Efeu - Die Kulturrundschau

Das Gesäß ist ein zweideutiges Motiv

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09.12.2014. Die NZZ feiert Tatjana Gürbacas moderne, im Geiste Brechts inszenierte Zürcher "Zauberflöte". Die SZ bekommt bei einem Konzert von Arcas Lust auf Sex mit Computern. Die Presse schwärmt vom heroischen Blick und nackten Hintern des Fotografen Alfons Walde. Die taz diagnostiziert eine Kontinuität der Kälte in der Avantgarde-Fotografie zwischen 1920 und 1950. Die Welt erinnert an den Erfinder des Videospiels, den in Pirmasens geborenen und in New York gestorbenen Ralph H. Baer.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.12.2014 finden Sie hier

Kunst

Was für eine Entdeckung, staunt Sabine B. Vogel in der Presse über die Aktfotografien von Alfons Walde in der Wiener Galerie Westlicht: "Waldes Lieblingsmotiv ist der nackte Po, gern von hinten. Das Gesäß, kommentiert [Museumsdirektor Peter] Weiermaier, "ist ein zweideutiges Motiv. Es kann sowohl männlich als auch weiblich sein, es erinnert an eine Frucht, die man öffnen möchte, und es spielt mit den beiden Polen ästhetisch/unästhetisch." Tatsächlich sind viele der nackten Hinterteile keineswegs in Idealform eingefangen, sondern von Cellulite verbeult und der Schwerkraft nachgebend... Auf einem Selbstporträt posiert Walde mit heruntergelassener Hose, roter Zipfelmütze, heroischem Blick in die Weite und von der Kälte deutlich geschrumpftem Gemächt - ein wunderbar humorvolles Bild. Diese heiter-lustvolle Grundstimmung herrscht in nahezu allen Fotografien." (Foto: Alfons Walde, Anonym, um 1940)

Endlich mal kein Weltkrieg mehr, atmet taz-Rezensent Ralf Hanselle auf beim Betreten der Ausstellung "RealSurreal" im Kunstmuseum Wolfsburg über die fotografische Avantgarde zwischen 1920 und 1950. Doch rasch entdeckt er in den Bildern eine Kontinuität der Kälte und beginnt zu ahnen, "wie sehr sich die Ästhetik des technisierten Krieges in die Nachkriegsstädte hineingefressen hatte. ... Das kalte Auge befand sich zwar nicht mehr hinter Theodolit und Zielfernrohr, doch mit den nun massenhaft verkauften Rollfilmkameras wurde auf das Zivile gezielt." (Bild: Genia Rubin, Lisa Fonssagrives. Robe: Alix (Madame Grès), 1937. Foto: Christian P. Schmieder / Sammlung Siegert, München. © Sheherazade Ter-Abramoff, Paris)

Weitere Artikel: Anne Katrin Feßler stellt im Standard die Künstlerin Nilbar Güres vor, frisch gebackene Otto-Mauer-Preisträgerin 2014 und (hier) den Künstler Thomas Baumann. In der Berliner Zeitung kürt Ingeborg Ruthe Martin Boyce" in der Berliner Johnen Galerie ausgestellten "Kamin" zu ihrem "Bild der Woche". Nachrufe auf die Karikaturistin Marie Marcks schreiben Arno Widmann (Berliner Zeitung), Andreas Platthaus (FAZ) und Barbara Sichtermann (Tagesspiegel).

Besprochen werden die Fotoausstellung "Modern Times" im Rijksmuseum in Amsterdam (Tagesspiegel) und die große Rothko-Retrospektive im Gemeentemuseum Den Haag ("mustergültig", jubelt Gottfried Knapp in der SZ).
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Bühne


"Die Zauberflöte", Inszenierung Tatjana Gürbaca, Opernhaus Zürich

Am Opernhaus Zürich hat Tatjana Gürbacas neue moderne Inszenierung der "Zauberflöte" offenbar einige Kritik einstecken müssen. In der NZZ jedenfalls antwortet ein begeisterter Peter Hagmann dem "Huronengebrüll" der Traditionalisten: "Ja, Tatjana Gürbaca hat die von Emanuel Schikaneder stammenden Texte leicht modifiziert, in unsere Zeit übertragen. Wie sie die Menschen um Sarastro in einer Art Zeitraffer als heutige Vertreter der Konsumgesellschaft zeigt. Darüber kann man sich vielleicht aufregen - über den Versuch der Regisseurin, im Geiste Brechts die Identifikation zu stören und die Distanz, die uns von der "Zauberflöte" trennt, spürbar, ja fruchtbar zu machen. Fruchtbar darum, weil man so für die schlechterdings sensationellen musikalischen Qualitäten der neuen Zürcher "Zauberflöte" besonders offen ist."


