Vorgeblättert

Leseprobe zu John Gray: Politik der Apokalypse. Teil 2

13.08.2009.
Schon vorchristliche Philosophen wie die Epikureer beschäftigten sich mit dem Problem des freien Willens. Es wurde aber erst mit dem Aufstieg des Christentums zu einem zentralen Thema der westlichen Philosophie und spielte in nichtwestlichen Philosophien, die keine derart scharfe Trennung zwischen Menschen und Tieren vornehmen, nie eine bedeutsame Rolle. Wenn säkulare Denker sich mit den Themen des freien Willens und des Bewusstseins befassen, nehmen sie fast immer nur den Menschen in den Blick. Warum sollten wir aber annehmen, dass diese geistigen Funktionen nur beim Menschen vorhanden sind? Wenn Rationalisten als selbstverständlich voraussetzen, dass zwischen Mensch und Tier ein kategorialer Unterschied besteht, geben sie damit zu erkennen, wie viel ihr Weltbild dem christlichen Glauben verdankt. Das Amüsante am kämpferischen Atheismus ist, dass sein humanistisches Glaubensbekenntnis ein Ableger des Christentums ist.
     Wenn man nachweist, dass humanistische Überzeugungen im Christentum wurzeln, folgt daraus noch nicht, dass sie falsch wären. Doch nicht nur die humanistischen Überzeugungen leiten sich aus dem Christentum ab, sondern das gesamte Denksystem, in das sie eingebettet sind. Wenn man zum Beispiel die These, Menschen seien von den Tieren völlig verschieden, aus ihrem theologischen Kontext herauslöst, erscheint sie nicht nur unhaltbar, sondern im Grunde gar nicht nachvollziehbar. Viele heutige Humanisten meinen, sie würden streng naturwissenschaftlich denken, da sie ja alle Formen des Lebens einschließlich des Menschen als Teil des materiellen Universums begreifen. Doch eine im eigentlichen Sinne naturwissenschaftliche Philosophie würde nicht von vornherein unterstellen, dass Menschen über Merkmale verfügen, die den Tieren fehlen. Ihr Ansatzpunkt wäre vielmehr, dass die Gesetze der Evolution für Tiere genauso gelten wie Nach dem Säkularismus für Menschen. Welche Gründe - außer der Lehre einer Offenbarungsreligion - könnte es auch geben, diese Annahme zu bestreiten?
     Der heutige Atheismus ist eine christliche Häresie, die sich von früheren Häresien vor allem durch ihre intellektuelle Grobschlächtigkeit unterscheidet. Dies wird nirgendwo klarer als in dem Bild, das der Atheismus von der Religion zeichnet. Marx vertrat eine verkürzte Auffassung von Religion als Begleiterscheinung der Unterdrückung; er war sich aber bewusst, dass in ihr die tiefsten Sehnsüchte des Menschen zum Ausdruck kommen, und bezeichnete sie nicht nur als "Opium des Volkes", sondern auch als "das Gemüt einer herzlosen Welt". Die französischen Positivisten wollten das Christentum durch eine lächerliche Religion der Humanität ersetzen; ihnen war aber klar, dass die Religion Antworten auf universelle menschliche Anliegen zu geben versucht. Nur ein erstaunlich leichtgläubiger Philosoph könnte annehmen, die Religion gehe zugrunde, wenn man sie als Illusion entlarvt. Das würde voraussetzen, dass der menschliche Geist ein auf die Wahrheit gerichtetes Organ ist - ein quasiplatonischer Gedanke, der der Religion näher steht als der Naturwissenschaft und mit dem Darwinismus nicht zu vereinbaren ist. Zeitgenössische Atheisten scheinen aber von eben dieser Vorstellung auszugehen.
