Literatur / Sachbuch

Sachbücher

Bei den Sachbüchern ist es ein wenig ähnlich wie in der Literatur: Das Buch für die Insel war nicht dabei. Aber wer einen Lastenesel mit auf die Insel nehmen darf - der könnte glatt einen ganzen Koffer vollpacken!

Geschichte und Kulturgeschichte

Hier gab es immerhin einen eindeutigen Favoriten: Wolfgang Schivelbuschs "Kultur der Niederlage" gehört zu den meist besprochenen Büchern in den Beilagen. Schivelbusch untersucht, wie die amerikanischen Südstaaten nach 1865, Frankreich nach 1871 und Deutschland nach 1918 mit ihren militärischen Niederlagen umgingen. Die Kritiken waren gespalten. Franziska Augstein, die Tochter des Spiegel-Herausgebers, betrachtet das Buch in der SZ aus einer dezidiert linken Perspektive und findet es apolitisch, ja reaktionär in seinem Assoziationsreichtum. Auch Stefan Reinecke (taz) findet manche Parallelziehung Schivelbuschs zwischen den einzelnen Ländern ziemlich gewagt, aber eben auch brillant. Die Lektüre scheint ihm gerade deshalb Spaß gemacht zu haben. Äußerst positiv dann Ulrich Speck in der FR, der die Hauptthese des Buchs schön zusammenfasst: "Der Sieger trägt zwar den Sieg davon, der Verlierer aber die Chance zur Erkenntnis." Sehr positiv, trotz mancher Einwände, auch die Kritiken in der NZZ und in der FAZ.

Die Kulturgeschichte war mal wieder reich an Einfällen. Die Zeit bespricht etwa Otto F. Bests "Sprache der Küsse" bislang zwar als einzige, aber Hella Kempers Kritik ist anregend: Sie lobt gerade das vergleichsweise Trockene der Lektüre, die seriöse historische Aufbereitung des Themas. Allerdings hätte sie sich ein paar Illustrationen gewünscht. Weniger positiv war Ulrich Stocks Reaktion auf eine Geschichte des Penis, ebenfalls in der Zeit: "Unter dem Feigenblatt" von Maggie Paley. Er findet es zu Amerika-fixiert. Einige der wenigen Bemerkungen zur europäischen Geschichte des Organs falle zu Kafka und sei überdies wenig schmeichelhaft: "acht Zentimeter".

Viel besprochen dagegen - zeigen sich da etwa die eigentlichen Vorlieben unserer Rezensenten? - ist Niklaus Largiers "Lob der Peitsche", das im Untertitel eine "Kulturgeschichte der Erregung" verspricht. Das Instrument scheint darin aus allen politischen, psychologischen und theologischen Facetten vorgeführt zu werden. Christina Braun fühlte sich durch das Buch zu einer sehr ausführlichen Besprechung in der NZZ inspiriert. Sie lobt die vielen Illustrationen des Bandes, hebt aber hervor, dass er doch vor allem die religiösen Aspekte des Themas - die Selbstgeißelung - zu privilegieren scheint. In der FAZ hat der berühmte Historiker Hans Ulrich Gumbrecht ("1926") höchstpersönlich den Band besprochen. Er kann sich an der "soliden Sachkenntnis" des Autors, seiner erstaunlichen Belesenheit und vor allem seinem bemerkenswerten Darstellungstalent nicht genug erfreuen. Endlich mal eine Lektüre, die Erregung und Erbauung verbindet!

Politik

Eins ist sicher: Dies ist ein Herbst der Politikerbiografien. Ist die Leserschaft etwa auf der Suche nach dem starken Mann? Charles Williams' Adenauer-Biografie wurde bisher nur von Daniel Koerfer in der Zeit besprochen, und dies auch noch recht kritisch: Richtig geärgert hat er sich über die Behauptungen des Autors, Adenauer habe den Kalten Krieg wesentlich mitgeschürt, Chancen für eine Wiedervereinigung in den 50er Jahren erfolgreich vereitelt und sämtliche Positionen im Staatsdienst mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzen lassen.

