9punkt - Die Debattenrundschau

Die Nacht mit allen ihren Gespenstern

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.05.2022. Das Leben kehrt zurück nach Butscha, berichtet die SZ - auch die Aufarbeitung der Schrecken geht weiter. CNN rekonstruiert aus Material von Überwachungskameras ein Kriegsverbrechen. Belarus ist nicht Täter, sondern "Opfer und Geisel" in diesem Krieg, sagt der belarussische Autor Artur Klinau im NZZ-Gespräch. Die Zeit bereitet kritisch die Russland-Berichterstattung der Leitmedien seit 2014 auf: Besonders die größten Zampanos im eigenen Hause schneiden da nicht so gut ab.  Der FAZ fehlen in der Berliner Moses-Mendelssohn-Ausstellung die Ideen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.05.2022 finden Sie hier

Europa

Inzwischen sind knapp 10.000 der einst 40.000 Bewohner zurück in Butscha, im ersten Monat nach Abzug der Russen wurden Leichen geräumt, aktuell wird versucht, die Stadt von Minen zu befreien, berichtet Christoph Koopmann auf Seite 3 der SZ: "Ein alter Mann, der in Badelatschen auf einer Bank sitzt und die Sonne genießt, sagt, er und die anderen Bewohner seines Häuserblocks hätten wochenlang im Keller gehockt, weil die Russen ihnen das befohlen hätten. Sein Nachbar sei eines Abends nur kurz auf eine Zigarette nach oben gegangen. Am Morgen fanden sie ihn erschossen auf den Treppen. Noch drei andere aus ihrem Häuserblock seien getötet worden. An den Stellen im Garten, wo die Nachbarn sie fürs Erste beerdigten, sind noch immer die Gruben. Nach dem Rückzug der Russen hat man sie exhumiert, untersucht und ordentlich bestattet." (Zu dem Thema - russische Kriegsverbrechen in der Ukraine - sei auch noch einmal die Reportage von Luke Mogelson im New Yorker empfohlen, auf die wir schon in unserer Magazinrundschau hingewiesen hatten.)

CNN hat mit Hilfe von Bildern aus Überwachungskameras eines der zahllosen russischen Kriegsverbrechen in der Nähe von Kiew vor einigen Wochen rekonstruiert:


Versuchen Putin und seine politische und militärische Führungsriege, die Ukrainer als solche zu zerstören, also einen Genozid zu begehen, fragt der Historiker Norman M. Naimark in einem viel retweeteten Text bei der konservativen Hoover Institution. Er meint: ja, und kommt nicht nur auf die Geschichtsessays von Putin und Medwedjew zurück, sondern auch auf Äußerungen von Kreml-Propagandisten wie Timofei Sergeitsev (unser Resümee) und Margarita Simonjan: "Das Ausmaß, in dem die Rhetorik in Taten umgesetzt wurde, ist erschreckend deutlich geworden. Simonjans Hetzrede über die Bereitschaft der Ukrainer, 'Kindern die Augen herauszureißen', spiegelte sich in der Unterschrift 'für die Kinder' wieder, die auf die Rakete gemalt war, die die Russen auf den Bahnhof von Kramatorsk abfeuerten und dabei unter anderem mindestens fünf Kinder töteten. Eines der ständigen Themen der russischen Propaganda in der abtrünnigen Donbass-Region seit 2014 ist, dass die Ukrainer Kinder töten und verstümmeln und sogar Völkermord begehen."

Die Ukraine hat mit Verweis auf russische Angriffe die Gaslieferungen nach Europa reduziert. Ein ungemütliches Szenario, so Nikolas Busse in der FAZ: "Die EU ist schon vor Jahren zum Opfer von ukrainisch-russischen Gaskriegen geworden. Das hat auch die Ukraine damals Vertrauen im Westen gekostet (eine Folge war der Bau von Nord Stream 2), das sollte man in Kiew nicht vergessen. Dass Russland nun wieder auf seine Vertragstreue verweisen kann, ist ein Propagandageschenk für Putin." Die Ukraine begründet den Schritt damit, dass sie die Pipeline nicht mehr sicher betreiben könne, ergänzt Reinhard Veser in der FAZ: "In der Region spielen sich seit Tagen heftige Kämpfe ab. Es ist das Gebiet, in dem den russischen Streitkräften langsame Geländegewinne gelungen sind."

Weißrussland ist nicht Täter, sondern "Opfer und Geisel" in diesem Krieg, sagt der belarussische Autor Artur Klinau im NZZ-Gespräch, in dem er sich für gezielte Sanktionen gegen Russland ausspricht und dazu aufruft, den Dialog mit Lukaschenko zu suchen. Die Angst in Weißrussland vor russischer Besetzung sei groß: "In der Ukraine hat man sich ganz offen dem Westen zugewandt - und diese Offenheit hat den Krieg nach sich gezogen. In Weißrussland hätte die gleiche Offenheit eine sofortige Annexion zur Folge gehabt. Deshalb kam für Weißrussland nur eine allmähliche Drift Richtung Westen infrage. Aber wenn es die Umstände erlauben würden, würden auch die Weißrussen die Integration in Europa anstreben."

