Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Alex Goldfarb / Marina Litwinenko: Tod eines Dissidenten. Teil 1

11.06.2007.
KAPITEL 1
Asyl



New York, 25. Oktober 2000

Der Tag war noch nicht angebrochen, als mein Handy klingelte.
"Salut", sagte eine Stimme. "Wo bist du gerade?" Es war Boris Beresowski, der bis vor wenigen Monaten zu Russlands reichsten und mächtigsten Oligarchen gehört hatte. Jetzt rief er aus seinem Haus in Cap d?Antibes in Südfrankreich an, wo er im Exil lebte. Russ-lands neuer Präsident Wladimir Putin verdankte seine Wahl an die Spitze des Landes nicht zuletzt dem Einfluss von Boris Beresowski, der sich später mit ihm überworfen und beschlossen hatte, aus seinem Frankreichurlaub nicht nach Hause zurückzukehren. Putin war nun eifrig damit beschäftigt, die allgegenwärtigen Gefolgsleute dieses Mannes aus Russlands Machtstrukturen zu vertreiben. Beresowski wusste, dass seine Telefongespräche abgehört wurden. Ich musste ihm versichern, dass ich mich nicht in Russland befand. Erst dann kam er zur Sache.
"Erinnerst du dich an Sascha Litwinenko?", fragte er.
Natürlich erinnerte ich mich an Oberstleutnant Alexander "Sascha" Litwinenko. Er arbeitete in der Abteilung für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens im russischen Inlandsgeheimdienst FSB, der Nachfolgebehörde des KGB. Litwinenko gehörte zu Boris Beresowskis Männern. 1998 war er zu nationaler Berühmtheit gelangt. Damals hatte er eine Pressekonferenz einberufen und - flankiert von vier maskierten Offizieren, die seine Anschuldigungen bestätigten - behauptet, einige abtrünnige Generäle des FSB planten einen Anschlag auf Beresowski. Kurze Zeit zuvor hatte Präsident Boris Jelzin den bisherigen FSB-Direktor, einen erfahrenen Drei-Sterne-General, durch den Oberstleutnant Wladimir Putin ersetzt, der bis dahin ein unbeschriebenes Blatt aus der Kreml-Administration gewesen war.
Dass Litwinenko es gewagt hatte, sich zur besten Sendezeit mit der kontora (der Firma) anzulegen, gefiel den Leuten in der Lubjanka, dem Hauptquartier des FSB, überhaupt nicht. Kurz darauf wurde er verhaftet. Die Abteilung für Innere Angelegenheiten beschuldigte ihn des Machtmissbrauchs. Er habe, hieß es, einige Jahre zuvor einen Verdächtigen zusammengeschlagen. Sascha Litwinenko verbrachte mehrere Monate in Lefortowo, dem berüchtigten Untersuchungsgefängnis des ehemaligen KGB. Ich hatte Beresowski damals gebeten, den Kontakt zu Sascha herzustellen, weil ich ein von dem Finanzexperten George Soros gefördertes Projekt zur Gesundheitserziehung leitete, das die Ausbreitung von Tuberkulose-Epidemien in russischen Gefängnissen verhindern sollte. Ich wollte von Sascha erfahren, wie es um die medizinische Versorgung in Lefortowo bestellt war. Vom Justizministerium hatte ich Zugang zu den regulären Gefängnissen erhalten, aber Lefortowo unterstand dem FSB und war streng abgeschirmt.
"Ja, ich erinnere mich an Litwinenko", sagte ich.
"Er ist in der Türkei."
"Sie rufen mich um fünf Uhr morgens an, um mir das zu sagen?"
"Er ist auf der Flucht."
Sascha versteckte sich mit seiner Frau und seinem Sohn in einem Hotel am Mittelmeer und bereitete sich darauf vor, zu den Amerikanern überzulaufen. Beresowski fragte, ob ich "als Dissidentenveteran und obendrein noch Amerikaner" bereit sei, ihn zu unterstützen. "Er glaubt, dass du der Einzige bist, der ihm helfen kann."
"Aber warum? Wir haben uns doch nur ein paarmal getroffen."
"Du bist der einzige Amerikaner, den er kennt."