     Das Hauptverdienst bekennender Atheisten liegt darin, deutlich zu machen, dass der Säkularismus im Grunde eine Schimäre ist. Der Begriff Säkularismus ist sinnvoll verwendet, wenn er sich auf die Schwäche traditioneller Religionen oder den Machtverlust von Kirchen und anderen religiösen Institutionen bezieht. Das ist gemeint, wenn man beispielsweise Großbritannien ein im Vergleich zu den USA stärker säkularisiertes Land nennt. Säkularismus in diesem Sinne ist also ein erreichbarer Zustand. Wenn man aber eine säkulare Gesellschaft so definiert, dass es in ihr keine Religion mehr gebe, ist dies im Grund ein Widerspruch in sich, weil man sie mittels dessen beschreibt, was in ihr angeblich gar nicht vorhanden ist. Nachchristliche säkulare Gesellschaften definieren sich also über einen Glauben, den sie verwerfen, wohingegen eine Gesellschaft, die das Christentum wirklich hinter sich gelassen hätte, gar nicht mehr über die Begriffe verfügen würde, die dem säkularen Denken zugrunde liegen.
     Der Säkularismus hat ebenso wie andere Ideen eine lange Vorgeschichte. Im vorchristlichen Europa zog man keine Trennlinie zwischen dem Profanen und dem Heiligen, ähnlich wie in anderen polytheistischen Kulturen. Die Welt selbst war heilig, und so war es undenkbar, Religion auf die Privatsphäre einzugrenzen; allein schon die Vorstellung von Religion als einer vom übrigen Leben abgetrennten Praxis war gar nicht vorhanden. Die Vorstellung einer vom Heiligen getrennten Sphäre kam erst auf, als Augustinus die Unterscheidung zwischen der "Stadt des Menschen" und der "Stadt Gottes" einführte. Das säkulare Denken ist somit ein Erbe des Christentums und ergibt nur im Kontext des Monotheismus überhaupt einen Sinn. In Ostasien existieren Polytheismus und mystische Philosophien Seite an Seite, ähnlich wie früher im vorchristlichen Europa; zu einem Zusammenstoß zwischen Wissenschaft und Religion, wie er die westlichen Gesellschaften polarisiert hat, ist es dort nie gekommen. Es ist kein Zufall, dass der Darwinismus in China oder Japan keinen Kulturkampf in Gang gesetzt hat.
     In der Form, wie seine derzeitigen Verfechter den Begriff Säkularismus verwenden, meint er weniger eine philosophische Weltsicht als eine politische Doktrin. Ein in diesem Sinne säkularer Staat verbannt die Religion aus dem öffentlichen Leben und stellt es den Menschen frei, zu glauben, was sie wollen. Diese Art des Säkularismus kann sich also mit religiösen Überzeugungen arrangieren, wird aber heutzutage vor allem von Rationalisten verfochten, die das Wiedererstarken der Religion in der Politik beklagen. Sie scheinen keine Erinnerung mehr an die politischen Religionen des 20. Jahrhunderts zu haben, und offenbar ist ihnen auch entgangen, dass in den USA, einem musterhaft säkularen Staat, Religion und Politik enger verflochten sind als in jedem anderen hoch entwickelten Land. Die Realitätsferne dieses Säkularismusmodells beruht auf einem Mangel an historischem Wissen. Manche fordern, dass die Religion aus der Politik ausgetrieben werden soll, und meinen, das sei durch eine strikte Abgrenzung öffentlicher Institutionen von traditionellen Religionen zu erreichen; weil aber die säkulare Gesinnung an religiöse Vorstellungen anknüpft, ist mit einer Unterdrückung der Religion nicht zu verhindern, dass diese das Denken und Handeln weiterhin bestimmt. Der Glaube bricht sich, ähnlich wie unterdrücktes sexuelles Verlangen, dennoch Bahn und beherrscht, in oft grotesken Gestalten, das Leben derer, die ihn von sich weisen.
     Es wäre beruhigend, wenn die Perversion der Politik durch unterdrückte religiöse Vorstellungen nur in totalitären Regimen vorkäme. In Demokratien sind aber sehr ähnliche Tendenzen auszumachen. In liberalen Staaten ist die Tendenz, die Gewalt, die man anderen antut, als moralisch hochstehend zu verklären, sogar stärker als in Diktaturen. Der französische Historiker Tzvetan Todorov ( *1939), der im stalinistischen Bulgarien aufwuchs und eine erhellende Studie über die nationalsozialistischen Konzentrationslager und den sowjetischen Archipel Gulag vorgelegt hat, beschreibt diese Tendenz im Zusammenhang der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki:

