Magazinrundschau

Fremd hier, fremd da

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
28.03.2023. The Atlantic denkt mit Norbert Elias über die Folgen einer gewalttätigen Gesellschaft nach und sieht die USA schon an der Kante. In HVG erklärt der Soziologe Iván Szelényi, wie die Orban-Regierung ihre eigene Intelligenzia produziert. Der New Yorker bewundert das Timing eines Elefantenorchesters. Newlines besucht Asia Bibi in Kanada. La regle du jeu beleuchtet das Verhältnis Marcel Prousts zu seinen rechtsextremen Freunden. Die LRB erklärt, wo das Seerecht versagt.

The Atlantic (USA), 01.04.2023

Die USA durchleben eine Phase der politischen Gewalt, die Adrienne LaFrance nur mit dem amerikanischen Anarchismus zu Beginn des 20. Jahrhundert oder mit den Bleiernen Jahren in Italien vergleichbar findet. Die Umstände ähneln sich: extrem große Ungleichheit, rasanter demografischer Wandel, identitätspolitische Verwerfungen, Verschwörungstheorien, für die heutigen USA kämen noch die lockeren Waffengesetze, die Sozialen Medien und Komplizenschaft der Republikaner mit gewaltbereiten Gruppen dazu, meint LaFrance. Das alles sei gut analysiert, nur scheine das Land trotzdem nicht zu wissen, wie es da raus kommt: "Amerikaner unterschätzen die politische Gewalt, weil sie chaotisch ist, so wie es die Italiener zu Beginn der Bleiernen Jahren taten. Manche tun sie als sporadisch ab und kümmern sich nicht weiter drum. Andere sagen, 'Weckt mich, wenn der Bürgerkrieg ausbricht.' … Der Soziologe Norbert Elias, der Deutschland Richtung Frankreich und dann Großbritannien verließ, als das Nazi-Regime Fuß fasste, beschrieb den Zivilisationsprozess als 'eine lange Abfolge von Schüben und Gegenschüben' und warnte, dass man eine gewalttätige Gesellschaft nicht einfach dadurch in Ordnung bringt, dass man die Faktoren beseitigt, die sie überhaupt erst kaputt machten. Gewalt und die ihr zugrunde liegenden Kräfte können uns von einem bloßen demokratischen Rückschritt, den wir bereits kennen, in einen Zustand der Entzivilisierung schleudern. In Zeiten der Entzivilisierung gelingt es Menschen nicht mehr, Gemeinsamkeiten zu finden, sie verlieren das Vertrauen in Institutionen und gewählte Politiker. Das geteilte Wissen schwindet, und die Bindungen in der Gesellschaft lösen sich. Unweigerlich greifen manche zur Gewalt. Wenn die Gewalt zunimmt, wächst auch das Misstrauen in Institutionen und Führungspersönlichkeiten, und so weiter und so geht es weiter. Dieser Prozess ist nicht unvermeidlich - er kann unter Kontrolle gehalten werden - aber wenn eine Phase des Blutvergießens lange genug anhält, gibt es keine Abkürzung zurück zur Normalität. Die Zeichen der Entzivilisierung sind unverkennbar."
Archiv: The Atlantic

HVG (Ungarn), 23.03.2023

Noémi Martini unterhält sich mit dem Soziologen Iván Szelényi über die Stellung der Intellektuellen in Ungarn und darüber, wie die Orban-Regierung ihre eigene Intelligenzia "produziert": "In der Kádár-Ära, in den siebziger, achtzigern Jahren waren die Intellektuellen betont liberal und konzentrierten sich ausgesprochen auf Budapest", erklärt Szelényi. "Dagegen hatte Fidesz von Anfang an ein angespanntes Verhältnis zu diesem Milieu, denn die Gründer der Partei waren meist Jungs vom Lande, die in erster Generation Akademiker waren und die sich in den Pester Intellektuellenkreisen überhaupt nicht heimisch fühlten. Es ist auch kein Zufall, dass zahlreiche herausragende liberale Intellektuelle in den Augen der Gruppe um Orbán zu unerwünschten Personen wurden. Sie versuchten diese Budapester Blase zu sprengen und statt dessen eine sagen wir nationale, patriotische Intelligenzia in Position zu bringen. (…) Es ist zwar eine allgemeine Auffassung in den Kreisen liberaler Intellektuellen, dass 'Fidesz keine Intellektuellen hat'. Aber was sehen wir? Wenn sie keine haben oder der Kreis doch sehr eingegrenzt ist, dann schaffen sie sich welche. Dafür gibt es verschiedene Methoden. Man 'produziert' ganz bewusst eigene Intellektuelle zum Beispiel an den Universitäten und in den Fachinternaten. Dass jemand Teil der 'nationalen Intelligenzia' sein darf, gilt in gewissen Kreisen als Auszeichnung mit gewissen Privilegien, und dafür sind viele Bereit sich loyal gegenüber der Macht zu zeigen."
Archiv: HVG
Stichwörter: Szelenyi, Ivan, Ungarn, Pest

