9punkt - Die Debattenrundschau

Die Fakultät gab nicht nach

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2016. Die FAZ ist einverstanden mit der Steuernachforderung der EU an Apple: 13 Milllarden Euro, plus Zinsen. Überall wird über Burka, Burkini, Islam und Europa diskutiert. Ilija Trojanow lehnt in der taz den Begriff der Leitkultur ab - Multikulti ist ihm lieber. Manuel Valls wird kritisiert, weil er die Nacktheit der Brüste der Marianne als Sinnbild der Frauenfreiheit in der Republik sieht. In der Welt feiert Wolf Lepenies die Philipp-Schwartz-Initiative, die türkischen Wissenschaftlern helfen will. In der NZZ warnt Martin Pollack vor Jaroslaw Kaczynski.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.08.2016 finden Sie hier

Politik

Anders als in Saudi-Arabien hat der Nikab im Maghreb keine kulturelle Tradition, erklärt Martin Gehlen auf Zeit online. In Ägypten ist es den Salafisten in den letzten 30 Jahren zwar gelungen, den Gesichtsschleier zum Alltagsbild zu machen. Andere Länder wehren sich gegen die Missionierung: "Den härtesten Konflikt lieferten sich die Fanatiker an der Manouba-Universität von Tunis, wo 11.000 Studenten immatrikuliert sind. Sieben Monate lang legten sie bis zum Sommer 2012 die gesamte geisteswissenschaftliche Fakultät lahm, weil sich deren Dekan Habib Kazdaghli weigerte, voll verschleierte Studentinnen bei Vorlesungen und Prüfungen zuzulassen. Anders gekleidete junge Frauen wurden auf dem Campus angepöbelt, Hochschullehrer beschimpft und verprügelt, Habib Kazdaghli tagelang in sein Büro eingesperrt. Doch die Fakultät gab nicht nach, die ungewöhnliche Zerreißprobe dokumentierte später ein Professorenkollege in dem Buch 'Chronik aus Manubistan'."

Der Autor Björn Bicker sieht im Gespräch mit Anne Haeming von der taz die politische Instrumentalisierung auf der Seite des westlichen Öffentlichkeit: "Dass das Kopftuch oder aktuell der Burkini in der öffentlichen Diskussion als politisches Symbol instrumentalisiert wird und als Anlass für rassistische Übergriffe dient, ist fatal. Alles wird durcheinandergeworfen. Burka, Hidschab, Nikab, Burkini - völlig egal. Jegliche Differenzierung geht über Bord, Hauptsache, es geht gegen die Muslime. Bei manchen Religionen gehört die visuelle Abgrenzung oder das Verdecken der Haut eben zum Bekenntnis." Bicker ist sich sicher: "Sobald man sich kennenlernt und einander häufiger begegnet, verlieren sich die Unterschiede, man wird sich sympathisch." Vielleicht sollte man für diesen Fall zumindest ein Namensschild an die Burka anbringen!
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Europa

Der französische Premierminister Manuel Valls hat mal wieder Worte gefunden, die selbst beim Guardian für tugendhafte Empörung sorgen: "Marianne ist das Symbol der Republik. Ihre Brust ist nackt, weil sie das Volk ernährt, sie ist nicht verschleiert, weil sie frei ist. Das ist die Republik!". Anthony Berthelier stellt auf der Huffpo.fr Reaktionen französischer Historiker zusammen, die Valls nicht zustimmen. Der Historiker Jean-Clément Martin sagt etwa: "Alle revolutionäre Ikonografie hat die mütterliche Brust gefeiert, einerseits um eine politisch akzeptable Erotik zu entwickeln, aber vor allem um auf der Rolle der Frau als Mutter zu bestehen - was ihre Freiheit gerade einschränkt. Das Zeigen der Brust hat nichts mit der Freiheit der Frauen zu tun."

Die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz findet die Debatte um das Burka-Verbot in Deutschland völlig überflüssig, weil es höchstens 0,002 Prozent der Gesamtbevölkerung betreffe und von davon sei noch ein gut Teil "biodeutsche" Konvertitinnen, die alle möglichen Probleme haben mögen, aber kein Integrationsproblem: "Nach meinem Rechtsverständnis soll jeder selbst entscheiden, wie er oder sie sich kleidet. Ein generelles Verbot ist unnütz. Sogar wenn die Entscheidung, die Burka zu tragen, keine eigene, sondern fremdbestimmt ist, so ist es letztlich auch die eigene Entscheidung, sich das gefallen zu lassen", kommentiert sie kühl in der SZ.

Martin Pollack, der nicht mehr am Polen-Institut in Wien arbeiten darf, sieht Polen im Gespräch mit Gerhard Zeillinger von der NZZ auf dem Weg in ein autoritäres Regime und beklagt das Desinteresse der hiesigen Öffentlichkeit. Auch Jaroslaw Kaczynski sei gefährlicher als er wirke: "Er wirkt, von außen betrachtet, gar nicht bedrohlich, sondern eher lächerlich. Ein kleiner, rundlicher, sauertöpfischer, schrulliger Mann, der keine Fremdsprachen spricht und im Umgang mit dem Ausland unbeholfen und weltfremd wirkt. Aber er weiß genau, was er will. Und er wird nicht zögern, alles aus dem Weg zu räumen, was ihn hindert. Das gilt in erster Linie für seine Kritiker, aber auch für demokratische Institutionen, wie die Entmachtung des Verfassungsgerichtshofs gezeigt hat."