Dass Gregor Schöllgens Biografie über Willy Brandt mit großem Interesse erwartet wurde, zeigt schon der Name eines der Rezensenten: Hans-Jochen Vogel, Nachfolger im Amt des SPD-Vorsitzenden, hat das Buch für die SZ gelesen. Er kommt zu einem abgewogenen Urteil: Gut lesbar sei der Band, aber gestört hat Vogel gerade, was andere vielleicht am meisten interessiert - dass Schöllgen offensichtlich auch ausführlich auf Brandts Privatleben und auf seine Rivalität zu Helmut Schmidt und Herbert Wehner eingeht. Daniel Koerfler sieht die Sache in der taz dann auch entspannter und liest das Buch als sensibles Psychogramm eines 'Gescheiterten'. Recht positiv auch die Besprechung von Rainer Blasius in der FAZ. Er verteidigt die persönliche Darstellungsart Schöllgens mit dem Argument, dass es hier darum gehe, eine komplexe Politikerfigur einem breiten Publikum nahezubringen.

Äußerst gewichtig, nämlich 1.427 Seiten dick, ist John C.G. Röhls "Wilhelm II." Und dies ist bereits der zweite Band eines monumentalen Unterfangens. Johannes Willms erwartet in der SZ von dem Band eine "umfassende Revision des preußisch-deutschen Geschichtsbildes der Epoche vor 1815 bis 1933", allerdings nicht so sehr wegen der Wertungen des Autors, sondern wegen des ungeheuren Materialreichtums, der das Buch zur Quelle für weitere Historiker werden lässt. In der FR feiert Wilhelm von Sternburg den Band schlicht als Standardbiografie. Und in der Zeit äußert sich Volker Ullrich schwer beeindruckt von dem Band, auch wenn er findet, dass der britische Historiker manchmal über der Konzentration auf seine Hauptperson den historischen Kontext vernachlässigt.

Ohne Kommentar sei auf Thomas Kunzes Band über die letzten Jahre Erich Honeckers, auf Evelyn Rolls Buch über Angela Merkel und auf die Erinnerungen Rainer Barzels hingewiesen.

Philosophie

Allüberall abgefeiert wurde Jürgen Habermas' Band "Die Zukunft der menschlichen Natur", in dem seine Einlassungen zur Bioethikdebatte versammelt sind. Bravourös findet ihn die Zeit, die anderen sehen ihn kritischer.

Auch französische Philosophen spielen eine große Rolle in dieser Saison. Die NZZ und die FAZ liefern ausführliche Kritiken von Michel Foucaults "Dits et ecrits", auch ein großes Vorhaben, denn hier werden in den nächsten Jahren die verstreuten Essays und Interviewäußerungen des Poststrukturalisten versammelt. Bernhard Dotzler zeigt sich in der NZZ anlässlich des ersten Bandes erstaunt, welch große Rolle die Literatur im Oeuvre Foucaults spielte. Andreas Platthaus sieht ihn in der FAZ schon in den frühen Jahren als Streiter für das wilde Denken. Platthaus lobt auch ausdrücklich die sicherlich nicht einfache Übersetzung dieser Schriften.

Zu annoncieren ist auch ein nachgelassener Band eines der "trübsinnigsten Menschen des 20. Jahrhunderts". In den "Cahiers" des ungarisch-französischen Philosophen Cioran finden sich bisher unbekannte "Maximen und Gedankensplitter" des für die Schwärze seines Denkens berühmten Autors. Wolf Lepenies beginnt seine Kritik des Bandes "In der Seele ein Deserteur" in der SZ rundheraus negativ - und erliegt am Ende doch der Faszination, als er Ciorans Sinn fürs Lächerliche entdeckt. Auch Jürg Altwegg findet in der FAZ, dass die Aphorismen des Bandes hinter den bisher veröffentlichten nicht zurückstehen. Die Themen sind nicht neu, schreibt er: "Ekel vor der Geburt", "Abscheu vor der Ehe". Aber Altwegg ist süchtig: Der Leser, glaubt er, "wird auch noch die hundertste Schilderung einer schlaflosen Nacht nicht missen wollen".

