9punkt - Die Debattenrundschau

Madrid mag euch

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2017. In Katalonien zieht der Schatten des Referendums auf: Die taz berichtet über Solidarität mit den Sezessionisten außerhalb der Region, die FAZ über die Spaltung der Gesellschaft innerhalb der Region. In der FR macht sich Robert Menasse Sorgen über das deutsche Problem mit der deutschen Führungsrolle in Europa. Politico.eu zeigt, wie der Brexit Australien und Neuseeland inspiriert.  Netzpolitik bringt einen Nachruf auf die Piratenpartei.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.09.2017 finden Sie hier

Europa

Der litauische Schriftsteller Marius Ivaskevicius beschreibt in einem Reiseessay für die NZZ die Spannungen zwischen Litauen, Weißrussland und Russland, die in Litauen immer größer werdende Angst vor einem Krieg mit Russland und die Enttäuschung der Litauer über das Desinteresse der EU an ihrer bedrohlichen Situation: "In Vilnius höre ich schon immerzu Diskussionen darüber, ob es im September Krieg geben wird. Und ein solches Leben in ständiger Angst, in Erwartung eines Krieges, ist unglaublich anstrengend. Es zermürbt die Menschen, und es destabilisiert die Gesellschaft. Ein Mann, der darüber nachdenkt, wie er in einer Woche, wenn der Krieg anfängt, seine Familie weiter weg, in den Westen, schicken, sich selbst ein MG besorgen und in den Kampf ziehen könnte, ist nicht mehr derselbe Mann. Er hat immer weniger Humor und ist immer weniger empfänglich für Nuancen und Zwischentöne".

Im Interview mit der FR spricht der österreichische Autor Robert Menasse über Brüssel, Auschwitz als "Ort der europäischen Zukunft" und die, wie er findet, überhebliche "Führungsrolle" Deutschlands in der EU: Angela Merkel "steht allein in der europapolitischen Verantwortung, weil sie deutsche Regierungschefin ist. Das ist Merkels Problem: Sie muss bei allem, was sie europapolitisch tut, signalisieren: Es ist ja zum Besten Deutschlands. Merkel macht internationale Politik als Innenpolitik. Deshalb erscheint das so wenig empathisch. Deshalb auch die Debatte, Deutschlands Führungsrolle neu zu definieren - mit mehr Demut oder mehr Selbstbewusstsein. Das Problem ist eine gewisse Asynchronität. ... Die EU ist gegründet worden, damit Deutschland keine Führungsrolle in Europa mehr einnehmen soll. Übrigens auch kein anderes Land. Das ist das Besorgniserregende."

In der SZ fürchtet der niederländische EU-Politiker Adriaan Schout, dass die Deutschen in der EU zu viele Kompromisse eingehen - vor allen zugunsten Frankreichs und der südlichen Länder - und damit die kleinen EU-Staaten überfordern: "Die Niederlande teilen sich mit Deutschland Visionen und Interessen. ... Beide Länder wollen eine regelbasierte europäische Integration und einen regelbasierten Euro. Zu dieser ordnungsliberalen Einstellung gehören der Respekt vor Regeln, die unabhängige Aufsicht über die Wirtschaft der Mitgliedsländer und eine unabhängige EZB. Dieses Modell wird zynisch als 'deutsches Europa' diffamiert. Ihm stehen die Ambitionen der südlichen Länder entgegen, die auf eine flexiblere, politischere und auf Solidarität basierende Euro-Zone hoffen. ... Die Tragik liegt darin, dass Deutschland nur sehr widerwillig das 'deutsche Europa' verteidigt. Dadurch wird es zu einem riskanten Partner für die nördlichen Länder."

Rainer Wandler berichtet in der taz über Solidarisierungen mit den katalanischen Separatisten außerhalb der Region. Selbst in Madrid fand eine Kundgebung gegen den Zentralstaat statt, der die Vorbereitungen für das geplante Referendum am 1. Oktober als illegal verfolgt: "Es war viel von 'Meinungsfreiheit', 'Repression', 'Ausnahmezustand' und von 'dem demokratischen Recht abzustimmen', die Rede. Katalonien sei nur der Anfang. Die Einschränkungen demokratischer Rechte drohten auch im restlichen Spanien. 'Katalanen, Madrid mag euch!' rief die Moderatorin der Veranstaltung in Madrid. 'Sie werden nicht durchkommen!', antworteten die Menschen mit jenem Ruf, mit dem Madrid in den 1930ern jahrelang der Belagerung durch faschistische Truppen im spanischen Bürgerkrieg trotzte."

"Der 1. Oktober, was immer er sonst noch an Peinlichkeiten hervorbringen mag, ist das Fanal des gesellschaftlichen Bruchs", schreibt Paul Ingendaay in der FAZ zum kommenden katalanischen Referendum und schildert, wie das Thema die ganze Region unheilbar spaltet, und das Referendum wird diese Spaltung noch vertiefen: "Freunde sprechen nicht mehr mit Freunden, wenn die Rede auf die alles entscheidende Frage kommt: Wie hältst du''s mit der Unabhängigkeit? Familien errichten Tabus um das Thema, damit sie friedlich miteinander zu Abend essen können. Menschen in Büros, im Betrieb, bei beiläufiger Plauderei im Café verschweigen ihre politische Meinung, weil sie andernfalls massiven Streit riskieren oder gleich als prospanische 'Faschisten' beschimpft werden."

