Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2003. Der Kanzler muss nach Rimini, fordert die SZ. Sonst geht es heute um zerknirschte Männer: Die taz erwischt Florian Illies beim regressiven Nutella-Naschen. Der FR graust vor Michel Friedmans öffentlichem Liebesbekenntnis. Die NZZ bespricht als erste Siegfried Lenz' Roman "Fundbüro".

TAZ, 09.07.2003

Die Generation Golf ist ordentlich gegen die Wand gefahren, mit "Generation Golf 2" probt Florian Illies (mehr hier) nun die Selbstkritik der "Heiapopeia-Jugend", so Dirk Knipphals, der mehr oder weniger enttäuscht bemerkt, dass Illies mit seinen Niederlagen nicht gewachsen ist: "Zum einen entdeckt Florian Illies das melancholische Bewusstsein. Zum Thema Arbeitslosigkeit heißt es einmal: 'Wir dachten, das habe nichts mit uns zu tun.' Tja, wenn du denkst, du denkst! So fangen rührselige Momente an. Skizzenhaft wird das Bild einer Generation gezeichnet, die sich gerade kollektiv die Wunden leckt. Manche Stellen schwingen sich gar zu zerknirschter Selbstkritik auf: 'Erst heute wird uns klar, dass wir uns damals alle irrtümlich für Wirtschaftsweise und Durchblicker hielten und den dicken Max markierten.' Das ist dann der Moment, in dem man sich - zumindest wenn man sich wie unsereiner selbst nicht getroffen fühlt - den Erzähler beim regressiven Nutella-Naschen vorstellt."

Weiteres: Andreas Becker erzählt von Schweriner Gartenbauingenieuren, Kreuzberger Kinobetreibern und anderen Rezessionsverlierern. Auf der Medienseite berichtet Roland Hofwiler, wie iranische Exilanten mit Störsendern das Teheraner Fernsehregime aufmischen. Und auf der Meinungsseite liest Michael Rutschky an die SZ gerichtete Leserbriefe.

Besprochen werden die Premiere von Beat Furrers Oper "Invocation" in Zürich, die Actionkomödie "3 Engel für Charlie", in der Demi Moore tapfer gegen das Älterwerden kämpft, und ein Sammelband zur globalisierten Kunst "Transversa " (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und schließlich Tom.

SZ, 09.07.2003

Die SZ stand heute Morgen noch nicht im Netz, deswegen gibt es sie heute nur unverlinkt.

Nahezu das gesamte SZ-Feuilleton ist sich einig, dass der Kanzler nach Rimini fahren muss und listet eine ganze Anzahl von Gründen auf, warum wir Italien brauchen: wegen unser aller Sehnsucht natürlich, wegen der Frauen und des Essens oder weil "die Berliner Republik sonst wirklich so aussehen würde wie eine Berliner Republik".

Thomas Avenarius bemerkt, dass der Krieg in Tschetschenien geschafft hat, was nicht einmal der siebzigjährigen Sowjetherrschaft gelungen ist: Das archaische Wertesystem der Tschetschenen zu zerstören. Denn die ehernen Regeln des Ardat legen nicht nur fest, dass Mord oder Gewalt nach den Gesetzen der Blutrache geahndet werden, sondern auch dass Frauen nicht kämpfen dürfen. "'Schwarze Witwen' werden die Selbstmordattentäterinnen genannt. Der sensationsheischende Begriff verstellt den Blick auf das Phänomen. Der neun Jahre währende Krieg in Tschetschenien hat nicht nur Land und Städte zerstört, sondern auch die Gesellschaft und Kultur deformiert. Frauen kämpfen und scheuen selbst vor Terror nicht zurück. Denn der Konflikt hat längst eine Härte erreicht, in der es aus Sicht der Tschetschenen nicht mehr darum geht, ob ein Mensch überlebt oder stirbt. Für die Kaukasier dreht es sich nur um die Frage, wann er stirbt."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Georg Oswald (mehr hier) befindet zum Fall Maxim Biller und seinem Roman "Esra", dass die meisten gehandelten Begriffe - vom Bücherverbot bis zur Menschenwürde ein paar Nummern zu hoch gegriffen sind. Daghild Bartels wirft einen Blick hinter die verrammelten Türen des Genfer Zollfreilagers, in dem neben Getreide und Zigaretten auch ungeheure Kunstschätze, wertvolle Gemälde und Juwelen lagern - und wahrscheinlich auch Raubkunst. Dirk Peitz meldet, dass sich Kölns Oberbürgermeister wieder einmal telefonisch an der Kulturpolitik versucht hat. Diesmal wollte er den Museumsbau pleite reden. Stefan Koldehoff berichtet, wie die Rotterdamer Museumskassen geplündert werden. Gisa Funck berichtet von einer Tagung zur Figur des "Verräters". Kristina Maidt-Zinke gratuliert dem Neurologen und Schriftsteller Oliver Sacks zum Siebzigsten. 