Gesellschaft

Eine Amerikanerin auf den Spuren Günter Wallraffs? Barbara Ehrenreich hat sich für "Arbeit poor" in unterbezahlten "McJobs" in den USA verdingt, um die Lebensbedingungen der "Working Poor" zu erkunden. Glaubt man den Kritiken, so ist dabei eine äußerste lesenswerte, auch witzige und gut dokumentierte Reportage herausgekommen. Lutz Ellrich nennt das Buch in der FR zwar ein wenig narzisstisch, aber er zeigt sich beeindruckt von der Lektüre und teilt das Resümee der Autorin: "Die freiheitlichste Nation der Erde ist eine tief gespaltene Gesellschaft". Dirk Knipphals lobt in der taz die distanzierte Professionalität von Ehrenreichs Text ("dies ist Journalismus, Baby") und nennt das Buch als einen der seltenen Blicke auf die Hinterhofseite von Amerikas Reichtum.

Kunst

Im Bereich Kunst findet vor allem Joachim Fests Porträt des Künstlers Horst Janssen große Beachtung. Die SZ findet das Buch "eines der schönsten" und den Berserker plastisch widergegeben. Die FAZ konstatiert einen "perfekten Gegensatz zwischen Künstler und Porträtisten" und meisterhafte Darstellung.

Großes Lob gibt es aber auch für David Hockneys "Geheimes Wissen" über die Techniken der alten Meister. Die SZ ist von der Darstellung Caravaggio als modernem Filmregisseur überzeugt, die FAZ sieht in dem Buch eine anrührend schöne Geschichte. Schließlich freut sich die SZ, dass Erwin Panofskys wegweisendes Monumentalwerk "Altniederländische Malerei" nach fünfzig Jahren endlich auch in deutscher Übersetzung erschienen ist, während die FAZ Fred Lichts "Goya" nicht nur gefährlich schön, sondern auch "eminent klug und fesselnd geschrieben" findet.

Naturwissenschaften

Von den naturwissenschaftlichen Büchern wird vor allem Lise Eliot Studie über die Entwicklung des kindlichen Gehirns empfohlen. Die SZ sieht in "Was geht da drinnen vor?" einen gelungenen Bildungsroman, die FR findet das Buch gerade richtig, um "Erziehung nicht für sinnlos, aber auch nicht für allmächtig zu halten". Die Zeit würdigt außerdem den Bericht des Biologen Robert M. Sapolsky "Mein Leben als Pavian" als ein aufregendes Buch, als ergreifend gar die Beschreibung der an Tuberkulose verendenden Primaten.

Anklang findet auch Richard Hamblyns Buch über den Wetterforscher Luke Howard. Die SZ nennt "Die Erfindung der Wolken" eine fesselnde Erzählung, die Zeit hält die Verbindung von Wissenschaftsgeschichte und Porträt für äußerst gelungen - und damit für typisch britisch.

Geteiltes Echo findet Heinz-Dieter Hausteins "Weltchronik des Messens". Während die NZZ in diesem Buch ein Standardwerk und merkwürdiges Faszinosum sieht, bemängelt die FAZ, dass manches weniger mit Messen zu tun hat als mit Rechnen. Dagegen lobt die FAZ "Werkzeuge und Wissen" von Harold Dorn und James E. McClellan als bestens gegen praxistauglichen Einheitsbrei. Und die SZ würdigt noch Hans Werner Ingensieps "Geschichte der Pflanzenseele" als spannende botanische und philosophische Spurensuche.

Literatur / Sachbuch

Die vollständig ausgewerteten Literaturbeilagen vom Herbst 2001 finden Sie hier. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.