9punkt - Die Debattenrundschau

Privatstrand, Moschee, zwei Schiffsanleger

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.07.2021. Der fatale Einfluss der Kirchen auf Politik wird heute doppelt thematisiert: Auf Zeit online erklärt der georgische Politikwissenschaftler Bidzina Lebanidze, wie die orthodoxe Kirche in seinem Land den Hass auf Schwule instrumentalisiert. Bei hpd.de erklärt der Aktivist Benno Büeler, wie die Kirchen sexuelle Aufklärung und Bildung für Frauen verhindern. Friederike Böge erzählt in der FAZ, wie die chinesische #MeToo-Aktivistin Zhou Xiaoxuan mundtot gemacht wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.07.2021 finden Sie hier

Europa

Im Interview mit Zeit online erklärt der georgische Politikwissenschaftler Bidzina Lebanidze, wie es um die Demokratie in Georgien steht, wo seit dem Wochenende tausende Demonstranten den Rücktritt der Regierung forderten. Auslöser war eine Pride-Parade in Tbilissi, bei der rechte Demonstranten zahlreiche Menschen zum Teil schwer verletzten. Ein Kameramann wurde getötet. Die Gesellschaft des Landes, das zu 80 Prozent orthodox ist, sei so stark gespalten, wie höchstens noch die USA, sagt Lebanidze. Auch die Kirche trägt ihren Teil dazu bei: "Die Kirche ist in Georgien die einflussreichste und populärste Institution, noch vor dem Staat. Insofern hat das einen großen Einfluss auf die Politik, weil Politikerinnen und Politiker für einen Wahlerfolg darauf angewiesen sind, auch den konservativeren Teil der Bevölkerung zu erreichen. Und die Kirche vertritt natürlich radikale Positionen, nicht nur agiert sie gegen LGBTQ-Rechte, sondern auch gegen Antidiskriminierung im weiteren Sinne, eine liberalere Drogenpolitik und so weiter. Dazu kommt, dass Teile der Priesterschaft seit einigen Jahren radikale, antiwestliche Positionen vertreten und diese in die Gesellschaft tragen." Die überwältigende Mehrheit der Georgier sei allerdings pro-europäisch.

Bülent Mumay fasst in seiner FAZ-Kolumne nochmal die Ereignisse seit den Protesten im Gezi-Park vor acht Jahren zusammen: Kurz gesagt wurde vor drei Jahren das Präsidialsystem eingerichtet, die parlamentarische Demokratie abgeschafft, die Inflation liegt bei 20 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 42 Prozent. Erdogan und seine Frau raten zu Sparsamkeit: Aber "in Zeiten, da die First Lady empfiehlt, Schmalhans in der Küche walten zu lassen, und Erdogan aufruft, den Gürtel enger zu schnallen, verraten an die Presse durchgesickerte Aufnahmen, wohin die uns vorenthaltenen Gelder geflossen sind. Auf Fotos ist die Sommerresidenz mit 300 Zimmern, die Erdogan für 63 Millionen Euro an der Ägäis errichten ließ, in voller Pracht zu sehen. Da sieht man, welche Rechnung das zum Sparen genötigte Volk bezahlt. Was hat der Sommerpalast nicht alles zu bieten: Privatstrand, Moschee, zwei Schiffsanleger, Hubschrauberlandeplatz, etliche Wohnkomplexe für Bedienstete."
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Kulturpolitik

In einem FAZ-Text, der sich liest wie ein Rechtsgutachten, beschwert sich der Rechtsanwalt Hans-Jürgen Hellwig gegen die Handhabung der Rückgabe von geraubter Kunst oder anderen Besitztümern an jüdische Vorbesitzer oder ihre Nachfahren. Diese Praxis sei immer restitutionsfreundlicher gestaltet worden: "Darin liegt ein Verstoß gegen das vom Bundesverfassungsgericht aus dem Demokratieprinzip und dem Vorbehalt des Gesetzes nach Art. 20 Grundgesetz (GG) abgeleitete Wesentlichkeitsprinzip, wonach wesentliche Regelungen zwingend vom Gesetzgeber erlassen werden müssen. Dieses Prinzip war der Grund, weshalb der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth öffentlich darauf hingewiesen hat, die wesentlichen Entscheidungen in der Corona-Epidemie müssten vom Bundestag und nicht der Bundesregierung getroffen werden. Genau darum geht es auch hier."
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Gesellschaft