Christian Lindner
überstrahlt in diesem Wahlkampf alle, ächzt Peter Unfried in der taz: "Ich dachte: Booaah, was für ein gnadenlos brillanter Performer. Der macht mich hier alle. Scheiße."

Die Piratenpartei hat zwar leider auf ganzer Linie versagt, aber das gilt längst nicht für alle Personen, die sie hervorbrachte, schreibt Anna Biselli bei Netzpolitik: "Es gab und gibt viele Menschen in der Piratenpartei, die es geschafft haben, die Politik der letzten Jahre zu beeinflussen - vor allem auf regionaler Ebene. Sie haben geholfen, Themen wie die Transparenz von Entscheidungen und Finanzen ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken und manche andere Partei zum Nachdenken gebracht. Sie haben in vielen Kommunen Freifunk vorangebracht... Julia Reda als einzige Piratenabgeordnete im EU-Parlament kämpft weiterhin energisch für ein zeitgemäßes Urheberrecht. Ihr Bericht wurde mit großer Mehrheit vom Parlament angenommen."
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Politik

Bisher warteten sie höflich auf das Begräbnis der Queen, aber seit dem Brexit werden die Republikaner in Neuseeland und Australien, die eigene Staatsoberhäupter wollen, immer stärker, berichtet Zoya Sheftalovich für politico.eu aus Sydney und zitiert einen wichtigen australischen Poliker: "'Wir könnten warten, bis die Queen stirbt und uns aus dem Hinterausgang schleichen, während die Welt Adieu sagt', sagt Peter FitzSimons, der Anführer der republikanischen Bewegung in Australien und greift eine Stimmung im Land auf. 'Oder wir könnten gehen, solange die Queen noch jung genug ist, uns die Schlüssel zu überreichen. Wir können aufstehen wie ein Mann und ihr eine donnernde Standing Ovation geben und sagen: 'Your Majesty, danke. Ab jetzt machen wir alleine weiter.'"
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Gesellschaft

Wo wenig Fremde leben, sind die Rechten am erfolgreichsten, heißt es immer. Frankfurt scheint das zu bestätigen, erklärt Paul Middelhoff auf Zeit online. Dort ist der Ausländeranteil so hoch wie nirgends sonst in Deutschland, der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund beläuft sich auf 51,2 Prozent, trotzdem tut sich die AfD hier schwer: "Das Paradoxe am Erfolg der AfD wird erkennbar, wenn man die Großstadt Frankfurt mit dem Vogtland vergleicht: In Plauen, einem Städtchen im tiefsten Sachsen, strömten kürzlich über eintausend Menschen zu einer Veranstaltung mit Parteichefin Frauke Petry, die AfD wird hier in zwei Wochen wohl erneut ein Traumergebnis erzielen. Der Unterschied zu Frankfurt? Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund liegt im Vogtland bei 6,3 Prozent."
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Stichwörter: AfD, Migrationshintergrund

Medien

Die Welt stellt ja nicht mehr so viel online. Aber dass die Rede des Springer-Verlegers und Vorsitzenden des Verbandes der Deutschen Zeitungsverleger Mathias Döpfner an die Öffentlichkeit kommt, die heute allein durchs Internet hergestellt wird, wurde sichergestellt! Döpfner macht eine lange Tour d'horizon durch die beklagenswerte Weltlage - Terrorismus, Künstliche Intelligenz -, um im letzten Drittel zum Eigentlichen zu kommen und an die Politik zu appellieren. Denn "Journalismus informiert, unterhält und bildet - und prägt damit letztlich den wahren Souverän der Demokratie: den mündigen Bürger. Nur dieser mündige Bürger und nicht etwa der bevormundete oder durch monopolistische Plattformen unmündig gemachte Bürger kann auf Basis von richtigen und relevanten Informationen und Erkenntnissen richtig entscheiden, was er will. Auf dass die von ihm gewählten Politiker dann die Weichen richtig stellen."
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Überwachung

In der SZ stellt Adrian Lobe die "Sousveillance"-Bewegung vor, die die Überwacher überwachen will. So richtig kann ihn deren Ansatz aber nicht überzeugen: "Als im Juli 2016 der Afroamerikaner Philando Castile wegen eines defekten Rücklichts in eine Verkehrskontrolle geriet und durch die Schüsse eines Polizisten starb, filmte seine Beifahrerin mit ihrer Handykamera - und streamte alles live auf Facebook. Es ist ein paradigmatischer Anwendungsfall der Gegenüberwachung. Das Problem ist, dass Smartphones sogenannten Dual-Use-Charakter haben: Sie sind Kontroll- und Überwachungswerkzeug in einem. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Als Apple in seiner iPhone-Reihe unter dem Jubel der Tech-Blogs eine Frontkamera integrierte, war das nicht nur ein nettes Feature für die sendungsbewusste Generation Selfie, sondern vermittelte auch Botschaft: Wir beobachten dich! Die Äußerlichkeit von Überwachung kehrt sich nach innen. Allein, wer bewacht die Wächter?"
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