New Yorker (USA), 03.04.2023

Der 66-jährige Komponist und Violonist Dave Soldier, der tagsüber als Psychiater und Neurologe David Sulzer arbeitet, hat ein eigenes Musikensemble zusammengestellt, erzählt uns Burkhard Bilger. Aus Elefanten. Sie sollen ihm helfen die Frage zu klären, was genau eigentlich Musik ist. "'Wenn mich jemand fragt, worauf ich mich wirklich konzentriere, sage ich, dass es die Basalganglien sind', erzählte mir Sulzer eines Nachmittags. 'Dort laufen die sensorischen Informationen aus dem Tastsinn, dem Gehör und dem Sehen zusammen. Wir standen in seinem Labor mit Blick auf den Hudson, an der Ecke Riverside Drive und 168th Street, und starrten auf ein Plastikgehirn. Die Verarbeitung von Klängen ist nur ein Anfang. Um der Musik einen Sinn zu geben, muss das Gehirn Verbindungen herstellen, die Sulzer in seinem Labor an der Columbia noch nicht nachvollziehen kann. Er muss auf andere wissenschaftliche Bereiche zurückgreifen. Als er im Jahr 2000 nach Thailand flog, um das Elefantenorchester zu gründen, ging er als Dave Soldier, Musiker. Seitdem arbeitet er bei seiner Arbeit mit Tieren meist als David Sulzer mit Experten für Vögel und Affen zusammen." Elefanten, fand Sulzer heraus, sind "instinktive Musiker, die ein so tiefes und klares Gespür für Timing und Ton hatten, dass es ihrer Biologie inhärent zu sein schien. Jeder Elefant im Orchester hatte seine ganz eigenen Talente und Interessen. Mei Kot konnte nicht aufhören, den Gong zu spielen. Phong bevorzugte die Ranat, eine Art riesiges Marimbafon. (Als Sulzer das zweite Album des Orchesters aufnahm, ging Phong mit seinem Schlägel auf die Ranat zu, improvisierte ein langes, kompliziertes Solo, ließ dann den Schlägel fallen und ging weg.) Prathida hatte ein exzellentes Timing - manche meinten, es sei sogar besser als das von Luk Kop - und eine Gabe, den Sweet Spot eines Instruments zu finden, wo es am besten klingt... Die Welt ist voller Musik, die wir nicht hören können, sagt Sulzer, versteckt in Botschaften und Melodien, Mustern und Harmonien, die sich die ganze Zeit durch und um uns herum bewegen, jenseits unserer Wahrnehmung. Sie steckt in den hohen Obertönen der wirbelnden Atmosphäre und den unterirdischen Akkorden der sich verschiebenden Erdplatten. In den Stimmen von Lebewesen, die auf Frequenzen weit oberhalb und unterhalb unserer Sprache kommunizieren. Mäuse, die einander mit Ultraschall anquieken, während sie sich auf gepolsterten Füßen durch unsere Wände bewegen. Vögel, die so schnell vorbeiflattern, dass wir ihre Lieder kaum hören - erst wenn wir ihre Melodien verlangsamen, klingen sie wie unsere... 'Wir stehen erst am Anfang', sagte mir Sulzer. 'Es gibt eine ganze akustische Welt um uns herum, die wir bisher ignoriert haben.' Nicht ganz die Harmonie der Sphären, aber Musik genug für diese eine."