"Zu jung zu alt zu deutsch", Staatsschauspiel Hannover. Foto © Isabel Machado Rios

Mit seiner Inszenierung von Dirk Lauckes "zu jung zu alt zu deutsch" dringt Nick Hartnagel in Hannover tief ein in deutsche Befindlichkeiten und Neurosen. Tim Schomacker bemäkelt auf Nachtkritik die Erzähltheaterhaftigkeit des Abends: "Mehr noch als die diversen deutschen Vergangenheiten hängt den Figuren ihre eigene Figurenhaftigkeit wie ein Klotz am Bein. ... Alle finden sich eingezwängt in ein Plot-Korsett, das ihnen (den Schauspieler/innen) den großen Wurf verwehrt, weil sie (die Figuren) zu sehr bedient sein wollen. Weniger konkreter Opa wäre wohl mehr Gegenwartsbeobachtung gewesen. Und nicht bloß Gegenwartstheater."

Jens Fischer von der taz hatte da doch deutlich mehr Spaß an der Aufführung: Er sah einen Abend, "der wider das sozial erwünschte Sprechen über eine tabuisierte Epoche ständig zum Widerspruch reizt, nicht im Verurteilen der Nazi-Gräuel das gemeinsame Bekenntnis zu Demokratie und Humanismus erledigt, sondern es wach zu halten versucht fürs moralische Alltagsgeschäft."

Besprochen werden außerdem Olga Neuwirths "American Lulu" in Wien (Presse), die "Traviata" mit einer großartigen Ermonela Jaho an der Wiener Staatsoper (Presse), das Musical "Der Zauberer von Oz" an der Wiener Volksoper (Standard), Katrin Plötners Inszenierung der "Minna von Barnhelm" am Landestheater Niederösterreich (Standard), Lloyd Riggins Choreografie zu Auguste Bournonvilles "Napoli" in Hamburg (Welt), Thomas Freyers in Dresden uraufgeführtes NSU-Stück "mein deutsches deutsches Land" (Christine Dössel von der SZ lobt den "versiert spielerischen Umgang mit Theatermitteln") und Enrico Lübbes Inszenierung von Richard Yates" "Zeiten des Aufruhrs" am Schauspiel Leipzig ("überzeugendes, brisantes, klug packendes Theater", schreibt Irene Bazinger in der FAZ).
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Literatur

Voll des Lobes ist Gerrit Bartels (Tagesspiegel) für Patrick Modianos Nobelpreisrede, war diese doch "eine schöne, seinem Romanwerk sehr gemäße, ihn selbst und die Genese seiner Poetologie erklärende, einige Zeiten und Räume durchmessende Rede." Im folgenden die Rede im französischen Original, hier eine englische Übersetzung:



Im Standard veröffentlicht ist ein literarischer Text des Schriftstellers Clemens Berger über die Sprache der Herrschenden: "Ins Herz der Zeit"

Weitere Artikel: Neue Krimis vonder Insel hat Thekla Dannenberg für den Perlentaucher gelesen: Oliver Harris setzt in "London Underground" neuerlich zum "atemlosen Schreiben" an und das führt schnurstracks zu "besonders schönen Zweifel an der Welt". Außerdem stellt sie neue und wiederveröffentlichte schottische Krimis vor. Tilman Spreckelsen unterhält sich in der FAZ mit der Tolkien-Übersetzerin Lisa Kuppler. Außerdem empfehlen die Literaturkritiker des Tagesspiegel ihre Lieblingsbücher des Jahres für den Gabentisch.

