Frank Bajohr, Dieter Pohl

Der Holocaust als offenes Geheimnis

Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten
Cover: Der Holocaust als offenes Geheimnis
C.H. Beck Verlag, München 2006
ISBN 9783406549786
Gebunden, 156 Seiten, 18,90 EUR

Klappentext

Spätestens seit 1942 hatten immer größere Teile der deutschen und internationalen Öffentlichkeit Kenntnis von der Vernichtung der Juden. Die Autoren zeigen, wie dieses Wissen nach der Kriegswende 1942/43 bei den Deutschen Bestrafungserwartungen und Vergeltungsängste weckte, aber auch, wie die NS-Führung auf die zunehmende Verbreitung dieser Informationen reagierte. Im ersten Teil wird untersucht, wie sich nach 1933 zwischen NS-Regime und Bevölkerung schrittweise ein antijüdischer Konsens herausbildete. Dabei spielten der gesellschaftliche Antisemitismus, die wachsende Popularität Hitlers und des NS-Regimes sowie persönliche Vorteile eine wichtige Rolle. Nach der Kriegswende 1942/43 wurden die Morde an der jüdischen Bevölkerung zwiespältiger aufgenommen, was jedoch nicht zu Gefühlen der Scham, sondern eher zu Schuldabwehr und Aufrechnungsstrategien führte. Bereits unmittelbar nach Beginn der Massenmorde im Sommer 1941 verbreitete sich das Wissen über diese Verbrechen weltweit. Der zweite Teil des Buches zeigt, dass die nationalsozialistischen Eliten dies sehr genau registrierten, die NS-Führung aber erst nach Stalingrad zur propagandistischen Gegenoffensive überging.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 27.12.2006

Besonders wichtig und lobenswert aus Sicht des Rezensenten Jörg Später sind die vielen von den Autoren berücksichtigten jüdischen Quellen, die beispielsweise Peter Longerich in seiner Studie "Davon haben wir nichts gewusst!" ignoriert habe. Frank Bajohr könne dank dieser Quellen von einer "Zustimmungsdiktatur" sprechen, die sich nach 1933 eines zunehmenden antijüdischen Konsenses sicher sein konnte. In der Praxis, referiert der Rezensent, seien Juden häufig schon verfolgt worden, bevor es überhaupt von oben befohlen worden war. Der Konsens habe den Autoren zufolge insbesondere in der Übereinkunft bestanden, dass Juden nicht zur so genannten Volksgemeinschaft gehören. Allerdings sei die Zustimmung zu Plünderung, Ausgrenzung und Abschiebung nicht unbedingt auch eine Zustimmung zum Mord an der jüdischen Bevölkerung gewesen.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 21.10.2006

Neue Einblicke haben die beiden Essays dieses Bandes Rezensent Christian Semler gegeben, der darüber hinaus auch die gute Lesbarkeit und pointierte Argumentation beider Texte lobt. Den Ansatz des Hamburger Zeitgeschichtlers Frank Bajohr beschreibt Semler als "sozialhistorisch geprägt" und auf zeitgenössische Quellen gestützt, aus denen er schließlich seine These von der nationalsozialistischen "Zustimmungsdiktatur" ableite. Bajohr lasse auch keinen Zweifel, dass das Gros der Bevölkerung vom Massenmord Kenntnis gehabt habe. Der Münchner Zeithistoriker Dieter Pohl zeichne in seiner Studie nach, dass die Alliierten schon früh von den Massenmorden unterrichtet gewesen seien, aber kaum reagierten. Erst nach 1943 hätten Pläne für ein Kriegsverbrechertribunal konkrete Formen angenommen. Semler scheint es allerdings etwas zu bedauern, dass Pohl sich nicht intensiver mit der Frage befasst hat, wie viele Menschen aus den Konzentrationslagern hätten gerettet werden können, wenn die Alliierten früher eingeschritten wären. Ebenso "eindrucksvoll wie deprimierend" findet er schließlich die Beschreibung, "mit welchem Erfolg sich eine große Zahl von Mördern und Helfershelfern" nach 1945 einer Verfolgung entzogen hat.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 27.09.2006

Mehr als "Forschungsskizzen" denn als abschließende Studien versteht Rezensent Urs Hafner die Beiträge der beiden Autoren. Wie schon Peter Longerich stellen auch sie dar, dass die deutsche Bevölkerung im Wesentlichen vom Holocaust gewusst und ihn mehr oder weniger allgemein akzeptiert habe. Zudem zeige Frank Bajohr in seinem Beitrag, auf welche Tradition eines auch gewalttätigen Antisemitismus in der Weimarer Zeit die Nationalsozialisten gewissermaßen aufbauen konnten. Interessant sei nun, so der Rezensent, wie die Bevölkerung nach der Kriegswende von Stalingrad keineswegs die grundsätzliche Zustimmung zum Holocaust geändert, vielmehr die Bombardierungen der Alliierten als Strafe für die Vernichtung der Juden angesehen habe. Das Gefühl der Schuld konnte nicht weiter verdrängt werden angesichts der drohenden Niederlage, sei aber verrechnet worden mit dem eigenen Leiden. Die gleiche Strategie habe auch die Gegenpropaganda des Regimes gefahren und von weitaus schlimmeren Kriegsverbrechen der Westmächte gesprochen. Insgesamt ein "anregendes" neues Buch, befindet der Rezensent, das zugleich eine einseitige Kollektivschuldthese vermeide.