Weiteres: Elizabeth Colbert liest über die Trickbetrüger unter den Tieren. Jill Lepore taucht in die Geschichte des Datensammelns ein. Kelefa Sanneh versucht dem christlichen Nationalismus in den USA auf die Spur zu kommen. Und Joanna Biggs stellt den amerikanischen Lesern Brigitte Reimann vor.
Archiv: New Yorker

Kontexty (Tschechien), 27.03.2023

Ivana Ryčlová unterhält sich mit dem russischen Redakteur des aus Prag sendenden Radio Svoboda / Radio Free Europe über die Geschichte des Senders und die derzeitige Situation. Ivan Tolstoy, der seinen Sender gar nicht unbedingt als politischen, sondern durchaus als Kultursender begreift, äußert sich über die russische Bevölkerung optimistisch. Solange es Putin gebe, habe das Land zwar moralisch und politisch keine Zukunft, was aber die russische Gesellschaft an sich betreffe, habe er Hoffnung: "Wenn Putin nicht mehr da ist, wird die russische Gesellschaft sich schneller erneuern, als man denkt, und uns noch überraschen. Das ist ein Spezifikum der russischen Gesellschaft. Historisch hat sie dafür gute Voraussetzungen. Die russische Gesellschaft hat sich in der Vergangenheit wiederholt zu verändern gewusst. Sie hat sich nach Stalins Tod gewandelt, nach der Revolution, nach dem Einmarsch 1968 in die Tschechoslowakei, nach der Perestroika. Diese Prozesse verlaufen in der russischen Gesellschaft ungewöhnlich schnell. Wie Puschkin einst sagte, der russische Mensch ist sehr anpassungsfähig. (…) Die Russen sind so wie ihre Regierung. Ist es eine liberale Regierung, ist die russische Gesellschaft liberal. Ist der Regent ein Tyrann, ist die russische Gesellschaft schrecklich und grausam."
Archiv: Kontexty
Stichwörter: Russland, Radio Free Europe

Desk Russie (Frankreich), 25.03.2023

Es war eine Gruppe französischer Anwälte, die vor dem Internationalen Strafgerichtshof Klage gegen Wladimir Putin wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder erhob. Der Anwalt Emmanuel Daoud erzählt im Gespräch mit Ksenia Tourkova, wie er von der Gruppe "Pour l'Ukraine, pour leur liberté et la nôtre", in der auch Jonathan Littell aktiv ist, auf das Thema gebracht wurde. Die Anwälte konnten die Beweise, die die Russen offen ins Netz gestellt hatten, schnell zusammentragen. Es handelt sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit genozidalem Charakter, ist Daoud überzeugt. Auf die Frage, ob er überrascht war, dass der Internationale Strafgerichtshof so schnell einen Haftbefehl erließ, antwortet Daoud: "Ich war davon überzeugt, dass der IStGH angesichts der Schwere der Verbrechen an den ukrainischen Kindern und ihren Familien sehr schnell reagieren musste. Also ja, es ist eine Überraschung im Vergleich zu der Zeit, die der Gerichtshof normalerweise braucht, bevor er internationale Haftbefehle ausstellt. Ja, es ist eine Überraschung, weil es das erste Mal ist, dass ein amtierender Staatschef eines Mitglieds des UN-Sicherheitsrats Ziel einer solchen gerichtlichen Handlung ist. Und nein, es ist keine Überraschung, denn angesichts der Schwere der Taten - es geht um die illegale Verschleppung und Verbringung von Kindern, den schutzbedürftigsten Menschen - musste reagiert werden."
Archiv: Desk Russie