Besprochen werden unter anderem Bodo Kirchhoffs Roman "Verlangen und Melancholie" (NZZ), Jean-Philippe Toussaints Roman "Nackt" (NZZ), David Cronenbergs Roman "Verzehrt" (Presse), Klaus Kordons "Joss oder der Preis der Freiheit" (Tagesspiegel), Stefan Brijs" "Post für Mrs. Bromley" (Tagesspiegel), Tao Lins "Taipeh" (SZ, mehr) und Werner Hofmanns "Die Schönheit ist eine Linie" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.
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Film

Die im deutschen Bürgertum wohl verpönteste Spielart der neuen Medien, das Videospiel, wurde von einem deutschen Juden erfunden. In der Welt erinnert Wieland Freund an den jetzt in New York gestorbenen Ralph H. Baer: "Wenn Hitler nicht auch Ralph Baers rosa Kaninchen gestohlen hätte - so wie das von Judith Kerr -, dann, ja dann wäre das Videospiel in Pirmasens erfunden worden. Dann hätte Baer vielleicht am Busbahnhof Exerzierplatz seinen Einfall gehabt und nicht am Busbahnhof Port Authority in Manhattan, wo er im Spätsommer 1966 auf einen Kollegen wartete und - die New York Times weiß es genau - auf einem dieser typisch amerikanischen Notizblöcke mit dem gelben Papier die erste Spielekonsole der Welt skizzierte. Der Entwurf umfasste schließlich vier Seiten, und weil Baer in Amerika und nicht in Pirmasens war, bekam er von seinem Chef bei Sanders, einem Militärzulieferer, zweieinhalbtausend Dollar in die Hand, um diese "Game Box" tatsächlich zu bauen."

Hier ein Interview mit dem damals 90-Jährigen:



Weitere Artikel: Caroline Proust, die großartige Kommissarin aus der ebenfalls großartigen französischen Serie "Engrenages" antwortet in Slate.fr auf den durch Marcel Proust berühmt gewordenen Fragebogen. Nebenbei erfährt man, dass es eine fünfte Staffel von "Engrenages" gibt. Außerdem kürt und kommentiert Matt Zoller Seitz auf Vulture seine Lieblingsserien des Jahres: Auf die Spitzenposition hebt er "Hannibal" mit Mads Mikkelsen: "Schon nach zwei Staffeln eine Serie für den Pantheon." Marco Koch bringt Neuigkeiten aus der deutschen Filmblogosphäre. Im Tagesspiegel gratuliert Christiane Peitz, in der FAZ Dieter Bartetzko Judi Dench zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Peter Jacksons letzter Teil der "Hobbit"-Trilogie (Welt) und Michaël R. Roskams Film "The Drop" mit Tom Hardy und James Gandolfini (Standard).
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Musik

Einigermaßen entrückt berichtet Annett Scheffel in der SZ von Arcas Konzert im Berghain: Hier liege eine Musik vor, die sich ganz im Digitalen denkt und ausbreitet und überdies noch Sex mit Computern als keine völlig unmögliche Sache mehr erscheinen lässt. Getanzt wird hier schon lange nicht mehr: "Man steht bloß da, narkotisiert wie nach einem Schleudertrauma, in einer verwunschenen Klangwelt. Ein wenig ist es wie bei einem Rorschachtest - man sieht und hört, was man sehen und hören will. Alles hier ist amorph und flüchtig - anonym wenn man so will - wie die virtuellen Identitäten, in deren Gestalt wir durchs Internet huschen. Arcas Musik reicht nah an unsere Netz-Gegenwart heran." Hier das aktuelle Video:



Im Standard erzählt Stefan Schlögl, wie der Komponist Rudolf Wakolbinger die Entstehung des Universums vertont hat: "Vom Urknall bis zur Gegenwart, 13,8 Milliarden Jahre in 13,8 Minuten. Herausgekommen ist mit Expansion of the Universe ein gewaltiges Stück zeitgenössischer Musik, eine 240 Quadratmeter große Partitur mit 1036 Stimmen und 1,6 Millionen Notenzeichen."

Besprochen werden das neue Album von The Company (Spex), "Monuments to an Elegy" von den Smashing Pumpkins (Pitchfork), das neue Album "12" von Supersilent ("spellbinding", meint ein entzückter Joe Tangari auf Pitchfork), das neue Album von Cristobal And The Sea (ZeitOnline), ein Konzert der Wiener Philharmoniker unter Michael Tilson Thomas mit Vanhals Kontrabasskonzert und Mahlers Fünfter (Presse) und Konzerte der Pianisten Daniil Trifonov und Louis Schwizgebel beim Verbier Festival auf Schloss Elmau (NZZ).

Die große malische Sängerin Fantani Touré ist im Alter von fünfzig Jahren gestorben, berichtet Le Monde.

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