Heute in den Feuilletons

Zu Italo-Pop gemordet

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.09.2008. FAZ und Zeit bewundern und fürchten Damien Hirsts Coup, seine neuesten Werke bei einer Auktion selbst zu versteigern: Wird er den Kunstmarkt einbrechen lassen? Die Welt annonciert eine Glamour-Offensive der Opern. Die SZ preist Matteo Garrones schmutzigen Camorra-Film "Gomorrha". Die FR plädiert für einen weltweiten Kampf gegen die Unbildung. Der Tagesspiegel fragt, wie viele Milliarden Physiker-Träume wert sind.

FR, 11.09.2008

Im Leitartikel zum Jahrestag des 11. September plädiert der Nahost-Experte Michael Lüders für Initiativen gegen Unbildung anstelle des Kriegs gegen den Terror. Sein Ratschlag an die Politik: "An den Regierungen vorbei, in Bildung, Bildung, Bildung investieren, vom Dorfschullehrer bis zum Hochschulrektor. Ihnen ein gutes Gehalt zahlen und damit Zeit kaufen. Zeit, um die Grundlagen zu schaffen für gemäßigte Lesarten des Koran. Schulgeld für Kinder, damit sie die Schule besuchen können und nicht die Großfamilie ernähren müssen. In jede Metropole der Region gehört eine vom Westen finanzierte Hochschule auf dem Niveau der Amerikanischen Universität in Beirut oder Kairo. Mikrokredite für Kleinbauern und Tagelöhner, zinslose Darlehen für Unternehmensgründer sind weitere Beispiele."

Auf den Kulturseiten: Harry Nutt beruhigt: Die Künstlersozialkasse wird auch die jüngste Attacke, diesmal von Seiten des Bundesrats, überleben. Vom Musikfestival in Grafenegg berichtet Marco Frei. Jamal Tuschik hat Hellmuth Karasek bei einer Lesung in Frankfurt erlebt. In einer Times Mager schüttelt Johannes Schneider eher milde den Kopf über die radikalkatholisch verirrte Gloria von Thurn und Taxis. Harry Nutt gratuliert dem langjährigen FR-Feuilleton-Chef Peter Iden zum Siebzigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Der Brief - Ereignis & Objekt" im Frankfurter Goethehaus und Ulla Wagners Verfilmung von Uwe Timms Roman "Die Entdeckung der Currywurst".

Tagesspiegel, 11.09.2008

Es könnte gut sein, schreibt Bas Kast, dass der Teilchenbeschleuniger vom Cern keinerlei verwertbare Ergebnisse bringt. Trotzdem sind die sechs Milliarden Euro gut ausgegeben: "Ja, das Cern entzieht sich der unmittelbaren Verwertbarkeit, ja, es pfeift auf die McKinseyisierung unserer Gesellschaft, und gerade daraus erwächst sein Wert. Der Physiker Victor Weisskopf hat die Teilchenbeschleuniger einmal als 'gothische Kathedralen des 20. Jahrhunderts' bezeichnet. Der Vergleich trifft es: Wie an den großen Kirchen des Mittelalters arbeiten Generationen von Menschen hier an etwas, das weit über sie, weit über den Einzelnen hinausgeht. Nur wird nicht Gott zelebriert, sondern die Natur. Der Mensch, wir selbst, darum geht es am Cern: darum, herauszufinden, woher wir kommen, was wir sind, was der Ursprung aller Dinge ist. Das Risiko dabei: dass wir den letzten Ursprung nie finden werden. Was ist uns dieses Wagnis wert? Was sind Träume wert?"
Stichwörter: Mittelalter

TAZ, 11.09.2008

Im Interview mit Anke Leweke erklärt Matteo Garrone, was er mit seiner Verfilmung des Mafia-Bestsellers "Gomorrha" von Roberto Saviano wollte: "Ich wollte zeigen, wie sehr die Camorra die Lebenswirklichkeit der Bewohner in Scampia bestimmt. Die Menschen dort merken teilweise gar nicht mehr, dass sie Rädchen in einem System sind. Sie können sich auch kaum noch ein Leben außerhalb dieses Systems vorstellen. Diese eingeengte Perspektive wollte ich einnehmen. Die Leute in Scampia waren überraschend offen für unser Projekt. Als wir drehten, gab es immer 50 bis 60 Menschen hinter dem Monitor, die neugierig das Geschehen verfolgten und kommentierten. So bekam ich Unterstützung von den Leuten, die in und von diesem System leben."