La regle du jeu (Frankreich), 27.03.2023

Mit einem ziemlich faszinierenden Artikel startet Patrick Mimouni eine fünfteilige Artikelserie über Marcel Proust und die extreme Rechte. Er erzählt von Prousts Freundschaft zu Charles Maurras, dem tauben, aber wortgewaltigen Anführer der Action française, und zu Léon Daudet, Maurras' Kompagnon und engem Freund Prousts - aber sie durften sich nur heimlich treffen, schreibt Proust, der selbst Dreyfusard war, während Maurras und Daudet die Bewegung der Antidreyfusards anführten, die den Grundstein für den Antisemitismus des 20. Jahrhunderts legte. Mimouni unterstellt, dass Proust auch an der Freundschaft zu Daudet festhielt, weil er die "Affäre" in seinem Roman beleuchten wollte. Mimounis Beleg dafür ist die rechtsextreme Comtesse de Loynes, die die Action française finanzierte - und die das Vorbild für Odette in "Swanns Welt" ist. "Die Gesellschaftsreporter begannen sich erst nach dem Ausbruch der Dreyfus-Affäre für sie zu interessieren, eben weil ihr Salon dank Léon zum Hauptquartier der Antidreyfusards wurde. Der Salon von Odette, die zu Madame Swann wurde, entsteht im Roman auf die gleiche Weise, indem er von den gleichen Ereignissen profitiert, nur dass es Madame Verdurin ist, die Odette auf die Idee bringt - 'Madame Verdurin, bei der ein latenter bürgerlicher Antisemitismus erwacht war und eine regelrechte Hysterie erreicht hatte'. Bis dahin hatte die Comtesse de Loynes nur Männer empfangen. Sogenannte ehrbare Frauen konnten natürlich keine Beziehungen zu einer ehemaligen Prostituierten unterhalten. Dasselbe gilt für Madame Swann, eine Frau, die die Guermantes vor der Affäre niemals empfangen hätten. Es genüge nun, 'Tod den Juden!' auf ihren Sonnenschirm zu sticken, um in den Faubourg Saint-Germain aufgenommen zu werden, stellt die Herzogin von Guermantes fest. Die Judenfeindlichkeit öffnete nicht nur ehemaligen Prostituierten die Türen zu den Salons der Aristokratie, sondern ermöglichte es den antisemitischen Anführern, die Kontrolle über die royalistische Partei zu erlangen."
Archiv: La regle du jeu

Newlines Magazine (USA), 24.03.2023

Die Christin Asia Bibi war die erste Frau, die in Pakistan auf Grundlage des strikten Blasphemie-Paragraphen zum Tode verurteilt wurde, angeblich hatte sie den Propheten Muhammad in den Schmutz gezogen, erklärt Ailia Zehra im New Lines Magazine. Der Fall hatte international für Aufsehen gesorgt, der Druck der Öffentlichkeit hatte erreicht, dass sie das Land nach acht Jahren in der Todeszelle in Richtung Kanada verlassen konnte. Doch dort ergeben sich neue Schwierigkeiten, sie und ihr Mann sind Analphabeten, können kaum den Lebensunterhalt bestreiten, leiden unter gesundheitlichen Problemen. "Ihr Fall macht klar, wie schwierig es für Exilanten ist, die vor Traumatisierungen und Gewalt geflohen sind, sich an ein Leben in einem völlig neuen Umfeld wie Kanada zu gewöhnen. Das Land gewährt prominenten Regimegegnern und Unterdrückten Asyl. Die Fürsorge für die Geflohenen reicht aber oft nicht für die Bewältigung der Traumata und Traumafolgestörungen." Fremd hier, fremd da, beschreibt Zehra die Erfahrungen einer Dissidentin, die sich von verschiedenen Akteuren ziemlich im Stich gelassen fühlt: "Danach befragt, ob das pakistanische Konsulat in Kanada sich jemals bei ihr gemeldet habe, antwortet Bibi, dass sie keine Unterstützung von ihnen erwartet, da sie in ihrem Heimatland immer noch als Gotteslästererin gilt. Bei den Unruhen, die nach ihrem Freispruch ausgebrochen sind, wurden Plakate, die ihre Exekution forderten, gemeinsam mit hasserfüllten Parolen gegen sie und die christliche Gemeinde des Landes offen gezeigt. Anstiftung zur Gewalt und Hassrede sind in Pakistan strafbar, aber extremistische Gruppen kommen meist einfach so davon. 'Tehreek-e-Labbaik (eine dieser Gruppen) hat die Regierung aufgefordert, mich zu töten', macht sie klar, 'wie sollen sie mich unter diesen Umständen unterstützen?'" Sie ist resigniert: "Viele derjenigen, die mich genutzt haben, um Geld zu scheffeln, haben mich mittlerweile vergessen."

