9punkt - Die Debattenrundschau

An der Schwelle einer Barbarei

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2015. Die Snuff Videos des Islamischen Staats machen Schule, konstatiert Bernard-Henri Lévy in Le Point mit Blick auf die Messerattacken in Israel. Die NZZ zeigt, wie sich russische Künstler ans Gängelband des Staates ketten lassen. In der SZ fordern Aladin El-Mafaalani und Mark Terkessidis ein Bundesministerium für Migration. Slate.fr fragt, ob der Islamismus ein Totalitarismus ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.10.2015 finden Sie hier

Europa

Sicher hat die russische Intelligenzia auch viel falsch gemacht, aber der Druck, unter dem sie heute steht, ist gewaltig, entnimmt man Ulrich M. Schmids sehr lesenswertem Artikel in der NZZ: "Mit Wladimir Medinski ist heute ein Kulturminister im Amt, der die Kultur als 'gemeinsame Schaffenstätigkeit des Staates, der Zivilgesellschaft und der Künstler' betrachtet. In einem Artikel, der im Juni in der regierungsnahen Zeitung Iswestija erschien, erteilte Medinski einer liberalen staatlichen Kulturpolitik eine klare Absage. Er kritisierte, dass die Künstler im Grunde genommen Verhältnisse wie unter Stalin wollten, nur ohne Stalin: Der Staat solle für alles bezahlen, aber sich überhaupt nicht in die Kulturproduktion einmischen. Medinski steht für die Gegenposition: Die staatlich geförderte Kultur ist heute in Russland offiziell Teil der nationalen Sicherheitsstrategie. Künstler, Staat und Gesellschaft müssen für die gleichen Werte einstehen und so das gemeinsame nationale Projekt vorantreiben."

Raphael Gross kommentiert in der FAZ das jüngste Schweizer Wahlergebnis und den von Lukas Bärfuß ausgelösten Streit um das Schweizer Modell (unsere Resümees): "Damit ist leider das eingetroffen, was der größte, rechtsstaatlich orientierte Demokratietheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts, Hans Kelsen, bereits in den zwanziger Jahren angemahnt hatte: Direkte Demokratien können sich leicht selbst gefährden. Die Demokratie kann sich auch gegen ihre eigenen Fundamente wenden, insbesondere gegen den Rechtsstaat und dessen Organe."

Aladin El-Mafaalani und Mark Terkessidis fordern in der SZ ein Bundesministerium für Migration: "Zurzeit ist die außerordentliche Zusammenarbeit von Bürgern, Verwaltung, Bundeswehr, Polizei und Sozialarbeit auf kommunaler Ebene beachtlich. Dort, wo in der Zivilgesellschaft und bei den Professionellen Frust entsteht, liegt es an der Diskrepanz zwischen dem großen Engagement und dem fehlenden Plan. Die produktive Kollaboration aller Akteure braucht eine strategische Rahmung, die die Zuständigkeiten und Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen zentral koordiniert und auch langfristig vorausplant."

Weiteres: In Turin wurde der neapolitanische Schriftsteller Erri De Luca vom Vorwurf des Aufrufs zu einer strafbaren Handlung freigesprochen, meldet Henning Klüver in der NZZ. De Luca hatte in einem Interview mit der italienischen Huffington Post 2013 erklärt, die umstrittene Hochgeschwindigkeitsstrecke (TAV) zwischen Turin und Lyon "gehöre, auch unter Einsatz von Drahtscheren, 'sabotiert'". Und David D. Krikpatrick hat sich für die New York Times (schon am Sonntag) auf die Spur der Flüchtlinge begeben, die vor einigen Wochen in einem Kühllaster in Österreich erstickten.
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Politik

Bernard-Henri Lévy kommentiert in Le Point die Serie der Messerattacken auf zufällige Passanten in Israel: "Unerträglich die kleine Mythologie, die sich bereits um diese Dolche rankt: die Waffe des Armen? Wenn ich diese Klingen sehe, denke ich daran, wie Daniel Pearl zu Tode kam. Ich denke an die Enthauptungen von Hervé Gourdel, James Foley oder David Haines. Ich denke, dass die Videos von Daesch tatsächlich Schule gemacht haben und dass wir uns an der Schwelle einer Barbarei befinden, die bedingungslos angeprangert werden muss, wenn wir nicht wollen, dass sie ihre Methoden überallhin - und ich meine überallhin - exportiert."
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Kulturpolitik

Sieglinde Geisel besucht für die NZZ den seit 2001 verfallenden Spreepark in Ostberlin, den inzwischen der Liegenschaftsfonds der Stadt Berlin gekauft hat, nachdem der Vorbesitzer hatte Insolvenz anmelden müssen: "1994 hatte der Senat den Plänterwald, in dem sich der Spreepark befindet, zu einem Landschaftsschutzgebiet erklärt, damit fielen die Parkplätze weg sowie ein Drittel der Nutzfläche."

Patrick Bahners meldet in der FAZ, dass der geplante Münchner Konzertsaal nun womöglich auf dem Pfanni-Gelände hinter dem Ostbahnhof oder dem Gelände der Paketposthalle westlich des Hauptbahnhofs errichtet wird.
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Gesellschaft

In der Welt erzählt Sören Kittel, wie der südkoreanische Psychiater Lee Tae-kyung seine spielsüchtigen Patienten mit Michael Endes "Momo" behandelt: "Erst stückweise lernen die Probanden, dass Lebenszeit etwas Besonderes, vielleicht das einzige Wichtige am menschlichen Leben ist. 'Denn Zeit ist Leben', heißt es bei Michael Ende. 'Und das Leben wohnt im Herzen.' Das sind große Worte, die auf Koreanisch ebenso poetisch klingen, aber die vor allem Gesprächsbedarf liefern. 'Für die Spielenden vergeht doch die Zeit bewusst schneller', sagt Lee Tae-kyung. 'Und es gibt kein einziges Onlinespiel, bei dem man sich während des Spielens eine Uhr anzeigen lassen kann.'"

Michael Pilz besucht für die Welt das neue Deutsche Fußballmuseum des DFB in Dortmund, "so unterhaltsam, überwältigend und prächtig, wie es sich gehört, wenn sich der deutsche Fußball eine Kirche baut, eine katholische".
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Ideen

Einiges spricht dafür, den Islamismus als einen dritten Totalitarismus zu betrachen, auch wenn der Begriff umstritten ist, schreibt Robin Verner in Slate.fr: "Auch wenn diese Denkströmungen eine lange Vorgeschichte hatten, kommen sie doch beide in der Zwischenkriegszeit zur Welt. Nach der Gründung ihrer Organisation im Jahr 1928 suchen die Muslimbrüder den Kontakt zu den Nazis. Sayyid Qutb, einer der Intellektuellen des Bewegung schreibt sogar ein Buch mit dem Titel 'Unser Kampf gegen die Juden', das zum Teil von Nazischriften in arabisch inspiriert ist."
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