Tagtigall

Aus dem Wortkontinuum

Die Lyrikkolumne im Perlentaucher. Von Marie Luise Knott
26.08.2014. In jedem Gedicht die ganze Welt. Ein paar Ausschnitte aus den Frühjahrsgedichten 2014. Zusammengestellt
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Wenn es stimmt, dass jedes Wort nur ein kleiner Ausschnitt eines riesigen, fortlaufenden Text- und Weltkontinuums ist und dass wir unsererseits das Kontinuum sowieso nur im Ausschnitt des einzelnen Wortes und Gedichtes erleben, variieren und für wahr nehmen können, für den Fall also, dass das alles vielleicht stimmt, weil wir in jeder Scherbe Teil haben am ganzen zerbrochenen Gefäß, wenn dem also so sein sollte, dann lauschen wir der Poesie auch immer neu aus diesem Grunde. Im folgenden ein paar Ausschnitte aus dem Frühjahr 2014.

Karin Kiwus
"So oder so

Schön
geduldig
miteinander
langsam alt
und verrückt werden

andrerseits

allein
geht es natürlich
viel schneller."

aus Karin Kiwus, Das Gesicht der Welt, Verlag Schöffling & Co, Frankfurt 2014. Karin Kiwus erhielt in diesem Frühjahr den Wiesbadener Lyrikpreis "Orphil"


Lütfiye Güzel
"untermieter

wenn ein eindruck
in den körper
wandert
& sich nicht auflöst
nach einiger zeit
schraubt er sich
in die hinterkammer
& richtet sich dort
für immer ein"

aus Lütfiye Güzel, Trist Olé. Gedichte, Verlag Dialog Edition, Duisburg 2013.


Andrea Zanzotto
"London wärts

Sie stieben stieben
im Regen -
und wir entfernten uns immer mehr
im Regen
Schnee Regen
aber mit zahllosen Lichtern
aller unteren und inneren und un
welche Mühsal - sie musste
ich konnte nicht
immer entfernter aber
wie mit dem Gefühl einer Verfolgung Verkehrung
die uns immer weiter
immer mehr entfernte
auch wenn deine winzigkleine Flocke
Schnee, nicht der Regen die Ursache war -
dann auch der Postbus am Grunde
dann auch der Dorfplatz, der runde
leer und leer und zugrunde."

aus Andrea Zanzotto, Dorfspiel, Folio Verlag, Solothurn 2014. Übersetzer: Donatella Capaldi, Maria Fehringer, Ludwig Paulmichl, Peter Waterhouse. Motto des Bandes aus Goethes Faust: "Und schnell und unbegreiflich schnelle /Dreht sich umher der Erde Pracht".


Silke Scheuermann
"Brief zur Kirschblütenzeit

I
Im Flugzeug, schlaflos,
erinnere ich mich an all die Versprechen,

die ich dir gegeben habe,
damals, als wir

mit dem Altwerden erst anfingen.
Ich würde für dich Rosenkranz um Rosenkranz beten,

war so eins, ein andres, dass ich dir, wenn du verreist bist
treu wäre wie eine Nonne.

(Du weißt schon: Damals war ich
sehr katholisch und meistens daheim.)

Ich würde für dich die
Münzen aus den Augen der Toten stehlen,

sagte ich auch. Der Satz war dir am liebsten.
Ich sehe dein ruhiges

Gesicht vor mir und denke, ach, diese schmerzhafte
Ähnlichkeit zwischen dir und der Sehnsucht.

All das Gebrüll von der Liebe,
Geflüster im Wind.

Um mich herum träumen andere Passagiere
Ihren sparsamen Zweite-Klasse-Traum.

Manchmal ist spannend, was darin geschieht. Aber davon
Müssen sie selber berichten,

darf ich nicht erzählen,
fremder Traum ist Tabu."

aus Silke Scheurmann, Skizze vom Gras, Verlag Schöffling & Co, Frankfurt 2014. Silke Scheuermann erhielt den Hölty-Preis für Lyrik 2014.


Fernando Pessoa

"Es gibt Krankheiten, schlimmer als jede Krankheit
Es gibt Schmerzen, die nicht schmerzen, selbst in der Seele nicht,
Und doch schmerzhafter sind als alle anderen.
Es gibt geträumte Ängste, die wirklicher sind
Als die Ängste, die das Leben mit sich bringt, es gibt Empfindungen,
Empfunden einzig in der Vorstellung
Und doch uns eigener als unser Leben.
Es gibt so vieles, das, ohne zu existieren,
Existiert, dauerhaft existiert,
Und dauerhaft unser ist, wir selbst ...
Über dem trüben Grün des uferlosen Flusses,
Die weißen Zirkumflexe der Möwen ...
Über der Seele das unnütze Flattern
Dessen, was nie war noch sein kann, und alles ist.

Gib mehr Wein mir, denn das Leben ist nichts."

aus Fernando Pessoa, Er Selbst. Poesia Poesie, aus dem Portugiesischen von Inés Koebel, Frankfurt 2014. Das Gedicht ist datiert auf zwei Wochen vor seinem Tod.


Margret Kreidl
"Pfirsischgefühl

Ich bin ein Pfirsisch, ein Pfirsisch, ein Pfirsisch!
Wie ich schmecke, weiß ich nicht.
Einfache Erklärung: Keiner kann aus seiner Haut heraus."

aus Margret Kreidl, Einfache Erklärungen. Alphabet der Träume. Edition Korrespondenzen, Wien 2014.


Margret Boysen
"Kiefer und Schneewehe

Niemand weiß, was Kiefer und Schneewehe sich zu sagen haben
denn die Wehe vermehrt die Einsamkeit des Baumes

immer wenn im Himmel das Schneefegen beginnt
schlägt die Kiefer mit ihrem grünen Besen in die Luft

möglich, dass so die Freundschaft entstand:
derselbe Zorn, dieselbe Stille"

aus Margret Boysen, Flucht vor der Laternenordnung, Edition Rügerup 2014.


Franz Joseph Czernin
"auch erdfrucht, sinister

auf einmal verbleibt, rau tafeln.
dir schreib-rot rauschhaft.

stets flammstich, herzungen.
auch uns fehlerfreien. lebkosten.

da fest zeitigst, versehen mir
wie tief kehlgold.

doch rachenqualm, arterblich auch.
bluternst am urteilen.

dass mir aufschrie, brosamen
schlemmerarm, kelchneigend

uns rest abbrichst, herb rot.
ja sehr gewagt, weinerlös."

aus Franz Joseph Czernin, Zungenenglisch. Visionen, Varianten, Hanser Verlag, München 2014.