Vom Nachttisch geräumt

Kampfzone Rederecht

Von Arno Widmann
11.05.2016. Niemand strahlt Besitzerstolz aus: Verena Brandt und Nadine Schmid besuchen für ihren Band "Dividendenbuffet" Aktionärsversammlungen.
Gegen Parallelgesellschaften wird viel gewettert, schon ihrer Entstehung sei energisch entgegenzutreten, heißt es. Die Wahrheit ist freilich: Alle Gesellschaften sind Gesellschaften von Parallelgesellschaften. Selbst die strengste Diktatur ist es nicht vollkommen. Die Fotografin Verena Brandt und die Schreiberin Nadine Schmid haben, so der Klappentext, "über ein Jahr lang an den Hauptversammlungen kleiner und großer deutscher Aktienunternehmen teilgenommen und sich unter die Besucherinnen gemischt." Der Mitteldeutsche Verlag hat uns das Vergnügen gemacht und daraus ein Buch gefertigt. Wenn ich mich nicht verzählt habe, waren die beiden Frauen auf den Hauptversammlungen von zwölf Unternehmen. Von Daimler über Beate Uhse bis zum Berliner Zoologischen Garten. Die Überschrift über dem Bericht über die Versammlung der zuletzt genannten Firma zeigt, dass es durchaus auch Parallelgesellschaften in der Parallelgesellschaft gibt: "Die Dividende ist eine geistige". Die Zoo-Aktie soll also kein Geld bringen. Sie dient vielmehr als Beleg dafür, dass der Eigentümer - meist wohl eine Eigentümerin - nicht nur seinem Zoo eng verbunden, sondern auch ein Relikt aus der Zeit der alten Frontstadt ist, ein Findling aus der seit einem Vierteljahrhundert abgeschmolzenen Epoche des Kalten Krieges. Man glaubt das - nachdem man es weiß - an den Fotos der Teilnehmer der Aktionärsversammlung ablesen zu können.

Auch der Beate-Uhse-Aktionär scheint sich von dem der Deutschen Bank gravierend zu unterscheiden. Das wird wohl so sein, aber wer glaubt, bei der Deutschen Bank gebe es nur Anzugträger, dem zeigt Verena Brandt, dass der Augenschein trügen mag, aber doch auch geeignet ist, so manches Vorurteil zu widerlegen. Herr Krockert und Frau Arndt zum Beispiel widerlegen das Klischee. Auch das Ehepaar Kemper sieht nicht aus, wie die Fantasie eines Aktienlosen sich einen Lufthansa-Aktionär vorstellt. Aber sie sehen aus wie zwei Rentner, die sich vorgenommen haben, diesen Globus zu inspizieren, bevor sie ihn verlassen werden.


Foto: Verena Brandt, aus dem besprochenen Band

Fast alle Fotos beziehen ihren Charme aus einer gewissen Ärmlichkeit. Das ist sicher das falsche Wort. Mir fällt im Augenblick kein passendes ein. Die meisten der porträtierten Personen stehen etwas verloren im Raum, manchmal an einem kleinen Tisch, manchmal an einer Wand. Sie haben ein Glas vor sich und eine Plastiktüte neben sich. Das sind "Geschenke", die die Firma ihren Aktionären macht. Was bei Douglas drin ist, kann man sich vorstellen. Bei Daimler und Volkswagen werden es wohl nur Prospekte und Zahlen sein. Niemand strahlt Besitzerstolz aus. Kaum jemand Freude.

Man betrachtet natürlich das Foto, auf dem Manfred Winterkorn, der Ex-Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG, noch in vollem Saft über der Aktionärsversammlung thront, jetzt, da jeder weiß, welche kriminellen Machenschaften in seinem Konzern er - mindestens - beschwiegen hatte, mit ganz andern Augen. Ich habe keinen Textbeitrag zur VW-Aktionärsversammlung gefunden, möchte aber jedem den über die der Deutschen Bank zur Lektüre empfehlen. "Kampfzone Rederecht" ist er überschrieben. Darum geht es: Die Bank will das Geld, aber keinesfalls soll ihr einer reinreden. Nie. Nicht einmal an diesem einzigen Tag im Jahr, am Tag der Aktionärsversammlung. Herr Kromer ist Aktionär. Vor dreizehn Jahren hat er einmal eine Rede gehalten, auf die er sehr stolz ist, er bringt sie Nadine Schmid. Kromer besucht jedes Jahr fünf Aktionärsversammlungen. Er komme, erklärt er der Autorin, nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Interesse. Woran, bleibt unklar. Wahrscheinlich weiß er es selbst nicht so recht.

Von der ersten bis zur letzten Seite läuft unten der Modell-Text einer Ansprache an die Aktionäre durch den Tagungsleiter. Darin heißt es unter anderem: "Ich appelliere bereits jetzt an alle Redner, ihre Ausführungen präzise und fokussiert vorzutragen." Genau das tut der Redner nicht. Ich bin sicher: Ebenso wenig, wie ich diese Rede ganz gelesen habe, so wenig folgten ihr die Aktionäre. Das ist wohl auch ihr Zweck. Sie dient als Schlafmittel. Das macht sie großartig. Leider ist nicht bei allen Versammlungen die Bestuhlung so gut für ein dezentes Nickerchen geeignet wie die der Urania, deren Hauptsaal die Aktiengesellschaft "Zoologischer Garten" gemietet hatte. Die Aktionäre der Lufthansa müssen mit weniger angenehm gepolstertem Gestühl vorliebnehmen. Verena Brandt und Nadine Schmid entführen uns in eine Welt, von der wir gerne wieder zurückkehren auf die Couch, auf der wir das Buch gelesen haben.

Verena Brandt, Nadine Schmid: Dividendenbuffet, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2016, 192 Seiten, 74 Farbfotos, 39,95 Euro.