Efeu - Die Kulturrundschau

Sinnlos auf Kuba

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2017. Die NYRB staunt über den Paragone, den der Künstler Bill Viola in Florenz mit Meisterwerken der Renaissance riskiert. Die Viennale Wien fürchtet den unmenschlichen Roboter. In London bastelt man bereits an einer Version, die nervt. Was könnte menschlicher sein? Michael Bays neuer "Transformers"-Film provoziert saftige Verrisse. Die SZ gerät mit dem Indie-Folk-Pop der Fleet Foxes in religiöse Ekstase.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.06.2017 finden Sie hier

Kunst


Links Pontormos "Besuch", rechts Violas "The Greeting"

In Florenz hat der Künstler Bill Viola mit seiner Ausstellung "Electronic Renaissance" den Paragone zurückgebracht, den Wettbewerb, den Vergleich, indem er berühmte Renaissance-Kunstwerke nachstellt, erzählt Ingrid D. Rowland in der NYRB. Dazu gehört Jacopo Pontormos "Besuch" der schwangeren Maria bei der ebenfalls schwangeren Elisabeth. "Viola's slow-motion video, like Pontormo's altarpiece, involves a young pregnant woman greeting an older woman. Rather than adding an attendant, he places a third woman at a slight remove from the other two, concentrating on the expression on her face when she is patently excluded from their embraces. He evidently draws his inspiration from Pontormo's rendering of the gestures and the facial expressions of the trio, but deliberately their ultimate significance as 'ambiguous.' Viola's women, moreover, are dressed like white upper-middle-class Los Angeles women in the 1990s, even if they stand before a staged recreation of Pontormo's Florentine street scene. His younger woman is much nearer to term than Mary in the Gospel narrative, and the older woman does not show any signs of a miraculous pregnancy; thus the scene is neither a recreation of the Bible nor a video tableau vivant of Pontormo's painting."

"Überwindet das Kuratieren, beteiligt die Betrachter, demokratisiert das Ausstellen!" In der Zeit möchte der Kunsttheoretiker Stefan Heidenreich die Kuratoren aus den Kunsttempeln, den Museen, vertreiben. Denn: "Kuratieren ist undemokratisch, autoritär und korrupt. ... Große Ausstellungen wie zum Beispiel die ersten Ausgaben der Documenta dienten dazu, die aktuelle Gegenwartskunst zu dokumentieren. Freilich wurden sie kuratiert, aber es gab Kriterien. Und über diese Kriterien wurde gestritten. Seit das Kuratieren dagegen zur Obsession von Einzelnen verkam, haben sich die Kriterien verflüchtigt und die Diskussionen auch."

Weitere Artikel: Im Art Magazin stellt Marie Fürste die Hamburger Malerin Anita Rée vor, der die Hamburger Kunsthalle ab Oktober eine große Ausstellung widmet. Kanonbildung ist elitär und out, meint Felix Krämer vom Städel Museum in der FAZ: Lieber sollte ein Museum "Angebote unterbreiten, die Besucher zum Entdecken einladen und die Geschichten hinter den Objekten erzählen: Das gilt für die alte wie für die zeitgenössische Kunst."

Besprochen werden die Ausstellung Österreich Fotografie in der Wiener Albertina (Standard), "Matisse in the Studio" in Bostons Museum of Fine Arts (NYRB) und die Pink-Floyd-Ausstellung im Victoria & Albert Museum. (NZZ).
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Design



Schreckliche neue Welt! Auf der Vienna Biennale denkt man über "Roboter. Arbeit. Unsere Zukunft" nach, notiert Roman Gerold im Standard: "Integriert ist auch eine Arbeit Jeremy Shaws, der die zuckenden Gesichter von Freunden bei Trips mit einem Halluzinogen filmte. Worauf Kuratorin Wirth mit einer Arbeit wie dieser hinauswill, ist die Widersetzlichkeit des Körpers, seine 'poetische Ineffizienz' gegenüber der Technologie. Behälter, auf denen 'Blut', 'Tränen' oder 'Samen' steht, präsentiert indes Kiki Smith. Ein Gefühl des Ekels beim Betrachter ist dabei durchaus vorgesehen, wenn es nach Wirth geht, denn: 'Wollen wir wirklich eine Zukunft, in der wir uns nicht mehr ekeln können?'"