Weiteres: Dirk Knipphals wundert sich über die plötzliche Popularität der Goethe-Institute und den Kulturaustausch, der "lange ein Feld für Idealisten, Wim-Wenders-Fans und politische Altenteiler" war und nun zur Chefsache wird. Eines, so kommentiert Sebastian Moll, sei der gemeinsame Auftritt von John McCain und Barack Obama am Ground Zero aus Anlass des heutigen siebten Jahrestags der Anschläge auf das World Trade Center ganz bestimmt nicht: "ein unschuldiger Trauerbesuch".

Besprochen werden zwei extrem unterschiedliche Tanzfilme: der von Gettoklischees triefende amerikanische Spielfilm "How She Move" und die Dokumentation "Dance for All", eine deutsche Produktion über ein gleichnamiges Ballettprojekt in den Townships von Kapstadt, sowie die DVD von "Blissfully Yours" des thailändischen Filmemachers Apichatpong Weerasethakul.

Auf den Tagesthemenseiten erläutert Berndt Georg Thamm, Publizist und Referent für Weiterbildung über "Dschihad-Terrorismus", welche Rolle das Internet heute für Islamisten spielt; sei es früher ein Instrument der offenen und verdeckten Kommunikation gewesen, diene es heute der "Informationssammlung, Radikalisierung der Gesinnung, Rekrutierung von Nachwuchs, Propaganda, Spendensammlung, Netzwerkarbeit, Mobilisierung und Planung von Operationen".

Und hier Tom.

Welt, 11.09.2008

Manuel Brug beschreibt, wie die Opern mit Public Viewing, eigenen Parfum-Kreationen und Kinderschminken in die PR-Offensive gehen, um verlorenen Glanz wiederzuerringen: "Längst treiben sich die vorgeblichen Society-Leuchttürme lieber auf immergleichen, inhaltlich öden Sommerfesten, Produktpräsentationen und Vernissagen herum, wo es stets nur um sie selbst geht, der Anlass Vorwand für die unablässige Kontaktpflege der Mover & Shaker ist, oder - schlimmer noch - der Abend als Event nur sinnfrei für die Klatschpresse inszeniert wird. Wenn die Mitwirkenden auf dem Jahrmarkt medialer Eitelkeit mal frei haben, dann lümmeln sie mit DVD-Bedienung und Popcorn-Eimer in der stylishen Sitzlandschaft. Zu Hause. Auch bei Staatsbesuchen ist der obligatorische Opernabend als Schrecken des diplomatischen Corps inzwischen repräsentatives Relikt einer Vergangenheit ohne Hochsicherheitsbedingungen."

Hendrik Werner nutzt den Wechsel Manuel Andracks von Harald Schmidt ins Autorenfach zu Betrachtungen über die Kumpanei in der Witzelbuch-Branche. Die Randglosse nutzt Eckhard Fuhr für einen Bericht über einen Afrika-Kulturabend mit Frank-Walter Steinmeier. Heidi Bürklin annonciert Damien Hirsts große Kunstauktion in der kommenden Woche in London. Geradezu neidisch hat sich Manfred Flügge die neue Literatursendung "Cafe litteraire" auf France 2 angesehen. Jeannette Neustadt berichtet von der neuerlichen Diskussion zur Künstlersozialkasse. Peter Dittmar meldet, dass Thomas Campbell neuer Chef des New Yorker Metropolitan Museum wird.

Besprochen werden unter anderem der Film "Die Entdeckung der Currywurst" mit Barbara Sukowa und Brian Wilsons Album "That Lucky Old Sun".

Zeit, 11.09.2008

Nächste Woche will Damien Hirst in einer Aktion bei Sotheby's mehr als 200 eigens dafür produzierte Werke versteigern lassen. Hanno Rauterberg fiebert dieser Zäsur im Kunstbetrieb entgegen, bei der erstmals ein Künstler "Rausch und Risiko der Versteigerung" allein trägt: "Was aber, wenn die Auktion ein Flop wird? Dann wäre das nicht nur für Hirst der Anfang vom Ende. Dann könnte auch der völlig hysterisierte Kunstmarkt in sich zusammensacken. Seit einigen Jahren scheint es Hirst genau darauf anzulegen. Immer aberwitziger werden seine Werke, immer offensiver provozierte er ihre Unverkäuflichkeit. Offenbar ist für ihn der Tod nicht nur ein Kunstsujet, er ist auch ein Karriereziel."