Juli Zeh hat den Emma-Brief an Olaf Scholz unterschrieben, Thea Dorn nicht - in der Zeit streiten die beiden per Mail. Zeh verteidigt noch einmal ihre Position: "Eine gerechte Welt hat nie existiert und ist genauso illusorisch wie die Abschaffung von Krankheit und Tod". Die "Verteidigung unseres freiheitlich-rechtsstaatlichen Ideals" steht auf dem Spiel, erwidert Dorn: "Es gibt in der jetzigen Situation vielleicht nicht ein Best-, aber immerhin ein Good-Case-Szenario: Der Ukraine gelingt es, sich so zu verteidigen, dass sie als unabhängige, demokratische Ukraine weiterbestehen kann. Plus: Putin macht die Erfahrung, dass sich ein Land erfolgreich gegen eine russische Invasion wehrt und dass der Westen ihn - anders als im Tschetschenien-/Georgien-/Syrien-Krieg und bei der Annexion der Krim - diesmal nicht weitestgehend ungehindert gewähren lässt. Dieses Signal geht auch an die Adresse anderer expansionswilliger Diktaturen, Stichwort: China/Taiwan. Die Kernfrage scheint mir zu sein: Ist dieses Good-Case-Szenario bereits in realisierbarer Nähe, oder muss der - durch Waffenlieferungen unterstützte - ukrainische Widerstand gegen Putin so lange weitergehen, wie die Ukraine selbst bereit ist, ihn zu leisten?"

Es war nahezu unmöglich sich von Putins Rede im deutschen Bundestag am 25. September 2001 nicht täuschen zu lassen, räumt Philip Cassier in der Welt ein, so perfekt inszeniert war sie: "In dem Wissen, damit in den Köpfen seiner Zuhörer keinen Widerspruch auszulösen, wagte der Mann am Pult eine Bemerkung von größter Tragweite: 'Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts, Kultur und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.' Nie zuvor - so könnte man es polemisch ausdrücken - hatte jemand die Parole 'Ami go home' eleganter verpackt als der russische Präsident an diesem Tag."

Außerdem: Volker Weidermann porträtiert ebenfalls in der Zeit die Autorin Katja Lange-Müller, deren Schwanken in der Kriegsthematik (sie unterzeichnete den Emma-Brief und distanzierte sich dann, unser Resümee) sie zur "Intellektuellen der Stunde" mache.
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Ideen

Andreas Kilbs Erkenntnishunger wird durch die Moses-Mendelssohn-Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin leider nicht gestillt. Es geht zu viel ums Leben und Atmo, klagt er in der FAZ, zu wenig um die Ideen, "sodass selbst das titelgebende Briefzitat, in dem sich der späte Mendelssohn beklagt, dass sein Traum 'von nichts als Aufklärung' und vom Sieg der Vernunft über die 'Schwärmerey' ausgeträumt sei, in seiner Dramatik verpufft. 'Wie wir sehen, steiget schon, von der andern Seite des Horizonts, die Nacht mit allen ihren Gespenstern wieder empor.' Wen meint er? Wer waren die deutschen Nachtgespenster? Die Frage verhallt im Museumsraum."

In der taz verteidigt Ilija Trojanow den Pazifismus: "Die wichtigste Lektion des Pazifismus ist die Erkenntnis, den Krieg nicht essenziell anders zu behandeln als den Frieden, ihn nicht zu überhöhen als apokalyptisches Endgefecht zwischen Gut und Böse, ein quasireligiöses Narrativ, das zur rhetorischen Grundausstattung jedes Kriegs gehört. Und die moralische Keule der Bellizisten infrage zu stellen, die jede Skepsis an der eigenen Eskalationspolitik stigmatisieren."
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Gesellschaft

Den Frauen in Afghanistan droht wieder "eine Zeit der Dunkelheit", schreibt Tobias Matern in der SZ. Einen Funken Hoffnung gibt es dennoch, meint er: "Es trauen sich in Kabul noch Frauen auf die Straße, sie demonstrieren für ihre Rechte und gegen die Taliban-Erlasse. Auch wenn es kleine Gruppen sind, ihr Mut ist bemerkenswert, weil sie bewaffneten Taliban gegenüberstehen. Auf den Westen können diese Frauen nicht mehr setzen. Aber kann vielleicht gerade deshalb aus diesen Gruppen eine Bewegung werden, können die Frauen den Widerstand anführen und den Wandel in Afghanistan einleiten?"