Am Londoner Central Saint Martins ist man da schon weiter. Die schwedisch-mexikanische Designerin Nicole Pérez hat eine ganze Reihe Roboter entworfen, die nerven, berichtet Ali Morris in Dezeen. Denn wenn Roboter uns schon ersetzen, dann bitte in allem: "'Their purpose is not to be efficient but unnecessary, fulfilling the non-practical, useless actions that we feel in a relationship,' explained Pérez. 'After all, being in an intimate relationship is not only about dealing with pleasure and fun - it is also about dealing with the rest.'"

Außerdem: Bei Domus berichtet Maria Cristina Didero über die Design Miami/ Basel.
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Film



Massen-Karambolage im Kino - Totalschaden. Und die Kritiker mitten drin und fassen's nicht. Die Rede ist von Michael Bays fünftem Film aus der Digitalblech-Saga "Transformers", der die Kritiker völlig entgeistert zurück ließ. Immerhin kommen die Freunde gepfefferter Verrisse auf diese Weise voll auf ihre Kosten: "Jede Sekunde fühlt sich an wie im Purgatorium mit der Hoffnung des Gläubigen, endlich ins Licht entlassen zu werden", jault etwa Michael Pekler unter Schmerzen im Standard auf. Seine leise Hoffnung: dass "die seit zehn Jahren sämtliche Multiplexleinwände dieser Welt okkupierende Bubenkinoreihe" mit diesem Film nun endlich am Ende sei. Welt-Kritiker Felix Zwinzscher hat seine liebe Not, in dem ganzen Kuddelmuddel aus Sexismus, wirren Dialogen, Product Placement und sprechenden Auto-Robotern so etwas wie Sinn zu finden. Immerhin eins erfahren wir doch: "John Turturro schwitzt völlig sinnlos auf Kuba."

Andreas Busche wagt im Tagesspiegel immerhin, den Film ein bisschen genauer zu inspizieren. Für ihn markiert er so etwas wie einen Höhe- und Endpunkt einer auf Risikovermeidung setzenden Strategie in Hollywood: "Man merkt dem Film die Mühe an, eine eigentlich längst auserzählte Reihe auf Biegen und Brechen weiterzuführen. ... Im Grunde sind die 'Transformers'-Filme so konsequent auf ihre reine Warenform hin produziert, dass nicht einmal mehr der Befund der franchise fatigue greift. Die Pastichehaftigkeit ist nicht das Manko von 'Transformers: The Last Knight', sondern sein Prinzip. Es geht nur noch um wiedererkennbare Signaturen des Blockbusterkinos, die gedankenlos aneinandergereiht werden."

Philipp Stadelmaier verneigt sich in der SZ vor Claire Denis, deren neuer Film "Un beau soleil intérieur" heute das Filmfest München eröffnet: Das Kino ist deren Heimat, "von der aus sie ein Verhältnis zur Welt und dem Begehren herstellen kann, das darin zirkuliert. Stets sind es Musik- und Tanzszenen, in denen ihr Kino sich enthüllt, zu sich kommt, in Freiheit aufatmet."

Weitere Artikel: Für die FAZ hat sich Bert Rebhandl mit Pierre Richard getroffen, der in dieser Woche in der neuen französischen Komödie "Monsieur Pierre geht online" zu sehen ist (mehr zur Unsitte deutscher Verleiher, gefühlt jeden zweiten französischen Film mit einem infantilen "Monsieur"-Etikett zu bekleben, in diesem schon etwas älteren Freitag-Artikel von Matthias Dell). Der Regisseur Paul Greengrass beabsichtigt, einen Film über Anders Breiviks Anschläge zu drehen, meldet Aldo Keel in der NZZ.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Life Animated" über einen autistischen Jungen, der anhand von Disneyfilmen mit der Außenwelt in Kommunikation tritt (Tagesspiegel, taz), Massoud Bakhshis "Eine respektable Familie" (taz) und Marco Bellocchios "Fai Bei Sogni" (NZZ).
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Musik