Atombomben haben weniger Menschen getötet als die Hungersnot in der Ukraine und weniger, als die Nationalsozialisten in der Ukraine und Polen abschlachteten. Die Bomben und die Massaker haben allerdings gemeinsam, dass die Täter sie jeweils als Mittel zur Erreichung eines höheren Ziels betrachteten. Die Bomben zeichnet aber darüber hinaus noch etwas anderes aus: Die Männer, die sie herstellten und abwarfen, waren stolz darauf, [?] wohingegen Verbrechen des Totalitarismus, selbst wenn die Täter sie für sinnvolle und sogar lobenswerte Akte hielten, verheimlicht wurden. [?] Die sowjetische wie auch die nationalsozialistische Führungsschicht wusste, dass die Welt sie verdammen würde, wenn die Welt im Einzelnen erführe, was sie getan hatten. Sie irrten sich nicht; tatsächlich wurden ihre Verbrechen, sobald sie ans Licht kamen, zu Wahrzeichen des absolut Bösen. Im Fall der Atombomben liegen die Dinge ganz anders. Eben deshalb ist, selbst wenn das Vergehen selbst weniger schwerwiegend war, die moralische Verfehlung der Menschen, die im Namen der Demokratie töteten, die größere.

In manchen Schlachten des Zweiten Weltkriegs kamen mehr Menschen um als in Hiroshima und Nagasaki; zum Beispiel starben bei den Brandbombenangriffen auf Tokio mehr Zivilisten als in den beiden Städten, auf die die Atombomben fielen. In liberalen Demokratien ist man nicht nur bereit zu Maßnahmen, die man als barbarisch verurteilen würde, wenn despotische Regime sie ergriffen, sondern preist sie zudem als heroische Akte. Vielleicht sind derartige Angriffe auf Zivilisten auch bis zu einem gewissen Grad damit zu rechtfertigen, dass sie den Krieg verkürzten und zur Zerschlagung verabscheuungswürdiger Regime beitrugen. Die Historiker sind sich indes uneinig, ob die Bombenabwürfe diese Effekte hatten, und so bleibt die Frage offen. Falls aber Angriffe dieser Art zu legitimieren sind, dann nur als entsetzliche Notwendigkeit und nicht als triumphierende Demonstration moralischer Überlegenheit.
     Man stellt den Liberalismus oft als eine skeptische Weltanschauung hin. Diese Charakterisierung wird aber dem missionarischen Eifer nicht gerecht, mit dem diese Gesinnung nicht selten verfochten wird. Der Liberalismus ist ein direkter Abkömmling des Christentums und hat dessen Militanz geerbt. Die Grausamkeit, mit der liberale Gesellschaften ihre Feinde oft behandelt haben, geht über die Notwendigkeit der Selbstverteidigung hinaus. Eine liberale Gesellschaft ist es durchaus wert, verteidigt zu werden, denn sie bietet zivilisierte Lebensverhältnisse, in denen rivalisierende Überzeugungen friedlich koexistieren können. Wenn sie aber in ein Regime mit einem missionarischen Auftrag umschlägt, gerät diese Errungenschaft in Gefahr. Sobald eine liberale Gesellschaft Krieg führt, um ihre Wertvorstellungen durchzusetzen, untergräbt sie die eigenen Fundamente. Dies geschah zum Beispiel, als man die Folter, deren Ächtung einer im 18. Jahrhundert einsetzenden Kampagne der Aufklärung zu verdanken ist, am Beginn des 21. Jahrhunderts als Waffe in einem in der Tradition der Aufklärung stehenden Kreuzzug für universelle Demokratie einsetzte. Wenn man die hart erkämpften Verhaltensregeln der Zivilisation zu wahren versucht, ist das natürlich weniger aufregend, als wenn man sie über Bord wirft, um hochfliegenden Träumen nachzujagen. Die Barbarei hat einen gewissen Reiz, vor allem wenn sie im Gewand der Tugend auftritt.


Die Unübersichtlichkeit der Welt: Die verlorene Tradition des Realismus

Um unser Vorgehen so zu gestalten, dass wir den schlimmsten Gefahren dieser Situation entgehen, werden wir beständig Mittel einsetzen müssen, die zur Beruhigung beitragen. Es wird nicht darum gehen, Schwierigkeiten in einem einzigen dramatischen Schritt aus dem Weg zu räumen, sondern darum, immer wieder neue Krisen zu bewältigen und sich neuen Schwierigkeiten zu stellen. Hedley Bull

In den letzten 20 Jahren haben westliche Regierungen, angeführt von den USA, sich bemüht, liberale Wertvorstellungen in die ganze Welt zu exportieren. Ihre Strategien zeichneten sich vor allem durch nebulöse Erhabenheit der Zielsetzungen aus. Die übergeordnete Intention war aber letztlich, dem Krieg und der Macht eine grundlegend andere Bedeutung zu verleihen, die darin gründen würde, dass alle Länder der Erde die Demokratie übernähmen. Der Versuch, das internationale System umzugestalten, hatte ähnliche Folgen wie frühere utopische Projekte. Das anhaltende Fiasko im Irak wurzelt in einer bestimmten Art zu denken, von der wir Abschied nehmen müssen.
     Wir brauchen ein neues Denken, das aber an eine alte Tradition anknüpfen muss. An die Stelle des Strebens nach utopischen Idealen muss das Bemühen treten, die realen Gegebenheiten zur Kenntnis zu nehmen. Wir dürfen indes nicht erwarten, dass wir in den Schriften früherer realistischer Denker Lösungen für alle Dilemmata finden, denen wir uns heute gegenübersehen. Ausgangspunkt des realistischen Denkens ist Machiavellis Einsicht, dass Regierungen ihre Ziele in einer Welt verfolgen müssen, in der es immer Interessengegensätze und Konflikte geben wird und die nie weit vom Kriegszustand entfernt ist. Dies trifft auch heute noch zu, obgleich das Italien der Renaissance weit in der Vergangenheit liegt; die Schlussfolgerungen, die aus Machiavellis grundlegender Erkenntnis zu ziehen sind, hängen von den jeweiligen historischen Umständen ab. Obgleich die realitätszentrierten politischen Theorien der jüngeren Vergangenheit durchaus auch schwerwiegende Schwachstellen aufweisen, können wir aus ihnen mehr über die Konflikte der Gegenwart lernen als aus den Ideen sämtlicher anderer Denkschulen.

Teil 3