Efeu - Die Kulturrundschau

Weiß Gott nicht Marcello Mastroianni

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01.12.2021. Der Guardian feiert mit der Tate Modern siebzig Jahre britisch-karibischer Kunst. Die Art Review präsentiert ihre Power-100-Liste zu den Machtfiguren in Kunst, Betrieb und Theorie, die SZ sieht hier mehr Wunsch als Wirklichkeit. Die taz genießt das lässige Können der Blaskapelle Tuba Skinny aus New Orleans, mit der Folksängerin Maria Muldaur ihr neues Album produziert hat. Bei den Filmkritikern weckt "Faking Hitler", die RTL-Version zum Stern-Skandal keine große Begeisterung.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Neil Kenloch: Young Woman Seated on the Floore at Home in front of her Television Set 1973. Bild: Tate Modern


Völlig überwältigt kommt Guardian-Kritiker Adrian Searle aus der Ausstellung "Life Between Islands" in der Tate Modern, die siebzig Jahre britisch-karibischer Kunst feiert: Proteste, Aufstände,, Feiern - alles sei drin: "Wir besuchen das Haus der fiktiven politischen Aktivistin Joyce in Michael McMillans Nachbildung eines westindischen Wohnzimmers der 1970er Jahre. Im Fernsehen läuft Horace Ovés Film 'Pressure' aus dem Jahr 1976. Der erste britische Spielfilm eines schwarzen Regisseurs ist eine düstere Bestandsaufnahme des Lebens der Windrush-Generation und der Schwierigkeiten, denen ihre in Großbritannien geborenen Kinder ausgesetzt sind. Ovés Fotografien vom Aufstieg der Black-Power-Bewegung sowie Neil Kenlocks Bilder von Schutzschilden und rassistischen Graffiti und Vron Wares Fotografien für das antifaschistische Searchlight-Magazin, die den Black People's Day of Action 1981 nach dem New-Cross-Brandanschlag dokumentieren, bei dem dreizehn Teenager ums Leben kamen, sind ernüchternde Erinnerungen an eine Zeit des selbstverständlichen Rassismus, düstere Blicke auf Widerstand und Vergnügungen, die trotz allem möglich sind."

Die Art Review hat ihre jährliche "Power 100"-Liste veröffentlicht. An der Spitze steht ERC-721: das Protokoll für Non Fungible Tokens (NFTs) von Etherium. Es folgen die Anthropozän-Forscherin Anna L. Tsing und das indonesische Kollektiv Ruangrupa, das die Documenta im nächsten Jahr leitet. In der SZ stellt Jörg Häntzschel zwar klar, dass es bei den NFTs weniger um Kunst als um Besitzverhältnisse geht, ansonsten findet er den wilden Mix aus Kunst, Theorie und Betrieb aber nicht abwegig: "Interessant ist übrigens auch, wie sich die Berliner Protagonisten geschlagen haben: Die Sammlerin Julia Stoschek steht auf Platz 43. Bonaventure Sah Bejeng Ndikung, der designierte Intendant des Hauses der Kulturen der Welt, auf Platz 84. Nur Klaus Biesenbach, der demnächst als Direktor der Berliner Nationalgalerie anfängt, fehlt. Allerdings wird man den Verdacht nicht los, dass auch diese Liste selbst im radikalen Geist vieler entstanden ist, die auf ihr stehen. Vielleicht ging es eher darum, eine utopische Welt zu entwerfen statt die reale abzubilden. Einer, in der die linke Künstlerin Hito Steyerl (Platz 17) mächtiger ist als der Luxusmagnat François Pinault (Platz 33 auf der Liste)."

Besprochen werden die große Hans-Kemmer-Ausstellung im St.-Annen-Museum in Lübeck (SZ), die Ausstellung "Nothingtoseeness" zur Farbe Weiß in der Berliner Akademie der Künste (FAZ, mehr in Marie Luise Knotts Tagtigall), die Schau "True Pictures?" zu zeitgenössischer Fotografie aus Kanada und den USA im Sprengelmuseum Hannover (FAZ) und Thomas von Steinaeckers "Buch der gescheiterten Kunstwerke" (Standard).

