Nina Lugowskaja

Ich will leben

Ein russisches Tagebuch 1932-1937
Cover: Ich will leben
Carl Hanser Verlag, München 2005
ISBN 9783446205710
Gebunden, 437 Seiten, 24,90 EUR

Klappentext

Aus dem Russischen von Christiane Körner. Ein einzigartiges Dokument über das Leben in der stalinistischen Diktatur und den Alltag im Moskau der dreißiger Jahre. Nina Lugowskaja ist dreizehn, als sie das Tagebuchschreiben beginnt. Der Vater, gerade aus Sibirien zurückgekehrt, hält sich illegal in Moskau auf. Die Familie, in ständiger Angst vor Hausdurchsuchung und Deportation, versucht am bürgerlichen Lebensstil festzuhalten. In ihrem Tagebuch schreibt Nina über ihre Verliebtheiten, Probleme in der Schule, ihr Aufbegehren gegen die traditionelle weibliche Rolle, den Abscheu vor bolschewistischen Aufmärschen und über die ständige Angst, die das tägliche Leben bestimmt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 17.12.2005

Berührt zeigt sich Renate Wiggershaus von diesem "erschütternden Tagebuch" Nina Lugowskajas, das die russische Historikerin Irinia Ossiopowa in den Geheimarchiven der Stalinära gefunden hat und nun in einer "lebendigen" deutsche Übersetzung vorliegt. Die Aufzeichnungen über die Drangsalierung durch Stalins Terrorregime, die Nina Lugowskaja von ihrem 13. Lebensjahr bis zu ihrer Verhaftung mit achtzehn durch das Staatssicherheitskomitee niederschrieb, zeugen für Wiggershaus von "erstaunlicher Sensibilität und Selbstreflektiertheit". Vor allem die sozialhistorischen und politischen Aspekte des Buches erscheinen ihr aufschlussreich. Sie charakterisiert die Autorin als "wache, hellsichtige Beobachterin",die zornig die Exekutionen an Weißgardisten kommentiert, die langen Schlangen hungriger Menschen registriert, die Verlogenheit des bolschewistischen System anprangert und den verbrecherischen Stalin anklagt. "Ihre Tagebücher sind ein Zeitdokument", resümiert die Rezensentin, "das exemplarisch für Zehntausende steht, die in die Maschinerie des stalinistischen Terrors gerieten, ohne dass Spuren von ihrem Schicksal zeugen".

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 12.12.2005

"Endlich hat auch der Bolschewismus seine Anne Frank.", konstatiert Rezensentin Sonja Zekri angesichts der Tagebücher von Nina Lugowskaja, die im Russischen Staatsarchiv entdeckt und nun publiziert worden sind. Lugowskaja war zusammen mit ihrer Familie vom russischen Geheimdienst NKWD verhaftet worden, dem ihre Aufzeichnungen in die Hände fielen. Aufgefallen war sie durch eine Bemerkung, in der sie voller aufbegehrender Wut auf die Regierung davon sprach, sie habe sich tagelang im Bett vorgestellt, wie sie Stalin töten wolle. Lugowskaja schildere eine Jugend voller Furcht, wie sie viele im Russland der 30er Jahre erlebt haben. Die besondere Leistung der Autorin sieht Zekri darin, den Terror beim Namen genannt und ein angebliches kollektives Unwissen entlarvt zu haben, wenn sie über die Kollektivierung der Landwirtschaft spricht, der Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, über Hungersnöte, Kannibalismus, über Diebstähle und Banditentum oder über den protzigen Technikkult der Regierung. "Wenn eine Vierzehnjährige alles dies kannte, dann kannten andere sie auch.". Wie die Tagebücher der Anne Frank sieht die Rezensentin hier die "Zerbrechlichkeit des Privaten" veranschaulicht.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 26.10.2005

Im Archiv des russischen Innenministeriums hätte die Menschenrechtsorganisation Memorial dieses Tagebuch der Nina Lugowskaja gefunden, berichtet Rezensent Ulrich M. Schmid, und als seltenes Beispiel eines unabhängigen und kritischen Berichts veröffentlicht. Darin zeige sich ein neues Erkenntnisinteresse gegenüber der Stalinzeit, das nicht mehr nur die Repression sondern vielmehr die positiven Identifikationsangebote für unterprivilegierte Schichten untersuche. Schmid ist beeindruckt von der selbstbewussten jungen Frau mit ihrer schwelgerischen Gier nach Leben und Liebe einerseits und ihrer "hellsichtigen" Regimekritik andererseits. Wobei, betont Schmid, sie gleichwohl ihren eigenen "pubertären Verwirrungen" gegenüber blind bleibe. Lukowskajas Vater ist als Bäcker Opfer der Stalinisierung gewesen. 1937 wurde auch Nina mit ihrer Mutter und ihren zwei Schwestern verhaftet und zu 5 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Die aus der Sicht des Rezensenten interessantesten Passagen des Tagebuchs seien Szenen wie jene, als beispielsweise eine harmlose Schneeballschlacht in der Schule zu Polizeiverhör und Hausdurchsuchung führte, und sich damit gewissermaßen der "kollektive Wahnzustand" der Stalinzeit offenbart.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 13.10.2005

Sonja Margolina würdigt die Tagebücher, die Nina Lugowskaja von 1932 bis zu ihrer Verhaftung 1937 verfasst hat, als wichtiges "Zeitdokument" und zudem als wahre "Fundgrube" für Eindrücke von der stalinistische Alltagswelt. Die zu Beginn ihrer Aufzeichnungen 14-Jährige hatte Stalin beschimpft und das System kritisiert. Als das Tagebuch bei einer Hausdurchsuchung gefunden wurde, bezichtigte man die Familie der Planung eines "Terrorakts" und schickte sie ins Arbeitslager, berichtet die Rezensentin. Besonders berührt haben sie dann bei der Lektüre auch die Unterstreichungen des Untersuchungsrichters, die im Abdruck der Tagebücher typologisch hervorgehoben werden und die so einen Eindruck vom "'Hirn' der Repressionsmaschine" vermitteln. Die "Denkverbrechen", die Ablehnung des Systems, waren dabei durchaus nicht das Hauptthema der Jugendlichen, betont Margolina. Vielmehr geht es um typische Jugendprobleme, Minderwertigkeitskomplexe und familiäre Konflikte, über die sich Lagowskaja in "kindlichem Egoismus" ergeht, so die Rezensentin weiter. Dass die Aufzeichnungen dennoch von großem Interesse sind, liegt nicht zuletzt an den "erstaunlichen" literarischen Fähigkeiten der Tagebuchschreiberin, die, wie die Rezensentin lobt, durch Christiane Körner "kongenial" ins Deutsche übersetzt worden sind. Mit ihren Eintragungen hat Lugowskaja den "erstickten Stimmen" der Menschen, die die "bolschewistische Macht hassten" einen "Ton gegeben", so Margolina anerkennend.