Elet es Irodalom (Ungarn), 24.03.2023

Der Historiker, Schriftsteller und Kritiker János Kenedi war seit 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des 2019 geschlossenen 1956er Instituts und bis zu seiner Auflösung im Jahre 2010 war er Vorsitzender der Kommission zur Vorbereitung und Kontrolle eines Gesetzes zur Aufarbeitung der Unterlagen der ungarischen Staatssicherheitsapparate vor 1989 (welches nach dem Regierungswechsel 2010 nicht verabschiedet wurde). Kenedi spricht mit Paula Marsó u.a. über die verpasste Chance nach der Wende, eine Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen nach dem Vorbild der Gauck-Behörde in Deutschland anzustoßen, aber auch über Versäumnisse der die öffentliche Meinung formenden Akteure: "Es wurden freilich schlechte Gesetze verabschiedet, aber die Journalisten haben es versäumt, das System der politischen Polizeiapparate zu analysieren. Es wurden lieber Einzelfälle skandalisiert, obwohl es auch die Möglichkeit gegeben hätte, die gesellschaftliche Selbstkenntnis zu erweitern. (…) Gauck selbst war nicht nur Initiator der Aufdeckung der Vergangenheit. Er passte in eine institutionelle Tradition. In die Tradition der Gruppe 47. Diese literarische Gesellschaft machte es sich nach dem Fall des Nazi-Reichs zur Aufgabe, die Bevölkerung demokratisch zu erziehen. Sie fungierte zwischen 1947 und 1967 und setzte ebenfalls eine Tradition fort, nämlich die der 1898 gegründeten spanischen Generación del 98, die gegen die Geschichtsfälschung mobilisierte. Obwohl die Schriftsteller der Gruppe 47, Heinrich Böll, Günter Grass, Paul Celan, Walter Jens und andere in Ungarn bekannt waren, gab es unter den Meinungsmachern niemanden, der die Umbettung dieser Tradition in Ungarn nach der Wende in Angriff genommen hätte. Das ist ein größeres Versäumnis als das Fehlverhalten der Gesetzgebung."

Slate (USA), 21.03.2023

Das Abtreibungsverbot in Texas führt zu absurden und gefährlichen Zuständen in Krankenhäusern, berichtet Sophie Novack, die mit betroffenen Ärzten und Ärztinnen gesprochen hat. Während viele von ihnen den Bundesstaat schon verlassen oder ihren Beruf sogar ganz aufgegeben haben, geraten die Gebliebenen in ein katastrophales Dilemma: "Eineinhalb Jahre nachdem Texas das Abtreibungsverbot ab der sechsten Schwangerschaftswoche eingeführt hat ... sagen Ärzte, dass sie unmöglichen Situationen ausgesetzt sind, die sie zwingen, ihre ethischen Verpflichtungen gegenüber Patientinnen, die mit traumatischen und gefährlichen Schwangerschaftskomplikationen kämpfen, gegen die Angst vor Gerichtsverfahren, dem Verlust ihrer ärztlichen Zulassung oder Inhaftierung abzuwägen. Eine Klage, die diesen Monat eingereicht wurde, verdeutlicht das Problem: Fünf Frauen und zwei Gynäkologen beschuldigen den Bundesstaat Texas, mit den Abtreibungsverboten so viel Verwirrung und Angst beim medizinischen Personal ausgelöst zu haben, dass es die Gesundheit von Frauen beeinträchtige und sogar deren Leben bedrohe. Unsicher, wie sie die neuen Gesetzen anwenden sollen, haben Krankenhäuser diese unterschiedlich interpretiert, manche benötigen die Zustimmung eines Anwalts oder einer Ethikkommission, damit Ärzte in medizinischen Notfällen Abtreibungen durchführen können. Andere überlassen die Entscheidung Einzelpersonen, ohne wirkliche Unterstützung oder Anleitung anzubieten. Das führt dazu, dass manche Ärzte warten, bis Patientinnen dem Tod nahe sind, bevor sie in Notfälle eingreifen …" Lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch eine Reportage im Guardian über die Ärztin Leah Torres, die in Alabama legale Abtreibungen durchgeführt hatte und dennoch mit Gerichtsverfahren überzogen wurde.
Archiv: Slate
Stichwörter: Abtreibung USA, Abtreibung

