Vom Nachttisch geräumt

Generation Golf

Von Arno Widmann
17.07.2015. In den USA wird jede Besonderheit gerne berücksichtigt: Pferde der Welt - 550 Rasseporträts
Plötzlich so viel Überblick: alle Pferderassen der Welt. Es gibt auch Fotos in diesem Band. Aber die wahre Arbeit lag bei einem Zeichner, bei Yann Le Bris. Er ist seit 16 Jahren, so schreibt er auf seiner Website, Tierzeichner. Mich frappiert das. Hätte er mich damals, Ende des 20. Jahrhunderts gefragt, ob er Tierzeichner werden solle, ich hätte gelacht und ihm erklärt, er käme ein Jahrhundert zu spät. Wer wolle sich heute noch Zeichnungen anschauen, angesichts der Qualität unserer Fototechnik. Wie dumm ich bin. Yann Le Bris hat in Frankreich weit über ein Dutzend Tierbücher vorgelegt. Verwirrend ist übrigens der Titel des französischen Originals dieses Buches: "Tous les chevaux du monde. Près de 570 races décrites et illustrées."

Beginnt man das Buch lesen, klärt sich das Rätsel. Es gibt, schreibt die Autorin Elise Rousseau, über 540 Pferderassen auf der Welt. Zählt man Pferdeschläge dazu, kommt man auf 567 in diesem Buch vorgestellte Tiere. Das Buch erinnert auch an inzwischen ausgestorbene Rassen. Vor allem aber macht es klar: "Jede dieser 567 Pferderassen existiert nur, weil der Mensch es eines Tages so entschieden hat." Pferde sind - das hört sich merkwürdig an - Haustiere. Sie sind Produkte menschlicher Arbeit. Pferde wurden und werden gemacht wie Stühle. Man konstatiert einen Bedarf an Pferden mit bestimmten Eigenschaften und dann fängt man an zu züchten.


Yakoute. Gezeichnet von Yann Le Bris

Einige Rassen der Alten Welt sind uralt (etwa Araber, Achal-Tekkiner, Exmoor, Thessalisches Pferd), andere entstanden erst in neuerer Zeit (zum Beispiel Haflinger, Vollblut, Quarter Horse), wieder andere erst in jüngster Zeit, oder sie befinden sich sogar noch in der Entwicklung (American Cream Draft, Aegidienberger, Anglo-Karbadiner). Es gibt auch Pferderassen, die sich wieder emanzipiert haben von ihrem menschlichen Schöpfer. Der nennt sie "verwildert". Das Pferd soll erst etwa 4000 vor u.Z. domestiziert worden sein, da hatte die Menschheit sich bereits seit 8000 Jahren aus dem Wolf einen Hund gezüchtet. Das Rind war schon seit 8000 vor u.Z. zum "Haustier" geworden. Sechstausend Jahre lang war das Pferd ein viel besungener Begleiter des Menschen. Es wurde oft mit seinem Reiter beerdigt. Der wollte offenbar im Jenseits nicht auf seine Dienste verzichten. Mit dem Motor und mit dem Automobil ist dieses Zeitalter zu Ende gegangen. Das Pferd ist ein Luxusgegenstand geworden.

Ich weiß jemanden, der gerade an einem Buch sitzt, das ein Nachruf auf die equestrische Epoche der Menschheitsgeschichte sein wird. Das Buch von Rousseau und Le Bris verbreitet solche nostalgischen Gefühle nicht. Es ist ein bunter Katalog des Weltbestandes. Man erfährt zum Beispiel, dass in der Mongolei auf jeden Einwohner ein Pferd kommt. Das ist die größte Pferdedichte der Welt. Das verblüfft niemanden, der schon in seiner Kindheit von Dschingis Khan und dessen Reiterheeren las. Überraschend ist dann aber doch, dass die Pferdedichte dort noch zunimmt. Derzeit wird an einem Neuen Mongolischen Pferd gearbeitet, einer Kreuzung des mongolischen Ponys, der wahrscheinlich ältesten Pferderasse der Welt, mit Arabern oder Achal-Tekkinern. Elise Rousseau schreibt: "Geschäftsleute versuchen, diese Rasse für Wettrennen zu entwickeln, sie ist jedoch noch recht selten. Man findet solche gekreuzten Pferde rund um Ulan Bator."


Isländer. Gezeichnet von Yann Le Bris

Wer in "Pferde der Welt" liest, erfährt einiges über den Menschen. Der Aegidienberger zum Beispiel ist ein deutsches Produkt der 70er Jahre, Generation Golf also. Über ihn heißt es: "Diese vielseitigen Reitpferde sind für junge Reiter ebenso geeignet wie für Erwachsene. Sie sind gute Familien- und Wanderreitpferde, eignen sich aber auch als Gespannpferde." Auch die Pferdezucht ist ein Produkt des Zeitgeists. Kenner werden einem Pferd ansehen, aus welcher Epoche es stammt. Der Anglo-Karbadiner entstand in den zwanziger Jahren in Russland, im Kaukasus. Ein Produkt der Revolution. Er ist die geglückte Kombination von Kabardiner und Vollblut. Nicht so robust wie der Kabardiner, aber wendiger und genauso kälteunempfindlich wie er. Die Züchtung des Neuen Menschen ist der Sowjetunion nicht geglückt. Vom Anglo-Kabardiner dagegen heißt es in dem Buch: "Die Rasse steht gut da."

Vielleicht kennt einer der Leser eine Geschichte der sowjetischen Zuchtversuche und ihrer Ergebnisse. Man sollte sie nicht vergessen, wenn man über die Geschichte der Sowjetunion und ihre Weltumwälzungsbemühungen schreibt, die ja auch die Schaffung eines neuen Menschen anstrebten. In seiner Ausstellung "Traumfabrik Kommunismus" ließ Boris Groys, der doch darüber sicher höchst beredt sprechen könnte, diese Seite der Verwirklichung der Utopie leider weg. Wer von der Sowjetunion hinüber blättert zu den nordamerikanischen Pferden, der erinnert sich an Einwanderer- und Multi-Kulti-Debatten: "Nordamerika verblüfft durch eine große Anzahl sehr charakteristischer Rassen, die nach ihrem guten Charakter, aber auch nach ihrem Exterieur und charakteristischen Fähigkeiten selektiert werden. Dabei wird dort jede Besonderheit gerne berücksichtigt, beispielsweise Fellfarben oder spezielle Gangarten. Während die Pferde Europas einer militärischen Tradition entstammen - ohne unterbrochenen Passgang oder spezielle Fellfarben - kultiviert Nordamerika bevorzugt Pferde mit besonderen Eigenschaften."

Rousseau, Elise / Le Bris, Yann (Illustration): Pferde der Welt - 550 Rasseporträts, Haupt Verlag, Bern 2014, Übersetzung Christa Trautner-Suder, 544 Seiten, rund 650 farbige Zeichnungen, ca. 50 Farbfotos, 59,90 Euro.