Besprochen werden die Ausstellungen des Panamarenko-Sommers in Antwerpen, Jossi Wielers Inszenierung der Schönberg-Oper "Moses und Aron" in Stuttgart und Bücher, darunter Pico Iyers Berichte aus dem globalen Leben "Sushi in Bombay, Jetlag in L.A.", Martin Deans Band "Meine Väter" und Willard van Orman Quines Kant-Lectures "Wissenschaft und Empfindung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 09.07.2003

In Frankreich wird wieder einmal gestreikt, diesmal in der Kulturbranche. Wie Rudolf Walther berichtet, ziehen sich tiefe Gröben durch die künstlerische Einheitsfront, denn die Streiks bedrohen auch die zahlreichen Sommerfestivals: "Wenn nicht ein Wunder geschieht, ist auch das größte aller Sommerfestivals in Avignon in höchster Gefahr, was für die Stadt ein Gau wäre. Für die meisten Festivalstädte sind die Sommerwochen wirtschaftlich bedeutend. Die Leiterin des Theatre du Soleil, Ariane Mnouchkine, und der Filmregisseur Patrice Chereau, die auf einer Protestversammlung in Avignon vor den 'selbstmörderischen Folgen' einer Verhinderung des Festivals warnten, wurden ausgepfiffen. Die Bewegung radikalisierte sich in kurzer Zeit. 150 Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle, darunter Jacques Derrida, Catherine Deneuve und Isabelle Adjani, appellierten an den Premierminister, die Reformen zurückzunehmen und warnten 'vor einem schnellen Verfall der Kulturpolitik'."

Christian Schlüter kommentiert Michel Friedmans gestriges Bekenntnis und findet, "dass vor allem Friedmans öffentliches Liebesbekenntnis peinlich und falsch wirken muss, als bloße Intrumentalisierung einer - ja, so muss es doch heißen - Herzenssache. Der öffentliche Mann, wenn die Ratio erschöpft, der ansonsten so scharfe Intellekt verbraucht und die Situation ausweglos ist: Der öffentliche Mann entdeckt sein Innerstes, sein Gefühl. Gefühlig im Angesicht des - öffentlichen - Todes. Doch die Zeit der Bekenntnisse ist vorbei. Rücktritt, mehr braucht es nicht."

Weitere Artikel: Harry Nutt sieht durch das deutsch-italienische Sommergeplänkel den Lebensentwurf der Toskana-Deutschen in Gefahr, meint aber, dass der Kanzler jetzt erst recht nach Rimini fahren sollte. Das Gerichtsverfahren um Maxim Billers Roman "Esra" geht in die zweite Runde und Ursula Merz fragt, ob die Leute einen Roman, ein Kunstwerk, wirklich genau so lesen wie die Bunte. Daniel Bartetzko freut sich über die gelungene Sanierung einer Frankfurter Schmuddelecke. Michael Rudolf verzeifelt in der Kolumne Times mager über seine Versuche, im Internet ein Video der Band Primus zu erstehen.

Besprochen werden die Richard-Strauss-Oper "Friedenstag" als Freiluft-Show in Erfurt und A. F. Th. van der Heijdens Romanzyklus "Die zahnlose Zeit" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 09.07.2003