In der FAZ nimmt Bülent Mumay Erdogans "sehr eigene Auffassung" von Demokratie aufs Korn: "Für die Massen und für ihre Schirmherren, die AKP, reichte es, die Putschisten zu verfluchen, um demokratisch zu sein. Die Putschisten erlitten - zum Glück - eine harsche Niederlage. Die Regierung aber, der es gelang, den Coup zu vereiteln, setzte flugs ihren eigenen Staatsstreich wiederum im Namen der 'Demokratie' um. Was Sie gleich lesen werden, geschah in einer einzigen Woche im Namen der 'Demokratie'. Nicht, dass Sie etwa anderes denken!"

FAZ-Herausgeber Holger Steltzner ist mit der Steuernachforderung der EU-Kommissarin Margrethe Vestager an Apple - lumpige 13 Millarden Euro plus Zinsen - zufrieden und kann amerikanische Proteste gegen diese Forderung nicht verstehen: "Schließlich hat erst das einseitige amerikanische Steuerrecht Apple das Anhäufen eines riesigen und rasant wachsenden Bergs unversteuerter Barmittel im Ausland in Höhe von fast 200 Milliarden Dollar ermöglicht." Allerdings findet Steltzner, dass auch EU-Politiker, die das Steuerdumping einiger EU-Staaten verantworten, an den Pranger gehören: "Dazu zählt auch der langjährige luxemburgische Premierminister und heutige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker." Eine kleine Presseschau zum Thema liefert Slate.fr.
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Kulturpolitik

Dass die saudische König-Fahd-Akademie keine weiteren Schulen in Deutschland mehr bauen will, findet Regina Mönch in der FAZ überfällig. Das dies überhaupt bisher so ohne weiteres erlaubt war, erscheint ihr außerdem ziemlich kurzsichtig: "Ursprünglich gab es für die Genehmigung, wahhabitisch-fundamentalistische Schulen (und Moscheen) errichten zu dürfen, gute Rabatte im Ölgeschäft. Das ist heute, mit niedrigen Ölpreisen, kaum mehr ein Grund, die Augen zu schließen und den Verstand auszuschalten. In Belgien hat dieser Freibrief - günstiges Öl gegen ungehinderte radikale Missionierung - zu einer blühenden Salafistenszene geführt."
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Geschichte

Anlässlich der Diskussion um den Doppelpass wirft der Historiker Michael Sommer in der FAZ einen Blick auf den Umgang von Griechen und Römern mit der doppelten Staatsbürgerschaft.
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Internet

Markus Beckedahl von Netzpolitik ist mit der Entscheidung der EU-Regulatoren zur Netzneutralität zufrieden: "Die EU hatte im vergangenen Jahr die Verordnung zum digitalen Binnenmarkt und damit Regeln zur Netzneutralität beschlossen. Die Regeln waren aber in entscheidenen Fragen unscharf formuliert, so dass die europäischen Regulierungsbehörden diese konkretisieren sollten. Das Ergebnis wurde heute vorgestellt. Jetzt ist bereits klar: Es gibt keinen Spielraum mehr für Telekommunikationsunternehmen, im Rahmen von sogenannten 'Spezialdiensten' kostenpflichtige Überholspuren im Netz zu schaffen." Zufrieden äußert sich auch Europa-Politikerin Julia Reda in ihrem Blog.
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Wissenschaft

Deutschland hat eine besondere Verpflichtung, bedrängten türkischen Wissenschaftlern zu helfen, schreibt Wolf Lepenies in der Welt. Die nach dem in die Türkei emigrierten Pathologen benannte Philipp-Schwartz-Initiative nimmt diese Verpflichtung wahr: "Die Türkei bot verfolgten Deutschen eine sichere Zuflucht - im eigenen Interesse. Das Regime Atatürks benötigte dringend Experten, um die Modernisierung des Landes voranzutreiben - und fand sie in den deutschen Exilanten. Der Jurist Ernst Eduard Hirsch verfasste das türkische Handelsgesetzbuch, das Gesetz zur Einkommens- und Körperschaftssteuer entwarf der Finanzwissenschaftler Fritz Neumark. Der Soziologe Gerhard Kessler gründete mit einem einheimischen Kollegen die erste Gewerkschaft in der Türkei, Paul Hindemith leitete das Konservatorium in Ankara."
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Ideen

Ilija Trojanow kritisiert in seiner taz-Kolumne eine kulturalistisch formulierte Reaktion auf die islamistische Herausforderung (und polemisiert dabei gegen einen "deutschen Politologen, der den Eliten stets nach dem Mund redet", den er vornehmerweise nicht bei seinem Namen Herfried Münkler nennt, unser Resümee des FAZ-Interviews, auf das Trojanow anspielt). Trojanows Gegenprogramm klingt allerdings vage: "Anstelle einer immer wieder geforderten und gelegentlich mancherorts eingerichteten Leitkultur würde es völlig ausreichen, einen offenen kulturellen Gemeinschaftsraum zu ermöglichen: Orte der Begegnungen, wo unterschiedliche Ideen, Meinungen und Lebensentwürfe sichtbar werden und ausprobiert werden können, miteinander konkurrieren, wo die Vielfalt der Vorstellungen jenseits der Konformität auflebt."
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