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Film

Keine Verwechslungsgefahr: Adam Driver und Lady Gaga, aber eben keineswegs Marcello Mastroianni oder Gina Lollobrigida

Ridley Scotts "House of Gucci" (den Peter Körte in der FAS bereits feierte) feiert zwar auftrumpfend das italienische Dolce Vita, aber an Seele mangelt es dem Film gehörig, seufzt Tanja Rest in der SZ. Dabei beginnt das Ganze vielversprechend: "Das volle Programm: ein Hemdsärmel, der in der exakt vorgeschriebenen Mailänder Länge aus einem Sakkoarm ragt. Goldene Patek Philippe, Siegelring, manikürte Männernägel. Natürlich Manschettenknöpfe! Nach unten hin blitzt das Doppel-G der Gürtelschnalle, ganz unten prangt die Pferdetrense auf karamellbraunen Loafers. Mehr Gucci geht nicht. Die Siegelring-Hand liebkost einen Espresso, der auf einem winzig kleinen Bistrotisch auf einem silbernen Tablett steht", doch "dann fährt die Kamera nach oben und zeigt das bebrillte Backpfeifengesicht von Adam Driver. Der ein toller Schauspieler ist, aber weiß Gott nicht Marcello Mastroianni." Dieser Film ist "ein Haus von Sand und Nebel, dem Untergang geweiht."

Noch ein bebrilltes Backpfeifengesicht? Lars Eidinger in "Faking Hitler"

Mit der RTL-Serie "Faking Hitler" hat der Radiomoderator Tommy Wosch mit Lars Eidinger seine Version des Stern-Skandals um die gefälschten Hitler-Tagebücher umgesetzt, den auch Helmut Dietl schon mit "Schtonk!" ins Kino gebracht hatte. Begeistert ist die Kritik nicht gerade: Kann man zwar "ganz lässig nebenbei wegsnacken", meint eine im wesentlichen aber unterwältigte Carolin Ströbele auf ZeitOnline, Presse-Kritiker Karl Gaulhofer findet die Serie mitunter "papieren, lustlos und konstruiert".

Ziemlich bodenlos findet es allerdings Emeli Glaser in der taz, dass die Serie es nicht bei der eh schon absurden Geschichte belässt, sondern sich in Gestalt der Journalistin Elisabeth, die auf Nazivergangenheit ihrer Familie stößt, noch Girlanden dazu erfindet. Wie zahlreiche deutsche Filme bringt auch diese Serie "nicht den Mut auf, Altnazis, Devotionalienfetischisten und geldgeile Nutznießer der ausgebliebenen Entnazifizierung einfach mal als die hässliche westdeutsche Gesellschaft der Achtzigerjahre stehen zu lassen, zu der sie gehörten. Die linke Elisabeth muss als 'gute Deutsche' herhalten (denn die gab es auch!), die ihrem Nazi-Vater stellvertretend für das Publikum Absolution erteilt, als er sich seiner Vergangenheit stellt. Und dann der jüdische Leo. Für die Backstory seiner Figur müssen die Opfer des KZ-Arztes Mengele herhalten. Alles, damit er wiederum der 'guten Deutschen' Elisabeth Absolution von ihrer deutschen Schuld erteilen kann."

