Vom Nachttisch geräumt

Vom Verkaufen der Schaufeln

Von Arno Widmann
17.03.2016. Wahr oder erfunden? Dick aufgetragen. Aber doch möglich? Die Tools Toy Gang hat auch was zu sagen zu Elke Heidenreichs kurzen Geschichten in "Alles kein Zufall".
Dieses Motto!?! "Wenn eine Leidenschaft nachzulassen beginnt, ist es wichtig, sich sofort eine andere zu schaffen, denn die ganze Kunst, das Leben erträglich zu machen, besteht darin, sich an allem ein Interesse zu bewahren." Was ist damit gemeint? Nach dem "denn" steht doch das Gegenteil von dem, was davor steht. Vor dem "denn" steht "eine andere suchen", danach steht "bewahren". Wahrscheinlich meint die wegen ihrer Formulierungskunst immer gepriesene, bewunderte, ja geliebte Autorin, es ginge darum, sich die Leidenschaft zu bewahren, dafür müsste man ihr Objekt wechseln. Aber das steht da nicht.

Vielleicht ist es kein Fehler Susan Sontags. Vielleicht ist es einer der Übersetzung. Aber warum hat Elke Heidenreich dieses Satzgefüge als Motto genommen. Geht es um eine der beiden Aussagen, geht es um eine dritte oder geht es um die Verwirrung der Gefühle? Ich jedenfalls hatte das Buch erst einmal bei Seite gelegt. Traurig, denn ich hatte mich darauf gefreut. Ich mag Elke Heidenreich. Sie ist klug, belesener als die meisten Literaturkritiker, die ich kenne, und sie weiß, dass beim Lesen - mehr noch als im Leben - alles darauf ankommt, einen eigenen Kompass zu haben. Und den Moment zu erkennen, an dem es unbedingt erforderlich ist, ihn wegzuwerfen und den der Autorin, des Autors zu übernehmen.

Nach einer Woche habe ich dann wieder nach "Alles kein Zufall" gegriffen. Diesmal fing ich nicht am Anfang an, sondern mitten drin. Ich las darin wie in einem Brevier. Am Tag nicht mehr als 20 Seiten und auch die nicht am Stück, sondern mal etwas Kurzes, mal etwas Längeres. Ich habe noch nicht alles gelesen. Ich weiß also nicht, ob ich das Buch nicht völlig falsch lese und mir der Reiz einer ausgefeilten Komposition entgeht. Aber das Schöne an Büchern ist: Ihr Kunde ist immer König. Ich lasse mir Zeit, weil ich "Alles kein Zufall" nicht "ausgelesen" haben möchte. Es sind kleine Geschichten aus dem Leben der Erzählerin, der Autorin, knappe Betrachtungen über die Weltläufe und das Leben der Freunde, über Redensarten, die Elke Heidenreich aufgeschnappt, Beobachtungen, die sie gemacht hat. Oder hat sie sie erfunden und schiebt sie anderen in den doch weniger begabten Mund? Ganz großartig ist dieses Fundstück, das mir mit einem Schlag meine Lebensuntüchtigkeit vor Augen führt: "Ein Börsenspezialist sagt im Fernsehen: 'Nicht mit dem Graben nach Gold, mit dem Verkaufen der Schaufeln macht man das Geld!'"

Hat es den schönen - "ein gut gealterter Tadzio" - Leon wirklich gegeben? Hat er, als er sich als Straßenmusikant in Südfrankreich mit Gounods "Ave Maria" durchschlug, tatsächlich die Bekanntschaft des Enkels des Komponisten gemacht? War der wirklich Chef der Bank von Marseille? Und hat der ihm dann sein Kleingeld in Scheine umgetauscht, was keine andere Bank tun wollte? Das ist alles sehr konstruiert und folgt der Logik des Titels des Bandes "Alles kein Zufall" aufs Wort genau. So sehr, dass ich dazu neige, die Geschichte zu glauben. So unangenehm mir der Tadzio-Vergleich auch ist. Aber der letzte Satz, der ist dann einfach zu stimmig: "Er fuhr nach Marseille, ließ sich beim Direktor der Bank melden und ging mit ihm essen, während fünf Angestellte seine 1500 Franc in Münzen zählten und ihm in Scheine umtauschten."

Das ist doch einfach zu dick aufgetragen. Fünf Angestellte! Einer könnte das schaffen, da hätten der Bankier und sein Musikant noch nicht einmal die Pausenbrote ausgepackt, geschweige denn ein Restaurant erreicht. Man sieht Elke Heidenreich mächtig mit den Wimpern klimpern. Sie blinzelt dem Leser mit Zaunpfählen zu. Er schlägt nach bei Google und siehe da: Es gibt keine Bank von Marseille. Vielleicht gab es sie einmal? Wie also verhält es sich mit Charles Gounod? Er lebte von 1818 - 1893. Am 20. April 1852 heiratete er die Anna Zimmermann, die Tochter eines Klavierlehrers. Im selben Jahr entstand auch das "Ave Maria", durch das der schöne Leon in Elke Heidenreichs Geschichte den Enkel Gounods kennenlernte. Das Paar hatte zwei Kinder, einen Jean (1856 - 1932) und eine Jeanne (1863 - 1945). Das mit dem Gounod-Enkel - der zu Franc-Zeiten vielleicht ja nur Chef einer Bankfiliale in Marseille war - wird knapp, aber unmöglich ist es nicht. Sagen wir, er wäre spätestens 1900 geboren. Leon müsste ihn vor 1965 getroffen haben. Da war Elke Heidenreich 22. Möglich wäre es also. Ich habe die Gelegenheit genutzt und mir den seltenen Fall eines lustigen Trauermarsches angehört: "Marche funèbre d'une marionnette" von Charles Gounod. "Alles kein Zufall"!



Elke Heidenreich: Alles kein Zufall - Kurze Geschichten, Hanser Verlag, München 2016, 238 Seiten, 19,90 Euro.