Vom Nachttisch geräumt

Diese prachtvolle Zankapfelernte heuer

Von Arno Widmann
10.02.2020. Und die empörte Wade, gezückt bis an die Bewusstseinsschwelle. Gedichte von Adolf Endler
"Die Gedichte" heißt das Buch, in dem auf mehr als 870 Seiten die Gedichte von Adolf Endler (1930-2009) gedruckt und kommentiert werden. Endler wurde in Düsseldorf geboren, übersiedelte aber 1955, als er auf Grund seiner Aktivitäten in der Friedensbewegung wegen "Staatsgefährdung" angeklagt wurde, in die DDR. In Leipzig studierte er am Literaturinstitut Johannes R. Becher. 1976 protestierte er gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. 1979 wurde er aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Im selben Jahr erschien eine Auswahl seiner Gedichte unter dem Titel "Verwirrte klare Botschaften" im Rowohlt Verlag. Der Reclam Verlag Leipzig brachte 1981 allem Ärger zum Trotz die Endler-Anthologie: "Gedichte aus 25 Jahren" heraus.

Endler war eine der literarischen Größen der in den 80er Jahren auf dem Prenzlauer Berg entstehenden Underground-Literatur, einem Produkt - wie man inzwischen weiß - der Stasi. Wie weit einzelne Autoren jeweils involviert waren darin, ist noch lange nicht gründlich erforscht. Einer der wichtigsten Transmissionsriemen zwischen Partei und vorgeblichem Underground war Sascha Anderson, inzwischen Schwiegersohn von Martin Walser.

Aber zurück zu Adolf Endler. Ich möchte nur kurz auf zwei Gedichte hinweisen. "Scheherezade", ein sich über sechs Seiten erstreckendes Gedicht, beginnt so:

Als Scheherezade erwachte, blieb der König aus,
dem sie mit glitzernden Märchen tausendundeine Nacht lang
die blutigen Träume verscheucht, das blutige Handwerk gelegt:
jeden Morgen vordem hatte er schlachten lassen
die Gefährtin der Nacht,
Scheherezade aber bannte den Dolch und die seidene Schnur,
indem sie Märchen erzählte.
Als Scheherezade erwachte
an einem Tag im Beginn des heißen Juli,
blieb aber der König aus.
Hieß es: der König ist müde geworden
der Feen und Dämonen, der guten und bösen Frauen,
der listigen Männer,
die ihn lachen und weinen ließen?
Hieß das: Jetzt kommt das Messer
für Scheherezade?
Geräusche, Rufe
schwirrten in ihre Kammer
und Staub und Staub
von den menschenerfüllten Straßen
legte sich ihr auf den Mund
wie niemals vorher.
Da wusste sie's:
Auf der Straße erhob sich das Volk,
das hatte
Scheherezade mit Märchen nicht retten können
vor Ausbeutung, Schlägen und frühem Tod.
Als Scheherezade erwachte,
als sie hörte das Lied der Freiheit,
schob sie den Vorhang beiseite,
der sie verbarg,
und ging in das Volk,
woher ihre Märchen waren.
Sie war dabei,
als im schwarzen Rauch
der König und seine Henker verschwanden,
sie war dabei, als wirbelnder Wind die Aschen verwehten.

Ein ziemlich schreckliches Gedicht, in dem die Klischees einander sehr unbeholfen begrüßen. Dass die Märchen aus dem Volk kommen, ist eine Legende des 19. Jahrhunderts, die der sozialistische Realismus bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein verbreitete. Ich muss gestehen, ich dachte, es handelte sich um Verse aus der Schlussphase der DDR. Was nur zeigt, dass ich keine Ahnung von Adolf Endler habe. Denn als ich den am Ende des Bandes stehenden Kommentar konsultiere, steht da, das Gedicht stamme aus dem Jahre 1958 und reflektiere den Sturz der Monarchie in Ägypten und den Libanonkrieg.

Im Jahr 2000 veröffentlichte Endler in Sprache im technischen Zeitalter den Text: "Widerstand, Subversion, Dissidenz heute/ Zwölf Antworten auf zehn Fragen." Das liest sich so: "1. Die empörte Wade, gezückt bis an die Bewusstseinsschwelle. 2. Ganz schön verzettelt, unser hiesiges All! 3. Auch der diffuseste Greis hat mindestens noch zwei bis drei Pantoffeln auf der hohen Kante. 4. Auf zur Spinnrad-Ralley, knusperfrisch knarrend! 5. Und wenn man mir den Mund zuhalten will, dann sprießt es doppelfingrig aus meinen Ohren, jaja! 6. Dem öffentlichen Unterbewusstsein Paroli geboten! 7. Neulich war'n wir in Ulm, was diese Notizen wohl schwerlich legitimiert. 8. 'Tanze, tanze, verwackelte Wanze! Tanze, tanze, mein schlampertes Kind!' 9. Kommt Zeit, kommt Äquivalent. 10. Oh diese prachtvolle Zankapfelernte heuer!, der Wachtelhund leicht angeschrägt! 11. 'Unbehaglich der Gedanke, jemand könnte hier radieren.' (Aus einer Werbung für 'Schneider-Minen'.) 12. Kommt Zeit, kommt Packeis."

Ich zitiere und höre nicht auf damit, weil ich nicht weiß, was ich dazu sagen, ja, was ich davon halten soll. Das genau scheint mir das subversive Element darin. Auf Anspielungen stoße ich in fast jedem Satz. Ich weiß allerdings nicht, worauf. Ich finde die Formulierungen auch nicht so gelungen, dass sie mir allein genügen. Der Text tritt ja auf mit einer demonstrativen Unbeholfenheit. Während ich jetzt doch denke und schreibe, erinnert er mich an die "Genialen Dilettanten", die in den 80er Jahren fast die Kreuzberger Nächte beherrschten. Der bewusste Verzicht aufs Können. Aber wirkliche Kenner und Könner sehen das ganz anders. Karl Mickel schrieb 1962 ein Gedicht auf den Kollegen A.E., das mit der Strophe endet: "Im Sommer mit kleinen Steinen/ baut er im Sand und mit Holz/ -Treibgut - uns einen reinen/ Menschen Sehtwiestolz./ Der kann lachen und weinen/ Lasst auch uns nicht versteinen." Und Wolfgang Hilbig schrieb: "Jedes Mal, wenn man etwas von Dir liest, glaubt man, man müsse sich augenblicklich totlachen. Doch dann merkt man plötzlich, dass man schon tot war, und dass man sich wieder lebendig gelacht hat." Lässt sich über einen Menschen Schöneres sagen?

Adolf Endler: Die Gedichte, hrsg. von Robert Gillett und Astrid Köhler unter Mitarbeit von Brigitte Schreier-Endler, Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 894 Seiten, 39,00 Euro.