Vom Nachttisch geräumt

Kein Gefühl ohne Anlass

Von Arno Widmann
04.04.2018. Sieht die Wirklichkeit als hageldichte Folge weiblicher Erscheinungen: Martin Walsers Roman "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte"
Martin Walser ist 91 Jahre alt. Er schreibt heute eher noch mehr als früher. Er schreibt noch freier, noch selbstverständlicher. Als er im Jahre 2004 von Suhrkamp zu Rowohlt wechselte, da gab es Stimmen, die meinten, von dem alten Mann sei eh nicht mehr viel zu erwarten. Denen hat er es gezeigt. Es erschienen die Tagebücher und die viel angefeindete "Angstblüte", das von den Feuilletons bejubelte Goethe-Buch "Ein liebender Mann", kein Jahr ohne nicht mindestens ein Walser-Buch. Stimmt das? Ich sehe nach: 2015 erschien, so Wikipedia, nichts Neues von ihm. Hätte ich mir Sorgen machen müssen? Wir nehmen die Existenz, die doch ein rarer Ausnahmefall ist, als das Selbstverständliche.

Martin Walsers neuestes Buch heißt "Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte". Darin schreibt ein alter Mann einer Geliebten, die er sich erfindet, weil er jemanden braucht, mit dem er sprechen kann über das, was ihn bewegt. Als ich vor vielen Jahrzehnten völlig hingerissen war von Anna Magnani in "Die menschliche Stimme" von Jean Cocteau, stellte mich meine damalige Freundin streng zur Rede, was mir einfiele, in öffentlichen Jubel über eine andere Frau auszubrechen, während sie danebenstand. Sie beschimpfte mich. Was hat ein Neunzigjähriger zu erwarten, der reden möchte über die jungen Frauen und ihre Brüste und wie sie ihn beeindrucken? Er muss sich eine Geliebte erfinden, die sich mit ihm begeistert und ihm hilft, sich hineinzusteigern in eine Lust, die ihm die reale Mitwelt nicht mehr zugestehen möchte.

Vielleicht sind alle Bücher so. Aber ich habe es erst bei diesem gemerkt: Bücher sind Mikroskope, durch die man auf ein fremdes Leben blickt. Ein Gewimmel von Hunderten von Menschen oder auch nur in die nicht weniger komplexen Verzweigungen einer einzigen Seele. Wenn wir durch ein Mikroskop schauen, fällt uns keine Sekunde ein, das, was wir dort sehen, moralisch zu beurteilen. Wir sind dabei, wie etwas geschieht. Wir sehen es uns an. Wir intervenieren nicht. Wir verteidigen nicht die Blattläuse gegen die Marienkäfer oder die Pflanzen gegen die von Blattläusen übertragenen Viruserkrankungen. Wir beobachten das. Punkt. Nichts anderes macht Walser in "Gar alles". Er legt den Köder aus, seinen Protagonisten, und wartet nun ab, ob wir uns empören oder ob wir die Chance nutzen, dass wir etwas beobachten können, das sich sonst nicht so zeigt: ein scheues Lebewesen in einem selten erreichten Stadium der Entpuppung.

Wer so auf den Helden schaut, der wird ihn nicht mehr nach den Maßstäben einer irgendwoher genommenen Moral beurteilen. Er wird auch wenig Lust haben, sich darüber zu unterhalten, wie angenehm Haupt- und Eigenschaftswort mit einander harmonieren. Mit anderen Worten: Das ist nicht die Stunde der Kritik. Das ist der Augenblick der Wahrnehmung. So etwas gibt es, denkt der Leser, und er freut sich über den Anblick von Justus Mall wie 1954 Bernhard Grzimek über sein erstes Okapi im Frankfurter Zoo.

Als Kind orientierte ich mich in neuen Städten - wir zogen oft um - an den Eisläden, später waren es Buchhandlungen und vor allem Antiquariate. Aber ich erinnere mich, dass ich als zwölfjähriger hinten in einer Frankfurter Straßenbahn stand, das war damals der zwar überdachte, aber ansonsten offene Vorraum der Bahn, und schöne Frauen zählte. So machte ich mir klar, wer schön war in meinen Augen. Mädchen meines Alters waren es nicht. Das hat sich kaum geändert in den vergangenen 60 Jahren. Ich sehe immer noch nach schönen Frauen, und es sind meist nicht die meines Alters. Justus Mall schreibt: "Die Wirklichkeit ist eine hageldichte Folge weiblicher Erscheinungen". Das ist, das weiß ich jetzt, der Satz eines alten Mannes. Damals vor sechzig Jahren sah ich höchstens ein halbes Dutzend schöner Frauen auf dem Weg vom Schwimmbad zur Schule. Heute sehe ich an jeder Straßenkreuzung ein Dutzend. Herr Mall verhält sich nicht wie der Fuchs, der die Trauben, die er nicht erreicht, madig macht. Er nimmt das Schöne an. In der Doppelbedeutung von "annehmen".

Die Literatur ist eine Möglichkeit uns anzunehmen, ohne es wirklich zu tun. Probehandeln, probefühlen, probelieben, probescheiden, probetöten. Die Literatur ist eine Möglichkeit, dem Kant'schen "handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde" zu entfliehen. Ich darf nicht nur, ich muss verantwortungslos sein. Sonst brauchte ich nämlich keine Literatur lesen oder gar machen, sondern könnte draußen im wirklichen Leben bleiben.

Justus Mall fühlt sich provoziert von den Frauen. Sie legen ihre Reize aus und er kann nicht anders, als darauf reagieren. Die Reaktionen, die in seinem Kopf stattfinden, betont er, sind keine Selbstläufer. Sie werden stets ausgelöst von etwas. "Es gibt kein Gefühl ohne Anlass. Ich erlebte das Gefühlserwachen immer, weil ich Blicke, Gesten, Sätze erlebt hatte. Das dann erlebte Gefühl war nie eine Erfindung von mir. Es war ein Feuer, das angezündet worden war. Ich brannte lichterloh. Und so gut wie immer erlebte ich dann: Die Brandstifterin hat es nicht so gemeint. Sie war schon wieder anderweitig beschäftigt." Das hat vielleicht dann doch auch mit der nachlassenden Reaktionsgeschwindigkeit zu tun. Und nicht nur damit, dass wenn die Blicke einander begegnen, der eigene inzwischen so verblasst ist, dass die Jugend ihn für bereits erloschen hält. Schauen wir uns Justus Mall an. So einen bekommen wir selten zu sehen.

Martin Walser: Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte, Rowohlt, Reinbek 2018, 107 Seiten, 18 Euro