Eigentlich sagen die Klimaaktivistinnen Christiana Figueres und Luisa Neubauer in ihrem FAZ-Feuilletonaufmacher, in dem sie das Ende des Verbrennungsmotors fordern, nichts Neues, bemerkenswert ist nur, dass sie dafür eben diesen Aufmacher bekommen. In einem Absatz machen sie deutlich, dass es um mehr geht als Autos: "Ein wichtiger Teil dieses Wandels besteht darin, sich von Ideen zu verabschieden, die einst den Fortschritt der Menschheit voranzutreiben schienen, sich jedoch zu einem großen Problem entwickelt haben. Der Verbrennungsmotor ist eine dieser Ideen, von denen wir uns verabschieden müssen."

Wer die Umweltprobleme der Welt beheben will, muss das Bevölkerungswachstum eindämmen - und das geht nur, indem Mädchen und Frauen wesentlich mehr Rechte und Bildung gegeben werden, schreibt der Schweizer Aktivist Benno Büeler bei hpd.de. Die Hälfte der Schwangerschaften bei afrikanischen Mädchen sei ungewollt, nur in vier afrikanischen Ländern gebe es ein liberales Abtreibungsrecht. "Zu groß ist die Angst vor dem Vorwurf des Neokolonialismus, zu groß der Einfluss der Kirchen... Als weitere Ausrede für das Nichtstun wird auch gerne auf erzwungene Verhütungsmaßnahmen in Indien oder China verwiesen. Tatsächlich aber geht es in Afrika darum, dass Frauen endlich selbstbestimmt über Verhütung und Schwangerschaft entscheiden können. Heute werden viele Mädchen und Frauen daran gehindert, so dass sie gezwungen werden, ungewollte Schwangerschaften mit allen daraus folgenden Konsequenzen zu ertragen. Die Selbstbestimmung über den Körper ist ein grundlegendes Menschenrecht."
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Ideen

Corona hat einen Trend zum Rückzug ins private Schneckenhaus sichtbar gemacht, der schon vor dem Virus existierte. Klimawandel war ein weiterer Grund dafür, meint in der NZZ Pascal Bruckner, der keine neuen wilden zwanziger Jahre auf uns zukommen sieht. "In der Post-Covid-19-Ära könnte die Verlockung zunehmen, der Welt den Rücken zu kehren und sich ins Kleine zurückzuziehen. Wollte man diesem stärker werdenden Trend einen Namen geben, könnte man von wachsender Engstirnigkeit reden: Im Namen nobler Ziele sollen wir zu modernen Höhlenbewohnern werden. Vielleicht wird die Pandemie so zuletzt einem neuen Menschenschlag zum Durchbruch verholfen haben: einem auf sich selber reduzierten und zugleich hypervernetzten Typus, der aber weder die anderen noch die Realität wirklich braucht."

Außerdem: Ebenfalls in der NZZ gratuliert Sarah Pines Julia Kristeva zum Achtzigsten.
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Politik

Der chinesischen #MeToo-Aktivistin Zhou Xiaoxuan sind die Social-Media-Kanäle, und damit ihr wichtigstes Ausdrucksmittel geschlossen worden, berichtet Friederike Böge, die Peking-Korrespondentin der FAZ. Zhou hat das Thema als erste in China auf die Agenda gesetzt, so Böge, die mit Zhou gesprochen hat: "Die #MeToo-Bewegung habe bewirkt, dass viel mehr Frauen in China als früher den Mut fassten, über ihre Erfahrungen zu sprechen und sich an die Polizei zu wenden. Allerdings gebe es noch immer große strukturelle Widerstände gegen eine Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt. Zhou selbst hat oft erlebt, dass Interviews, die sie chinesischen Medien gab, nicht erscheinen durften oder von der Zensur gelöscht wurden. Als Erfolg der Bewegung gilt hingegen, dass Chinas neues Zivilgesetzbuch erstmals eine klare Definition von 'sexueller Belästigung' enthält."
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Medien