Anlässlich der großen "Tropen"-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau, erklärt uns Georg Seeßlen ihre Bedeutung für den Film: "Die Tropen sind der Ort für die Rückverwandlung des Menschen ins Tier. Die meisten Europäer verwandeln sich hier einfach in faule Säue, aber manchmal geht das auch schief, und meistens hat das mit polymorpher Sexualität zu tun."

Weiteres: Hilal Sezgin berichtet vom zunehmenden Unbehagen, das Islamprofessor Muhammad Sven Kalisch unter seinen Religionsgenossen mit seinen ketzerischen Äußerungen provoziert. In der Frage der charakterlosen Jugend verweist Evelyn Finger auf den "zynischen Sturm und Drang" des Raps. Katja Nicodemus rekapituliert die Filmfestspiele von Venedig. Petra Reski trifft den "Gomorrha"-Regisseur Matteo Garrone.

Besprochen werden die Ausstellung "Ornament Neu Aufgelegt" im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel, das neue Album "Death Magnetic" von Metallica und Ingmar Bergmans "Sarabande" auf DVD

Im Aufmacher des Literaturteils feiert Norbert Rehrmann Gerd Koenens Buch über Che Guevara "Traumpfade der Weltrevolution" als "luzide, wenn auch sicher schmerzhafte Vermessung pseudorevolutionärer Irrpfade, die allesamt in Sackgassen endeten, manchmal auch am Rande des Abgrunds. 'Wir müssen den Weg der Befreiung auch dann gehen', zitiert Koenen aus aus einem Guevara-Artikel während der Kubakrise in den frühen Sechzigern, 'wenn er Millionen atomarer Opfer kosten sollte...'"

NZZ, 11.09.2008

Angela Schader informiert über das ambitionierte Vorhaben des Goethe-Instituts in Afrika: Künftig soll das Institut dort in mehr als der Hälfte der 47 Länder südlich der Sahara vertreten sein. Zum Aufbau einer egalitären Partnerschaft und zur Förderung des kulturellen Austauschs innerhalb Afrikas stehen der "Afrika-Initiative" im laufenden Jahr 20 Millionen Euro zur Verfügung.

Roman Hollenstein besuchte die große Sep-Ruf-Werkschau im Architekturmuseum der TU München. Gerade rechtzeitig, geriet der Architekt doch trotz seiner Meisterwerke wie dem Kanzlerbungalow in Bonn oder dem Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel etwas in Vergessenheit.

Auf der Filmseite lobt Bettina Spoerri Philippe Claudels Filmdebüt "Il y a longtemps que je t'aime" über die mühsame Resozialisierung einer verurteilten Mörderin als "erstaunlich reife Leistung".

Besprochen werden Andrzej Stasiuks literarische Deutschlandtour "Dojczland", Aner Shalevs Roman "Dunkle Materie", Yann-Brice Dherbiers Steve McQueen-Bildband, und ein dritter Roman, "Lärchenau" von Kerstin Hensel.

(Mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

SZ, 11.09.2008

Grandios findet Martina Knoben den Camorra-Film "Gomorrha" von Matteo Garrone auf der Grundlage des Buchs von Roberto Saviano, der auch am Drehbuch mitarbeitete. Herausgekommen sei ein Film, der als Mafia-Film einmalig sei, "weil er den schmutzigen Krieg der Camorra genau so darstellt - und sich vor allem auf die Fußsoldaten und Opfer konzentriert. (...) Nirgendwo ein 'Pate?, dessen düsteres Charisma das Morden ein wenig überstrahlen könnte. Auch den engagierten Kämpfer gegen das Verbrechen, mit dem sich mitfiebern ließe, gibt es nicht. Und wenn sich doch einmal Glamour über die Szenen legt, ist dieser Glanz so falsch wie die Sonnen im Solarium, in dem zu Beginn des Films ein Gemetzel stattfindet. Routiniert und professionell wird da zu Italo-Pop gemordet."

