Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2002. Die FAZ meldet, dass der amerikanische Präsident im Urlaub ein Buch gelesen hat. Nun macht sich sein Außenminister Sorgen. Die NZZ wundert sich über die hundert bedeutendsten Briten. Die SZ interviewt den entlassenen Christoph Marthaler ("ein Putsch"). In der FR rät Peter Eisenman von einem Mahnmal für das World Trade Center ab. Die taz stellt New Yorks berühmtesten Buchladen vor.

SZ, 03.09.2002

Regisseur Peter Kern bekundet seine Solidarität mit dem entlassenen Intendanten Christoph Marthaler ("Zürich blutet"). Und Marthaler selbst sagt im Interview mit Christine Dössel, dass er über von seinem Rauswurf in den Medien erfahren habe: "Ich wusste zwar, dass so etwas stattfinden kann, es drangen Gerüchte durch. Allerdings hatte ich am Freitag noch eine Sitzung mit dem Verwaltungsratspräsidenten, das war ein sehr konstruktives Gespräch. Dass dann so etwas passiert, in einer Nacht- und Nebelaktion, hinter meinem Rücken, das hätte ich nicht geglaubt - das ist ja wie ein Putsch." Allerdings meint auch Marthaler: "Natürlich sind die Finanzen Scheiße".

Reinhard J. Brembeck schlägt Alarm. Er sieht Deutschland auf dem besten Wege, seine Hochkultur zu ruinieren. "Es ist kein Zufall, dass in der derzeitigen Wirtschaftskrise die Subventionen magerer ausfallen, und es ist gewiss auch nicht zu viel verlangt, dass auch Orchester, Opernhäuser und Theater ihren Beitrag zur Konsolidierung der angeschlagenen kommunalen Budgets leisten. Andererseits muss den öffentlichen Geldgebern klar sein, dass Opernhäuser oder Sinfonieorchester nicht unbegrenzt niedergespart werden können, weil so Qualität und internationales Renommee schnell zu verspielen sind", schreibt Brembeck.

Auch nach knapp einem Jahr ist noch immer nicht klar, was aus ground zero werden soll. Jörg Häntzschel hält die New Yorker Stadtverwaltung völlig überfordert, die seit zwei Jahrzehnten die Stadplanung privaten Investoren überlassen hatte. "New York, die frühere Hauptstadt des Utopischen, war so vernarrt in die Gegenwart, dass es heute keine Begriff von seiner Zukunft zu entwickeln vermag. Es hat keinen Baron Haussmann und keinen Robert Moses. Es hasst die große Faust, die in den Himmel ragt, aber es sehnt sich nach dem Bild davon."

Weitere Artikel: Rainer Stephan berichtet, wie Worms seine Nibelungen-Festspiele nachbereitet. Wolf Lepenies schreibt einen Nachruf auf Clemens Heller, den langjährigen Direktor der Maison des Sciences de l'Homme in Paris. Claus Heinrich Mayer wünscht sich in der "Zwischenzeit" neue Denkmäler für Berlin. Und Volker Breidecker hat für seinen Geschmack beim Erlanger Poetenfest ein bisschen zu oft die Frage "Weißt du noch?" gehört.

Besprochen werden: Filme von Shinya Tsukamoto und Todd Haynes in Venedig, der Abschluss des Schleswig-Holstein-Musik-Festivals in Kiel, die Koblenzer Ausstellung zur "Entdeckung der Landschaft in der europäischen Malerei um 1800" und Bücher, darunter Enn Vetemaa und Kat Menschiks Bestimmungsbuch "Die Nixen von Estland" und ein Band von Gerard Uferas mit Modefotografien (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 03.09.2002

Der New Yorker Architekt Peter Eisenman erklärt im Interview mit Eva Schweitzer, warum er nichts davon hält, ein Mahnmal für das World Trade Center zu errichten: "Das Außergewöhnliche an dem Anschlag war, dass er zwar vollkommen unerwartet kam, dass er aber weltweit zeitgleich in allen Fernsehern lief - der Anschlag war sogar eigens für die Medien inszeniert worden. Wir haben den Horror gesehen, während er geschah. Den Horror von Hiroshima und Auschwitz hingegen kennen wir nicht unmittelbar, wir konnten erst danach die Fotos betrachten. Und diese eindringlichen Fernsehbilder haben so viel mehr ausgesagt, als ein Memorial es könnte. Was soll man dem noch hinzufügen?"

