Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Alex Goldfarb / Marina Litwinenko: Tod eines Dissidenten. Teil 2

11.06.2007.
Auf den ersten Blick wirkten die Litwinenkos in dem kleinen Hotel am Meer wie ganz normale Touristen, die in Scharen die türkische Südküste bevölkerten. Der sportliche Familienvater joggte morgens am Strand, seine hübsche Frau war nach einer Woche in der Sonne leicht gebräunt, und der sechsjährige Sohn schien ein ganz normaler, aufgeweckter Lausbub zu sein. Diese russische Familie erregte bei den Einheimischen, für die Touristen aus dem Norden die Haupt-einnahmequelle waren, keinerlei Verdacht.
Aber wer genauer hinsah, bemerkte die Anspannung, unter der die Flüchtlinge standen. Sie zeigte sich an dem Misstrauen, mit dem Sascha jeden Fremden musterte, an Marinas vom Weinen geröteten Augen, an Toliks unablässigem Betteln um die Aufmerksamkeit seiner Eltern.
Die Türkei gehört zu den wenigen Ländern, in die Russen ohne Visum einreisen dürfen. Besser gesagt, sie können für dreißig Dollar ein Visum an der Grenze kaufen. Marina und Tolik waren mit ihren russischen Pässen über Spanien eingereist, wo sie eine Rundreise unternommen hatten, Sascha war mit gefälschten Papieren unterwegs. Er zeigte mir einen Pass aus einer der ehema-ligen Sowjetrepubliken. Das Foto war von ihm, aber der Name ein anderer.
"Wie bist du an den gekommen?"
"Hast du vergessen, wo ich früher gearbeitet habe? Das Sprichwort stimmt: Hundert Freunde sind mehr wert als hundert Rubel."
"Aber wie sollen wir beweisen, dass du wirklich du bist?"
Er zeigte mir seinen Führerschein und seinen FSB-Veteranenausweis, in dem er als Oberstleutnant Litwinenko geführt wurde.
"Haben deine Bewacher in Moskau schon entdeckt, dass du weg bist?"
"Ja. Sie suchen seit einer Woche nach mir."
"Woher weißt du das?"
"Wir haben meine Schwiegermutter angerufen."
"Wenn du von hier aus angerufen hast, dann kennen sie jetzt deinen Aufenthaltsort."
"Ich habe dies hier benutzt." Er zeigte mir eine spanische Telefonkarte. "Man wählt sich über eine Nummer in Spanien ein, also kann der Anruf nicht zurückverfolgt werden. Die denken, wir sind noch in Spanien."
"Du hättest trotzdem nicht anrufen dürfen. Es würde mich überraschen, wenn sie nicht schon Interpol eingeschaltet hätten, weil du angeblich wegen Bankraub gesucht wirst."
"Ich musste doch unseren Eltern mitteilen, dass es uns gut geht. Sie wussten nichts von unserem Fluchtplan." Saschas hellgraue Augen blitzten einen Moment lang trotzig auf. "Verdammte Mistkerle. Sie hetzen uns wie Kaninchen!"
Marina und ich wechselten einen besorgten Blick. Wir sprachen schon seit mehreren Stunden miteinander, und dies war der erste Gefühlsausbruch, den Sascha sich erlaubte. Ich konnte sehen, wie schwer es ihm fiel, ruhig zu bleiben.

Am nächsten Tag mieteten wir ein Auto und fuhren nach Ankara. Im dortigen Sheraton-Hotel erwartete uns bereits Joseph, ein kleinwüchsiger, sehr förmlich und korrekt wirkender amerikanischer An-walt, bekannt als Spezialist für Asyl- und Flüchtlingsrecht, den ich vor meiner Abreise in die Türkei kontaktiert hatte. Da Boris Beresowski stets alle Rechnungen prompt beglich, hatte sich Joseph gern bereit erklärt, für ein paar Stunden aus Osteuropa einzufliegen, wo er gerade geschäftlich unterwegs war.
Joseph erklärte Sascha, es sei nur innerhalb der Vereinigten Staaten möglich, um amerikanisches Asyl zu ersuchen. Außerhalb Amerikas könne Sascha nur ein Flüchtlingsvisum beantragen. Dafür gebe es eine Jahresquote, sodass er darauf Monate, womöglich Jahre warten müsse.
"Früher wurden sowjetische Flüchtlinge mit offenen Armen in Amerika empfangen", warf ich ein.
"Das war zu Zeiten des Kalten Krieges", erwiderte Joseph, an mich gewandt. "Theoretisch gibt es die Möglichkeit einer ?Einreise aus Staatsinteresse?, wenn es dem öffentlichen Interesse nützt, der Person Asyl zu gewähren. Die Entscheidung darüber wird allerdings auf höchster Ebene gefällt. Ich würde Ihren Freunden raten, auf offiziellem Weg Flüchtlingsstatus zu beantragen. Dann sind die Papiere im System, und sie können in der Türkei warten, während Sie in Washington an ein paar Fäden ziehen."
"Aber Sascha ist kein gewöhnlicher Flüchtling. Er ist ehemaliger FSB-Offizier."
"Ich verrate Ihnen ein Geheimnis", sagte der Anwalt. "Die CIA verfügt über Blanko-Greencards. Man muss nur den Namen einsetzen. Wenn der Antragsteller der CIA nützlich sein kann, dann sitzt er ein paar Stunden später in Washington und braucht sich um die Einreisebestimmungen nicht mehr zu kümmern. Aber dafür müssen Sie einen Deal mit denen abschließen. Wenn Sie mit Informationen herausrücken, wird Ihnen im Gegenzug Schutz gewährt. Sie müssen sich entscheiden: Entweder Sie fliehen vor einem Regime, oder Sie handeln mit Informationen. Es ist schwierig, beides gleichzeitig zu tun."
Ich übersetzte für Sascha.
"Da muss ich wohl erst mal meinen Bestand an streng geheimen Informationen durchgehen", kommentierte er sarkastisch.
Bevor sich Joseph verabschiedete, gab er Sascha noch eine letzte Warnung mit auf den Weg: "Falls es zu einem Geschäft kommt, bleiben Sie hart. Erst das Visum, dann packen Sie aus."


Mit freundlicher Genehmigung des Hoffmann und Campe Verlages
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