In der taz greift Dinah Riese den Missbrauchsfall am Abraham-Geiger-Kolleg auf (unser Resümee) und zitiert jüdische Institutionen, die eine Aufarbeitung versprechen.
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Geschichte

Im FR-Interview vom Dienstag sprach der in New York lebende russische Philosoph Boris Groys über Russlands Zukunft. (Unser Resümee) Russland versteht sich als der "wahre Westen", sagt er heute im ZeitOnline-Interview und erklärt, weshalb Putin zunächst von Jelzins Nationalismus abrückte: "Putin - ebenso wie die neue russische Oberschicht, aber auch viele Intellektuelle und weite Teile der Öffentlichkeit - wollten eher in die vorrevolutionäre Zeit zurück. Es gab einen Kult um ein verlorenes Russland, das von der Oktoberrevolution zerstört, aber jetzt wiederentdeckt, wiederbelebt, wiedererfunden werden musste. Dabei ging es um das Russland von 1913: eine Kombination aus autoritärem Regime, militärischer Macht und aufstrebendem Kapitalismus. Dieses Russland war aber zunächst nicht primär nationalistisch, sondern imperialistisch. Die nationalistischen Aspekte sind erst mehr und mehr dazugekommen. Nach dem Motto: Wir müssen unsere eigene Kultur entdecken, erfinden, erschaffen - und zwar um uns vom Westen abzusetzen. Gerade letzteres wurde immer wichtiger. Man ist müde geworden, vom Westen als Entwicklungsland behandelt zu werden. Vernimmt man die aktuelle russische Propaganda, bekommt man bisweilen den Eindruck, der Krieg gegen die Ukraine wurde auch lanciert, um die westlichen Sanktionen zu provozieren. Als ob man alles Westliche - McDonald's, Facebook oder Instagram - weghaben wollte, damit Russland sich gemäß seinem 'authentischen Wesen' entwickeln könne."
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Medien

Selbstkritisch gehen Anna Lea Jakobs und Heinrich Wefing für die Zeit die Berichterstattung einiger Leitmedien in Deutschland zu Putin in den Jahren seit 2014 durch. Es gab durchaus hellsichtige Warnungen, aber auch Schwachstellen - Angela Merkel kritisierte man, so lange sie im Amt war, eher wenig. Die großkopferten Kommentatoren lagen öfter falsch als die Journalisten vor Ort: "Liest man die Texte von damals, fällt auf, dass gerade die Korrespondentinnen und Korrespondenten in ihrer Einschätzung Putins richtig lagen." Die Zeit selbst drapierte wie üblich beide Standpunkte zum Thema adrett in "Pro & Contras". Auch die aller-allergroßkopferten schrieben in der Zeit. Helmut Schmidt, den sich das Institut zum Herausgeber gemacht hatte, bezweifelte, dass die Ukraine existiert und bezeichnete lieber Russland als Nachbar (unser Resümee). Nicht erwähnt wird Zeit-Herausgeber Theo Sommer, der noch im Juli 2021 vehement Nord Stream 2 verteidigte: "Zur Wahrheit gehört schließlich auch, dass die Zeit im Juni 2021 einen Namensbeitrag von Wladimir Putin veröffentlicht hat. Eine Entscheidung, die schon damals in der Redaktion heftig umstritten war und sich jetzt in der Rückschau als absolutes No-Go erweist." Hier das Resümee der Perlentaucher zu Putins Äußerungen in der Zeit.

Die Feuilletons haben sich die Zeit-Autoren nicht angesehen. In jener Nummer der Zeit im Jahr 2014, in der Helmut Schmidt die Ukraine zum russischen Anhängsel erklärte, schrieb Jens Jessen: "Weder die Ukraine noch Weißrussland, noch irgendeine der neu geschaffenen Entitäten waren jemals als souveräne Staaten gedacht worden. Dass sie heute als solche auftreten und akzeptiert werden, ist vor allem eines: ein Missverständnis der ehemaligen sowjetischen Nationalitätenpolitik." Steht alles in unserem Resümee.

Ein anderer Herausgeber der Zeit, Josef Joffe (wieviele haben die eigentlich?) steht wegen eines anderen Themas in der Kritik. Der Spiegel-Autor Oliver Schröm hat einen persönlichen Brief Joffes an seinen Freund Max Warburg von der Warburg Bank veröffentlicht um zu beweisen, dass Joffe die Bank vor Recherchen der Zeit zur Verwicklung der Bank in den Cum Ex-Skandal warnte. Gernot Knödler berichtet heute in der taz.

Außerdem: In der NZZ wirft Lucien Scherrer ARD und ZDF vor, über Jahre hinweg russische Propaganda "nachgeplappert" zu haben.
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