Das neue Album "Crack-Up" der Indie-Folkpop-Band Fleet Foxes treibt SZ-Kritiker Martin Pfnür schier in die religiöse Ekstase - zu tun habe man es offenbar mit einem Album, das geradezu wie ein Gottesgeschenk hienieden sank. Wenigstens aber erhebe es "sich in einer brillant angebahnten und ausgespielten Intensität, mit einer Wandelbarkeit und fast schon cinemaskopischen Weite und der schier umwerfenden Grandezza über jeden bekannten Referenzrahmen. 'Crack-Up', so weit darf man gehen, ist eines der schönsten, wenn nicht gar das schönste musikalische Krisendokument unserer Tage im immer noch jungen 21. Jahrhundert. Ein leuchtender Pfad aus der Dunkelheit der selbstgewählten Isolation zurück ins künstlerische Rampenlicht." Rechnen Sie beim Anklicken dieser Hörprobe also mindestens mit einer Marienerscheinung:



Weiteres: Markus Schneider plaudert für die Berliner Zeitung mit Beth Ditto. Für die taz spricht Nora Voit mit dem Countrymusiker Digger Barnes. Felix Zwinzscher schreibt in der Welt zum Tod des Rappers Prodigy.

Besprochen werden Devendra Banharts Berliner Konzert (taz), ein Konzert von Depeche Mode (FR), ein Konzert von Justin Townes Earle (Tagesspiegel) und ein Auftritt von Igor Levit in Berlin (Tagesspiegel).
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Literatur

Der französische Autor Emmanuel Carrère trifft für seine Zeit-Reportage aus Istanbul eine Familie von AKP-Anhängern, hat am Ende aber doch mehr Sympathie für die, deren Leben jetzt von der Politik drangsaliert wird: "In der Türkei hat die Gesellschaft nicht mehr mitzureden. ... Deswegen waren alle empört, als ich an ihrem Tisch leichtfertig die Meinung wiederholte, das tägliche Leben sei doch nicht so sehr davon beeinträchtigt und man könne immer noch gemütlich eine Tasse Tee trinken und auf den Bosporus schauen. Natürlich ist das alltägliche Leben beeinträchtigt! Es gibt kein alltägliches Leben mehr, es gibt nur noch ein politisches Leben, und dieses politische Leben ist eine Katastrophe."

Besprochen werden Don Winslows "Corruption" (FR), Claudio Magris' "Verfahren eingestellt" (Tell), Javier Cercas' "Der falsche Überlebende" (Zeit), Rachel Cusks "Transit" (FAZ) und J.M. Coetzees "Ein Haus in Spanien" (SZ).
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Bühne

Neue künstlerische Leiter des Schauspielhauses Zürich werden Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg, meldet Daniele Muscionico in der NZZ: "Die Revolte wandert in den Taschen der beiden aus München mit ein - es ist das Denk- und Produktionsmodell Lilienthal an den Münchner Kammerspielen: Internationalität ist ein Stichwort, Koproduktionen ein anderes." Angst muss der Zürcher deshalb jedoch nicht haben, beruhigt sie: "Der Intendanten-Neuling Stemann stammt aus der freien Szene. Und gern bescheinigt man ihm noch immer, dass sich seine Arbeiten eine formale Angstfreiheit bewahrt hätten. Mittlerweile liefert er zuverlässig Inszenierungen ab, die mit einem breiten Publikum kompatibel sind. Seine Arbeiten sind auch lustfreundlich. Sie werden dem zwinglianischen Geist der Stadt guttun."

Im Interview mit der NZZ geben die beiden einen ersten Einblick in ihre Pläne. "Ein struktureller Umsturz ist die Berufung nicht, aber für Zürichs Theater sicherlich belebend", meint Andreas Klaeul zu der Neubesetzung in der nachtkritik.

Weitere Artikel: Im Zeit-Feuilleton erzählt Wim Wenders von seiner ersten Regiearbeit im Opernfach: Er inszeniert Bizets "Perlenfischer" für die Berliner Staatsoper. Gina Thomas sah für die FAZ die ersten von neun Mini-Brexit-Dramen, die der Guardian in Auftrag gegeben hatte. Hier kann man sie im Netz sehen.

Besprochen werden Choreografien der Dresden Frankfurt Dance Company im Frankfurt Lab (FAZ) und Nikolai Rimski-Korsakows Märchenoper "Sadko" in Gent (FAZ).
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