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte bekommt in Venedig langsam bessere Laune: Schrecklich enttäuschend findet er zwar Soderbergh neuen Film, aber Claire Denis Großstadtfantasie "Vendredi Soir" hält er für "klassische, bezwingend moderne Filmkunst". Und Katrin Hillgruber freut sich, dass das Erlanger Poetenfest nicht nur gerettet ist, sondern auch geliebt wird.

Besprochen werden: Die Videoausstellung "Unser Ausland" von Dorothee Wenner in Berlin, die Wiesbadener Schau "40 Jahre Fluxus und die Folgen" (mehr Informationen hier), Martin Wuttkes Aufführung "Podpolje" in Neuhardenberg, Peter Gabriels Konzert in München, das Stück "Naharin's Virus" von der Batsheva Dance Company in Berlin und Bücher, darunter Ivan Olbrachts Novellen "Die traurigen Augen" und Allen Kurzweils Roman "Die Leidenschaften des Bibiothekars" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 03.09.2002

Thomas Girst stellt New Yorks bekanntesten Buchladen vor - Gotham Book Mart. Hier kauften schon Charlie Chaplin und Marlene Dietrich, hier wurde Exemplare von "Lady Chatterlys Liebhaber" direkt über D. H. Lawrence bezogen und unterm Tisch verkauft, und hier kennt man Thomas Pynchon. Persönlich. "Jeder hier im Laden weiß, wie er aussieht. Dem Kater habe ich den Namen gegeben, weil das Tier genauso riesig ist. Pynchon ist auch riesig, bestimmt über einen Meter neunzig", zitiert Girst den Buchhändler Andreas Brown.

Weitere Artikel: Frieder Reinighaus zieht eine Bilanz der Salzburger Festspiele und bescheinigt Peter Ruzicka als neuem Künstlerischen Leiter einen moderaten Einstieg: Der neue Chef habe vor allem Produktionen präsentiert, "an denen (fast) nichts (mehr) als anstößig empfunden werden konnte. Alles handelte von Liebe und Güte." Michael Bartsch betrachtet die Schäden, die die Flut an den sächsichen Kultureinrichtungen hinterlassen hat.

Cristina Nord hat sich in Venedig Todd Haynes Melodram "Far From Heaven" angesehen und dabei die erbarmungslose Ordnung der Vorstadt und die tröstenden Momente des Kinos erlebt. Weitere Besprechungen widmen sich der ersten CD der Behindertenband Freakstars 3000 "Mutter sucht Schrauben" und Büchern: Ethan Hawkes On-the-road-Geschichte "Aschermittwoch", Nina Jäckles Erzählband "Es gibt solche", Kurt Langbeins und Bert Ehgartners Streitschrift "Das Medizinkartell" sowie John T. Lescroart Politkrimi "Der Schwur" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und schließlich Tom.

NZZ, 03.09.2002

Philipp Blom zitiert die Ergebnisse einer Umfrage, welche die BBC unter 30.000 Briten durchführte - sie sollten die hundert bedeutendsten Briten der Geschichte bestimmen: "Aus der Liste lässt sich ein einigermaßen erstaunliches Bild von den geistigen Prioritäten der Nation ablesen - einer Nation, in der Ideen offenbar nur dann etwas wert sind, wenn man aus ihnen etwas Praktisches konstruieren kann (ein Fünftel der Namen gehören Erfindern, Ingenieuren und Entdeckern), und in der abstraktes Denken ebenso wenig wahrgenommen wird wie klassische Musik (vertreten nur gerade durch Edward Elgar) oder Malerei (fehlt ganz). Die Briten lieben ihre Literatur weniger als einst, ihre Politiker kaum und ihre Heiligen gar nicht, dafür aber sind ein gutes Dutzend Monarchen und elf Popstars auf der Liste."