Weiteres: Imke Donner schildert die Situation junger Araber in den USA, für die es nicht mehr selbstverständlich ist, nach dem Studium in Amerika zu bleiben; Ausgangspunkt ihrer Reportage ist das Buch "How does it feel to be a Problem?" von Moustafa Bayoumi, Professor am Brooklyn College. Jürgen Berger informiert über scharfe Kritik, die sich an der Initiative zur "unternehmerfreundlichen Reform" respektive Abschaffung der Künstlersozialkasse formiert. Raimund Stecker fasst eine Symposion über posthume Nachgüsse im Arp-Museum in Rolandseck zusammen.

Besprochen werden die eigenwillige Ausstellung "Brillantfeuerwerk" im Haus der Kunst, die Udo Kittelmann aus den Beständen von elf Münchner Unternehmenssammlungen zusammengestellt hat, die Filme "I Was a Swiss Banker" von Thomas Imbach, "Weiße Lilien" von Christian Frosch und "Babylon A.D." von Mathieu Kassovitz, ergänzt durch ein Interview mit dem Regisseur, sowie Bücher, darunter das Sachbuch "Warum die Menschen sesshaft wurden. Das größte Rätsel unserer Geschichte" des Biologen Josef H. Reichholf und Norbert Gstreins Roman "Die Winter im Süden" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 11.09.2008

Wie der Künstler Damien Hirst seine Kunst ganz ohne Galeristen verkauft, das macht gerade auf dem Kunstmarkt Sensation. Rose-Marie Gropp berichtet: "Der britische Künstler Damien Hirst ist längst seine eigene Marke. Warum also nicht das Ganze jetzt noch einmal weiterdrehen, vergolden, gern auch in Gold gearbeitet? Mit einer Gesamtschätzung von mindestens 65 Millionen Pfund kommen 223 Werke Damien Hirsts nächste Woche in London an zwei Tagen zur Auktion. Sie stammen alle aus diesem Jahr. Kein Galerist, kein Händler hat sie zuvor je in Händen gehabt; denn Damien Hirst hat sie selbst bei Sotheby's eingeliefert: So sieht der schärfste Coup auf dem Kunstmarkt der Gegenwart aus."

Weitere Artikel: Gesine Hindemith eröffnet die, wie sie findet, notwendige, Diskussion um das neue Buch des Ex-Direktors des Internats Salem, Bernhard Bueb, der seine Thesen zu notwendiger Führungsstärke an den Schulen selbst schon im FAZ-Feuilleton vorstellen durfte - Fortsetzung folgt im Internet-Lesesaal. In der Glosse beschreibt Regina Mönch, wie sich am Streit um die Einschulung in Berlin die Integrationsprobleme der Stadt offenbaren. Kerstin Holm schildert die Vorliebe neureicher Russen für den Zuckerbäckerstil und die kulinarische Kultur der Sowjetunion. Entwarnung in Sachen (mal wieder drohender) Abschaffung der Künstlersozialkasse gibt Michael Hanfeld: der Widerstand organisiert sich und dürfte erfolgreich sein. Antonia von Schöning berichtet vom zwanzigsten Jahrgang des "Festival Visa pour l'image" in Perpignan. Gina Thomas schildert britische Rechtschreibreformbemühungen. Über die erste vollständige Übersetzung der jüdischen Bibel ins Neuhebräische informiert Joseph Croitoru. Jeff Koons in Versailles: eine royale Mesalliance, wie wir von Jürg Altwegg erfahren. Jordan Mejias porträtiert Thomas P. Campbell, den neuen Direktor des New Yorker Metropolitan Museum of Art. Michael Hagner trauert um die im Alter von dreiundvierzig Jahren verstorbene Historikerin Lydia Marinelli, "eine der originellsten Geisteswissenschaftlerinnen ihrer Generation".

Auf der Kinoseite unterhält sich Verena Lueken mit dem Regisseur der "Gomorrha"-Verfilmung Matteo Garrone, der fast nie ins Kino geht und seine Filme stets auf eigene Faust finanziert. Lueken hat auch einen Auftritt der Regisseurin Kathryn Bigelow beim Filmfestival in Toronto erlebt. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite schreibt Caroline Möhring über eine Veranstaltung, bei der deutschen Wissenschaftlern in den USA die Rückkehr nach Deutschland schmackhaft gemacht werden sollte.

Besprochen werden die "Walküre" des von Anthony Pilavachi inszenierten und von Roman Brogli-Sacher dirigierten Lübecker "Rings", Mathieu Kassovitz' Thriller "Babylon A.D." und Bücher, darunter Ulla Lenzes Roman "Archanu" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).