Außerdem: Thomas Abeltshauser spricht für die taz mit Jane Campion über deren Anti-Western "The Power of the Dog" (hier unsere Kritik). Patrick Heidmann berichtet in der taz vom International Documentary Film Festival in Amsterdam, wo er unter anderem dafür Sergei Loznitsas "Mr. Landsbergis" sehen konnte, in dem es um Litauens Kampf um Unabhängigkeit in den Jahren 1988 bis 1991 ging - "ein bemerkenswertes Lehrstück jüngerer europäischer Geschichte, dem man vier Stunden lang gebannt folgt." Willi Winkler malt sich in der SZ aus, wie es in der Drehbuchwerkstatt zur neuen ARD-Eventserie "Ein Hauch von Amerika" wohl zugegangen sein könnte.
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Literatur

Staun! Jauchz! Tagesspiegel-Comicexperte Lars von Törne fällt beim Lesen des Kulturkapitels im Ampel-Koalitionsvertrag aus allen Wolken, denn "das hat es bisher in Deutschland noch nicht gegeben: Eine neue Bundesregierung bekennt sich explizit zum Comic - wenn auch in einer etwas zusammengewürfelt klingenden Formulierung." Anlass genug für eine Nachfrage bei der Grünen-Politikerin Tabea Rößner, wie es dazu gekommen ist. "Auf die Verbindung von Comic und Klassik habe man sich schnell geeinigt, 'denn Comics kommen aus der Subkultur, die Klassik kommt aus der Hochkultur." Man habe zudem nach Alliterationen gesucht, so sei es zur Formulierung 'von Klassik bis Comic, von Plattdeutsch bis Plattenladen' gekommen."

Außerdem: In der FAZ berichtet Petra Ahne vom Berliner Literaturfestival "Climate Cultures - Planet schreibt zurück", bei dem über die Literatur und die Klimakatastrophe diskutiert wurde (mehr dazu bereits hier und dort). Claudius Seidl meldet in einer kurzen Nachrufnotiz in der FAZ, dass die Reiseschriftstellerin und Filmemacherin Desiree von Trotha gestorben ist.

Besprochen werden Carmen Maria Machados "Das Archiv der Träume" (SZ), Patricia Highsmiths "Tage- und Notizbücher" (Jungle World), Ulf Erdmann Zieglers "Eine andere Epoche" (NZZ), der Briefwechsel zwischen Leo Löwenthal und Herbert Marcuse (Jungle World), die Rekonstruktion von Wassili Grossmans "Stalingrad" (Freitag), "Kostbarkeiten des Lebens" mit den Feuilletons von Eduard von Keyserling (Tsp), Chris Kraus' "Aliens & Anorexie" (ZeitOnline) und Maximilian Zechs "Aus einer Zeit" (FAZ).
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Bühne

In der NZZ stellt Regine Müller die Amsterdamer Operndirektorin Sophie de Lint vor, die als Intendantin für Zürich gehandelt wird. Besprochen werden Sharon Eyals neue, "energiegeladene" Choreografie "Promise" im Staatstheater Wiesbaden (FR) und Dennis Kellys Stück "Der Weg zurück" am Berliner Ensemble (das FAZ-Kritikerin Irene Bazinger schon bei der Uraufführung verstaubt findet).
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Design

Im ZeitMagazin schreibt Maria Hunstig einen Nachruf auf den Modedesigner Virgil Abloh (weitere Nachrufe bereits hier und dort).
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Musik

Freudig legt sich tazler Andreas Schäfler in die Musik auf dem Album "Let's Get Happy Together", für das sich die US-Folksängerin Maria Muldaur tatkräftige Unterstützung der Blaskapelle Tuba Skinny aus New Orleans ins Studio geholt hat. Deren "Interpretationen von Blues- und Ragtime-Standards, teils hundert Jahre alt und älter, kommen frisch wie am ersten Tag daher, klingen oft schmissig, aber auch mal tieftraurig und spätestens dann: zum Sterben schön. ... Angestachelt vom lässigen Können der gestandenen Straßenmusiker:innen kniete sich Maria Muldaur in die Recherche nach passendem Material" und fand es zum Beispiel in Billie Holidays "He ain't got Rhythm", aus dem "sie mit instinktsicherer Phrasierung" alles heraushole. "Das Oktett schwelgt in den Klangfarben von vier Bläsern, lässt Banjo, Waschbrett sowie zwei Rhythmusgitarren um die Wette schrubben und harmoniert grundentspannt mit Muldaurs Koloraturen." Wir hören rein:

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