Vom Nachttisch geräumt

Dasselbe und doch ganz anders

Von Arno Widmann
11.05.2016. Man kann so schön abschweifen mit Diana Lindners Bilderbogen von Deutschland im Jahr 1900.
Deutsche Städte, farbige Postkarten aus den Jahren um 1900, die Gebäude und Straßenszenen zeigen. Kein Auto zu sehen. Nur Pferde, Pferdedroschken und Pferdeomnibusse. Man blättert in dem Buch und vertieft sich in Ansichten, die man kennt und die man doch nicht kennt. Manchmal freilich hilft einem das Gedächtnis und man weiß: Der Frankfurter Römer sieht nur noch so aus wie auf dem mehr als einhundert Jahre alten Foto, weil man sich beim Wiederaufbau nach 1945 so sehr darum bemüht hatte, wenigstens ein paar Häuserfronten des alten Stadtzentrum exakt so wieder aufzubauen, wie es gewesen war. Die völlige Vernichtung sollte so schnell wie möglich vergessen gemacht werden. Wer nach dem Krieg aufwuchs, konnte denken, sich zwischen mittelalterlichen Häusern zu bewegen. Das Gleiche lässt sich zum Beispiel von Nürnberg sagen. Hier war fast alles zerbombt. Kaum ein Stein ist noch ein alter Stein, und doch sieht die heutige Wirklichkeit den alten Fotos so ähnlich. Kein Wunder: Die wurde ja nach diesen gebaut.

Aber es gibt natürlich auch deutliche Veränderungen. Zum Beispiel der Blick auf den zwischen grünen Bäumen liegenden Reichstag mit der Siegessäule vor ihm. Die Siegessäule wurde inzwischen weit weggerückt und die Bäume sind schon lange gefällt. Gibt es Fotos oder gar einen Film von dem Umzug der 67 Meter hohen Säule? Nach einer Weile wendet sich der Betrachter des Buches dann weg von der Architektur hin zu den in ihr sich bewegenden Menschen. Zum Beispiel die am Strand von Ahlbeck. Man fragt sich, ob damals die Männer wirklich hellrote Jacketts und gelbe Hüte an- und aufhatten oder ob sich ein Fotogehilfe die Welt schön bunt kolorierte. Er wird das, denke ich, nicht zum eigenen Vergnügen getan haben, sondern weil die Kundschaft es so wollte. Vielleicht aber mochte die, dass es so aussah wie in Wirklichkeit. Die Herrenmode wäre dann deutlich eintöniger geworden. Sie changiert ja inzwischen weitgehend nur noch zwischen Schwarz und Grau.


Café Bauer, Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße, um 1900

Bei einigen Fotos fällt einem auf, dass sie gestellt wurden. Der Herr, der da lässig die Friedrichstraße überquert, hätte das wohl nicht getan, wenn er sich wirklich zwischen Droschke und Pferd hätte bewegen müssen. Wahrscheinlich waren die Belichtungszeiten viel zu groß, um wirkliche Schnappschüsse zu ermöglichen. Man wollte sie aber trotzdem haben, und darum tat man so als ob. Es steckt in diesen Aufnahmen also noch mehr Kunst, als man beim ersten Blick denkt.

Im Hintergrund sieht man auf diesem Foto links das Café Bauer. Das Haus ist zerstört. An seiner Stelle steht heute der Lindencorso, mit dem VW-Pavillon. Über das Café Bauer klärt Wikipedia mich auf: Das 1877 eröffnete Haus war das erste im Stil eines Wiener Caféhauses errichtete Etablissement in Berlin. 800 Tageszeitungen lagen dort aus! Seit 1884 war es mit elektrischem Licht ausgestattet, ebenfalls als erstes Haus am Platze. Schon 1882 hatte der berühmteste Berliner Maler der Zeit Anton von Werner das Haus mit Wandgemälden ausgestattet. Bilder aus dem römischen Leben. Vielleicht hätte der verstorbene Westerwelle angesichts dieser Bilder den Ort der "spätrömischen Dekadenz" nicht bei den Hartz IV-Empfängern, sondern mehr in den oberen Schichten der Gesellschaft ausgemacht.

Das an der Frankfurter Hauptwache gelegene Café Bauer hatte nichts mit dem Berliner Café zu tun. Dort hatte Hans Thoma Wandgemälde beigesteuert. Das Café Bauer an der Frankfurter Universität, eines der Zentren der Studentenbewegung von 1968, wurde von allen frequentiert, die in der Nachkriegszeit bis 2010 an der Universität zu tun hatten. Es hat mit den anderen Café Bauers auch nichts zu tun. Ich schweife ab. Auch das kann zu den Schönheiten eines Buches gehören.

Diana Lindner, Deutschland 1900 - Ein historischer Bilderbogen, Palm Verlag, Berlin 2015, 208 Seiten, ca. farbige 500 Abbildungen, 19,95 Euro.