Ein paar Stunden nach Beresowskis Anruf - ich hatte mittlerweile selbst mit Sascha telefoniert - betrat ich das Old Executive Office Building in Washington, D.C. Ich war mit einem alten Freund verabredet, der als Russland-Spezialist für Präsident Clintons Nationalen Sicherheitsrat arbeitete.
Ein entspannter Polizist warf einen flüchtigen Blick auf meinen Ausweis. Es war knapp ein Jahr vor dem 11. September. In zwei -Wochen sollten die US-Präsidentschaftswahlen stattfinden, und in Washington machte sich niemand besonders viele Gedanken über Russland. Ich brauchte nur ein paar Sekunden, bis ich im Gebäude war.
"Ich habe nur zehn Minuten Zeit", sagte mein Freund. "Also, über welche dringliche Angelegenheit wolltest du nur unter vier Augen mit mir sprechen?"
Ich erzählte ihm von Litwinenko und dass ich vorhatte, in die Türkei zu fliegen und ihn zu unserer Botschaft zu bringen.
"Als Beamter der US-Regierung muss ich dir sagen, dass wir nicht daran interessiert sind, russische Agenten zum Überlaufen zu bewegen", erwiderte er. "Und als Freund rate ich dir, dich aus der Sache rauszuhalten. Dafür braucht man Profis, und du bist keiner. Glaub mir, so was läuft nie nach Plan. Es könnte gefährlich werden. Und wenn du erst mal in der Sache drinsteckst, geraten die Dinge schnell außer Kontrolle. Eins führt zum anderen, und du weißt nicht, wie du am Ende dastehst. Wenn du meinen Rat hören willst: Geh nach Hause und vergiss das Ganze."
"Und Litwinenko? Was passiert mit ihm?", fragte ich. Ich dachte daran, wie verängstigt Sascha am Telefon geklungen hatte.
"Das ist nicht dein Problem", antwortete er. "Er ist ein erwachsener Mann, und er wusste, worauf er sich einließ."
"Was würde passieren, wenn er allein in unsere Botschaft käme?"
"Man würde ihn dort gar nicht reinlassen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng, Ankara ist schließlich nicht Kopenhagen. Hat er überhaupt Papiere dabei?"
"Das weiß ich nicht."
"Und zweitens: Selbst wenn er in die Botschaft gelangt, wird er dort nur auf Konsularbeamte stoßen, deren Aufgabe es ist", er lächelte, "Leute von Amerika fernzuhalten."
"Aber es geht doch nicht um ein Touristenvisum."
"Wenn er das beweisen kann, dann ?", er zögerte und suchte nach dem passenden Ausdruck, "dann werden andere Beamte mit ihm reden. Theoretisch könnten sie ein gutes Wort für ihn einlegen, aber das hängt davon ab ?"
"Was er zu bieten hat?"
"Genau."
"Ich habe keine Ahnung, was er ihnen anbieten könnte."
"Da siehst du?s: Du bist eben kein Profi."
Ich erhob mich, und mein Freund lächelte mir zum Abschied zu.

Ich hatte mich bereits dagegen entschieden, seinem Rat zu folgen. Auch ich war ein Dissident, 1975 emigriert, weil ich, ein jüdischer Biologe, in Moskau das Sowjetregime kritisiert hatte. Meinem Vater, ebenfalls Wissenschaftler, wurde die Ausreise verweigert. Erst zehn Jahre nach mir erhielt er die Erlaubnis auszuwandern. Menschen bei ihrer Befreiung aus den Fängen Moskaus zu helfen lag mir am Herzen. Bald darauf flog ich in die Türkei.

Leseprobe Teil 2

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