Weitere Artikel: Christoph Funke gratuliert dem Gorki-Theater in Berlin zum fünfzigsten Jahr seiner Existenz. Besprechungen gelten dem 28. Jazzfestival in Willisau, einem Konzert der Berliner Philharmoniker unter Pierre Boulez in Luzern, einem Ballettabend zur Saisoneröffnung am Zürcher Opernhaus, einer Ausstellung der Künstlerin Elizabeth Peyton im Salzburger Kunstverein und einigen Büchern, darunter Daniela Fischerovas Erzählungsband "Fern und nah" und Andreas Münzners Romandebüt "Die Höhe der Alpen" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 03.09.2002

Jordan Mejias bringt aufregende Kunde aus den USA: "Bush liest Buch, Welt wartet auf Ergebnis", lautete eine Schlagzeile im New York Observer. Mejias hat sich die Urlaubslektüre des Präsidenten natürlich gleich besorgt. Es handelt sich um ein Werk mit dem Titel "Supreme Command". Der Verteidigungsexperte Eliot A. Cohen feiert darin eine politische Führerschaft in militärischen Dingen und nennt etwa Georges Clemenceau und Winston Churchill als Beispiele - dem Militär mangele es im Gegensatz zu solchen Charismatikern meist an Kühnheit. Die Pikanterie bei der Sache: "Die traditionelle Vorsicht des Militärs, das sich nur dann für eine Intervention stark macht, wenn das Nationalinteresse es gebietet, wenn die massive Unterstützung des Kongresses und der Bevölkerung gewährleistet ist und der militärische Schlag mit überwältigender Kraft den Sieg praktisch garantiert, ist in der Powell-Doktrin fixiert. Ihr Namenspatron, der sie nach bitteren Erfahrungen in Vietnam ausarbeitete, fungiert bekanntlich als Außenminister im Kabinett Bush. Dort wird ihm eine retardierende Kraft zugesprochen..." Hier eine lange Leseprobe aus dem Churchill-Kapitel.

Gina Thomas trägt weitere Informationen bei: In Bushs Büro steht eine Büste Churchills. "Und der Moderatorin Oprah Winfrey gestand Bush einmal: 'Ich liebe Churchill.'" Britische Intellektuelle beginnen nun sich zu wehren.

Weitere Artikel: Gerhard R. Koch macht nach den ruhmlosen Entlassungen William Forsythes in Frankfurt und Christoph Marthalers in Zürich auf den nächsten möglichen Fall aufmerksam - Ingo Metzmacher, Generalmusikdirektor an der Oper Hamburg, droht mit Abgang, wenn er nicht das vertraglich fixierte Budget erhält. Wolfgang Sandner resümiert das Schleswig-Holstein Musikfestival. Heinrich Wefing stellt die von Rafael Moneo entworfene Kathedrale in Los Angeles vor. Michael Althen bespricht Filme von Tonie Marhall und Todd Haynes in Venedig (siehe auch Robert Mattheis' Kolumne beim Perlentaucher, wo's um Doris Dörries neuen Film geht). Dietmar Polaczek meldet die Renovierung der Fresken in der römischen Kirche Trinita di Monti. Edo Reents hat sich beim Erlanger Poetenfest über die neuesten Tendenzen der Lyrik informiert. Mark Siemons beobachtet für die Wahlkampfserie Christian Ströbele bei seinem Berliner Wahlkampf.

Auf der letzten Seite berichtet Andreas Rossmann, dass die Zeche Zollverein zu einem der Zukunftsstandorte im Ruhrgebiet werden soll. Rainer Flöhl porträtiert den Oberst Börries von Ditfurth, der beim Hochwasser im Krisenstab des Innenministeriums unschätzbare Dienste leistete. Joachim Müller-Jung freut sich, dassein 9.000 Jahre altes Skelett, welches im Bundestaat Washington gefunden wurde, nach einem Gerichtsspruch nun der Wissenschaft zur Verfügüng steht - die Indianer hatten es als Vorfahren reklamiert und zeremoniel bestatten wollen. Auf der Bücher-und-Themen-Seite befassen sich verschiedene Autoren mit dem Thema des Duells. Auf der Medienseite stellt Bertram Eisenhauer die britische Sitcom "Coupling" vor, die jetzt bei Pro 7 läuft. Und Michael Hanfeld verfolgt die Auseinandersetzungen zwischen dem WAZ- und dem Springer-Konzern.

Besprochen werden ein "Siegfried" beim Festival von Edinburgh und eine Ausstellung mit Stilleben in der Villa Hügel.