Stephan Templ beschreibt die Furcht der Tschechischen Regierung vor der Restitution alter Besitzansprüche auf dem Zivilrechtsweg. Einem heute in Argentinien lebenden Nachkommen des Hauses Kinsky war von einem böhmischen Bezirksgericht die Unrechtmäßigkeit der Enteignung bestätigt worden. Erfolg hatte Frantisek Oldrich Kinsky mit seiner Klage, weil er vor ein Bezirksgericht ging und nicht vors Verfassungsgericht, wofür er die tschechische Staatsbürgerschaft benötigt hätte. Auch klagte er nicht gegen die Benes-Dekrete (die bis heute ihre Gültigkeit haben) sondern wegen formaler Fehler bei der Enteignung. So war der Bescheid über die Konfiszierung nicht ihm persönlich, sondern seinem 1938 verstorbenem Vater zugestellt worden. Das Gericht stimmte darin mit dem Kläger überein. Und plötzlich ist die Aufregung in Böhmen riesengroß, denn weitere Prozesse sind zu befürchten. Die tschechische Regierung solle sich schnell etwas einfallen lassen, rät Templ, denn "die von Präsident Eduard Benes erlassenen Strafdekrete sind zwar Teil der tschechischen Rechtsordnung, können aber heute zur Enteignung nicht mehr herangezogen werden."

Die NZZ bespricht als erste der großen Zeitungen Siegfried Lenz' viel erwarteten neuen Roman "Fundbüro": Beatrix Langner attestiert dem Autor "einen Blick, der an die Art erinnert, wie Franz Kafka ins Kino ging: nüchtern beobachtend und zugleich jeder sich bietenden Illusion bereitwillig in die Arme sinkend".

Weitere Artikel: Ueli Bernays vermittelt Eindrücke vom 37. Jazzfestival Montreux (mehr hier), Sabine Haupt berichtet von den Schwierigkeiten des Zürcher Polytechnikums, einen Nachfolger für den Lehrstuhl der "Literatur der Romandie" zu finden. Besprochen wird Lucian Hölschers geschichtstheoretisches Werk "Neue Annalistik" (mehr hier) (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 09.07.2003

Salomon Korn schildert die Reaktionen in der jüdischen Gemeinde - geteilt in vor und nach dem Holocaust Geborene - auf den Fall Friedman und lobt Friedmans Rücktritt von seinen Ämtern, mit dem er "sich ihrer würdig erwiesen" habe. Joseph Hanimann beschreibt einen neuen Gewissenskonflikt Frankreichs "bezüglich seiner republikanisch-laizistischen Rechtgläubigkeit". Eine Gruppe junger Leute war nicht in die Parlamentskammer gelassen worden, weil eins der Mädchen ein Kopftuch trug. Der schwedische Bestsellerautor Jan Guillou will Einblick in die Akten der Sicherheitspolizei Säpo erhalten, meldet vL. "Guillou glaubt, er dürfe aufgrund von Informationen der Säpo nicht in die Vereinigten Staaten einreisen. Bei einem Flug nach Tahiti wurde er unlängst bei der Zwischenlandung in Los Angeles festgenommen und verhört." Joachim Müller-Jung macht die Technikgläubigkeit der Ärzte verantwortlich für den Tod der siamesischen Zwillinge Ladan und Laleh.

Jürgen Kaube gratuliert dem Neurologen Oliver Sacks zum siebzigsten, Patrick Bahners dem Mediävisten Gerd Althoff zum sechzigsten und Wolfgang Sandner dem Musikproduzenten Manfred Eicher zum sechzigsten Geburtstag. "fvl" schreibt den Nachruf auf Kathleen Raine, Henning Ritter den Nachruf auf Armin Mohler.

Auf der letzten Seite unterhält sich Regina Mönch mit Jaecki Schwarz, der 1967 in Konrad Wolfs Film "Ich war neunzehn" die Hauptrolle spielte: einen jungen Deutschen, mit acht Jahren nach Moskau emigrierte und im April 1945 mit der Roten Armee in die fremde Heimat zurückkehrt. Robert von Lucius kann sich ganz gut vorstellen, dass Zarah Leander eine "Spionin Stalins" gewesen ist, wie der der in Paris lebende Publizist Arkadij Waxberg behauptet. Und Joseph Hanimann berichtet, wie die Intermittents mit ihren Streiks den französischen Festspielbetrieb in den Ruin zu treiben drohen.

Auf der Medienseite beschreibt Jordan Mejias den Kampf gegen Spam, und Jörg Bremer berichtet, dass die palästinensischen Medien nach "Empfehlungen" ihrer Autonomieregierung die Hetze gegen Israel etwas drosseln.

Besprochen werden die Schau "Ex oriente" in Aachen, der Film "Drei Engel für Charlie", die Ausstellung "Rilke. Worpswede" in der Bremer Kunsthalle, ein Konzert von Karin Clercq und Damien Hurdebise im Saarländischen Rundfunk und Isabelle Stevers Film "Erste Ehe".