Nick Cohen erzählte neulich bei thecritic.co.uk , warum er Catherine Beltons Buch "Putin's People" nicht bespricht - weil russische Oligarchen das britische Rechtssystem für "SLAPP-Klagen" ausnutzen und Medien mit kostspieligen Prozessen überziehen, um sie einzuschüchtern (unser Resümee). Für die Länder der EU hat Christian Rath in der taz jetzt gute Nachrichten: "Die EU will rechtsmissbräuchliche Klagen gegen Journalist:innen und NGOs verhindern. Die Justiz soll nicht zur Einschüchterung von Medien und Zivilgesellschaft missbraucht werden. Die EU-Kommission hat entsprechende Vorschläge angekündigt. Das Europäische Parlament drängt. Es geht gegen sogenannte Slapp-Klagen. 'Slapp' steht für Strategic Lawsuits Against Public Participation (Strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung). Und natürlich soll die Abkürzung an das englische Wort 'slap' für Ohrfeige erinnern."

Frankreich hat Google zu einer Strafe von 500 Millionen  Euro verdonnert, weil der Konzern sich nicht so in die europäische Urheberrechtsreform fügt, wie die französische Regierung und die Medien wünschen, berichtet Reuters. Interessengruppen, zu denen etwa Le Monde und der Figaro zählen und Medien wie AFP "beschuldigen den Technologiekonzern, es versäumt zu haben, in gutem Glauben Gespräche mit ihnen zu führen, um eine gemeinsame Basis für die Vergütung von Nachrichteninhalten im Internet zu finden, gemäß einer kürzlich erlassenen Richtlinie der Europäischen Union, die sogenannte 'Leistungsschutzrechte' schafft. Der Fall selbst konzentrierte sich darauf, ob Google gegen eine einstweilige Verfügung der Kartellbehörde verstoßen hat, die verlangt, dass solche Gespräche innerhalb von drei Monaten mit allen Nachrichtenverlagen, die darum bitten, stattfinden."
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Geschichte

Die Versöhnung zwischen Deutschen und den Nachfahren der von Deutschen umgebrachten Herero und Nama ist durch die jüngsten Verpflichtungen der Deutschen längst nicht abgeschlossen, schreibt der in Pretoria lehrende Politologe Henning Melber bei geschichtedergegenwart.ch. Dabei erzeugen die Kolonialverbrechen einen bleibenden Schmerz: "Jenseits der irreversiblen demografischen Folgen für die Betroffenen der Massenvernichtung manifestiert sich diese Geschichte vielmehr fortwährend in der vom Siedlerkolonialismus geschaffenen sozio-ökonomischen Ungleichheit. Nicht zuletzt die Verteilung des damals geraubten Landes, das immer noch ganz überwiegend im Besitz von weißen und insbesondere deutschsprachigen Farmern ist, bleibt eine tägliche Erinnerung."

Wladimir Putin ist ein Geschichtspolitiker. Neulich hat ihm Zeit online seine Seiten für seine Fabrikationen zur Verfügung gestellt (unser Resümee), nun setzt er seine Bemühungen fort, berichtet Friedrich Schmidt, der Moskau-Korrespondent der FAZ: "Das neueste Werk Putins trägt die Überschrift 'Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer'. Er hatte den Artikel Ende Juni im 'Direkten Draht' angekündigt, einer einmal im Jahr stattfindenden Sendung des Staatsfernsehens mit Fragen aus der Bevölkerung an den Präsidenten. Da hatte Putin gesagt, was er seit seiner Rede zur Annexion der Krim im März 2014 unzählige Male wiederholt hat: Russen und Ukrainer seien ein Volk. In dem am Montagabend auf der Website des Kremls veröffentlichten Text holt Putin nun weit in die Vergangenheit aus, um diesen Satz zu begründen." Hier die englische Version auf der Website des Kreml.
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