Eurozine (Österreich), 23.03.2023

Am 2. April wählen die BulgarInnen zum fünften Mal innerhalb von drei Jahren ein neues Parlament. Pro-westliche und pro-russische Parteien stehen sich ungefähr gleich stark und gleich kompromisslos gegenüber, schreibt Rumena Filipova, Frustration und Resignation nehmen in der zermürbten Bevölkerung zu: "Bulgariens demokratisches Dilemma spielt sich also in einer komplizierten Matrix ab, in der das Aufkommen der pro-demokratischen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten im Jahr 2020 und die Kompromisslosigkeit gegenüber den politischen Kräften des Status quo auch reichlich Raum für antidemokratische Tendenzen lassen. Mit anderen Worten: Der in die Länge gezogene Prozess des erzwungenen Wandels hat ein Umfeld der Instabilität und mangelnden Verantwortung gefördert. Die Unbeständigkeit der politischen Landschaft bietet ausländischen Akteuren - insbesondere Russland - die Möglichkeit, Einfluss auf die bulgarische Politik, die Wirtschaft und die Medien auszuüben. Lokale Stellvertreter und korrupte Netzwerke fungieren als Kanäle für autoritäre Einflussnahme. Die jüngsten Sanktionen, die die USA und das Vereinigte Königreich gegen bulgarische Politiker und Geschäftsleute verhängt haben, die in Korruptionsgeschäfte mit Russland verwickelt sind, insbesondere im Energiebereich, zeigen, wie groß die Herausforderung ist. Die Verstrickung Bulgariens in korrupte russische Aktivitäten stellt nicht nur eine Bedrohung für die Stabilität und Transparenz im eigenen Land dar, sondern macht das Land auch zu einer strategischen Schwachstelle in der EU und der NATO, die ein Risiko für die Finanzsysteme der internationalen Partner darstellt."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Bulgarien, Nato

London Review of Books (UK), 30.03.2023

Schiffe auszuflaggen ist gängige Praxis, lernt Laleh Khalili aus zwei neuen Büchern über verwaiste Seeleute: Dabei wird ein Schiff in einem anderen Land wie etwa Panama oder Honduras registriert, um Steuern zu sparen und arbeitsrechtliche Bestimmungen zu umgehen. Für die Reedereien sehr praktisch, entbindet sie das doch oft auch von der Verpflichtung, sich um ihre Besatzung zu kümmern, wenn eine Pandemie sie an Bord festkettet - sie macht die Seeleute zu Verantwortlichen für das Schiff, anstatt sich selbst zu kümmern. Diese Schattenseiten bekam der Syrer Muhammad Aisha zu spüren, der jahrelang von den ägyptischen Hafenbehörden als einziger auf einem Schiff festgehalten wurde mit der Begründung "unbezahlter Löhnen, unzulänglicher Bestimmungen, unmenschlicher Bedingungen, ausgelaufener Verträgen. Der Besitzer teilt der Crew mit, er habe kein Geld, sie zu bezahlen oder zu ersetzen. Die indischen Besatzungsmitglieder haben eine Gebühr bezahlt, um überhaupt angestellt zu werden. Der zuständige indische Agent ist nicht aufzuspüren, der Besitzer des Schiffs reagiert nicht. Die vorherige Crew wurde auch nicht bezahlt. Das Schiff wird von drei Gläubigern festgehalten.' Die Familien der ägyptischen und indischen Crew-Mitglieder haben sie vom Schiff freigekauft, aber einer muss Verantwortung für das Schiff übernehmen, die ägyptischen Gerichte bestimmten dazu Aisha. Er ist verpflichtet, auf einem Schiff ohne Treibstoff, ohne Elektrizität, Essen oder Wasser zu bleiben, alle paar Tage kann er kurz an Land kommen, um das Nötigste abzuholen und sein Handy zu laden. Zu dem Zeitpunkt als die Ever Given im Suez-Kanal feststeckte, hatte er schon fast vier Jahre auf der Aman gelebt und litt unter Mangelernährung, Anämie und Depressionen. Erst durch die mediale Aufmerksamkeit, die nach dem Ever-Given-Desaster auch auf die Aman übergeschlagen ist, hat sich die ägyptische Regierung bereit erklärt, ihn freizulassen und er hat das Schiff im April 2021 verlassen können. Der verwaiste Schiffsrumpf liegt nach wie vor dort vor Anker."
Stichwörter: Seerecht