestellen) legt sie jetzt ihren ersten Lyrikband vor. In der Welt erliegt Swantje Karich der sanften Gefühlsbetontheit dieser Verse, die aber keineswegs unpolitisch sind, wie sie versichert:  als junge, schwarze und queere Frau erzählt Parks auch von schmerzhaften persönlichen Erlebnissen, von ihrer Identitätssuche und von Gewalt- auch gegen sich selbst, so Karich. So depressiv wie Billie Eilish, aber noch "klüger", resümiert Leonardo Kahn in der SZ, gibt aber auch zu, dass ihm die Songs noch lieber sind. Die NZZ schließlich empfiehlt noch einen Klassiker, Phillis Wheatley "Nie mehr, Amerika!" (bestellen), geschrieben vor 250 Jahren, der das Verbrechen der Sklaverei geißelt, der aber auch ein Beispiel für den Aufbruch der Literatur in der Moderne ist, etwa wenn neben der Vernunft auch der poetischen Macht des Traums gehuldigt wird, lobt Roman Bucheli.

Christine Lavant ist die große Mystikerin der österreichischen Lyrik. Aufgewachsen in den allerärmsten Verhältnissen, schuf sie ein großartiges und unergründliches Werk, schreibt in der FR Björn Hayer anlässlich einer von Jenny Erpenbeck getroffenen Auswahl für den Band "Seit heute, aber für immer" (bestellen). Armut, Liebe, Natur waren ihre Themen. Und Gott, der ihr immer ferner rückte, wie Hayer bemerkt: Das "reicht von den unbeantworteten Ersuchen der Autorin, sie von Schwermut und Schmerzen zu erlösen bis zu tiefen Zweifeln und gar Anklagen. 'Du hast meine einfachen Wege durchkreuzt / und mich am Kreuzweg allein gelassen / in einer unmenschlichen Landschaft'." Es ist ein bisschen traurig, dass nur die FR diesen Band besprochen hat. Aber Sie können Lavant einige ihrer Gedichte auf Lyrikline lesen hören, zum Beispiel dies hier. Sehr ans Herz legen möchten wir unseren Lesern außerdem noch die "Gesammelte Gedichte" der polnischen Lyrikerin und Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska (bestellen): "Komplex, aber nie kompliziert" und den Fragen des Alltags durchaus zugewandt, so Verena Auffermann in dlf kultur. Wie in diesem Wetterbericht, den Szymborska auf Lyrikline liest.

Und zu guter Letzt noch zwei weiße alte Männer, von deren Wildheit und Anmut man auch noch was lernen kann: "Angefangen mit San Francisco" des Dichters und Verlegers Lawrence Ferlinghetti, der einen meisterhaften Cocktail aus deutschem Expressionismus, amerikanischer Beatliteratur, Jazzrhythmen und Agitprop brauen konnte (bestellen), sowie Hans Magnus Enzensbergers "Leichte Gedichte", ironisch-elegante Variationen auf Phrasen des Alltags, die die FAZ bezauberten (bestellen).

Weitere Lyrikempfehlungen finden Sie in Marie Luise Knotts Kolumne Tagtigall und in unserer Büchersuche für Lyrik.