Efeu - Die Kulturrundschau

Wer das nicht Paradies nennt

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13.03.2021. "MeToo an der Volksbühne" titelt die taz heute: Zehn Mitarbeiterinnen werfen dem Intendanten Klaus Dörr Belästigung vor, die taz berichtet. In der Welt wirft Deniz Yücel den Aktivisten, die es ablehnen, dass Weiße Amanda Gormans Texte übersetzen, Rassismus vor. Aber Übersetzererfahrung wäre schon von Vorteil, wendet Tell ein. Die NZZ reist im Museum Rietberg zu den Ursprüngen der Kunst. Der Standard erinnert an den verstorbenen Regisseur Peter Patzak. Und die SZ macht es sich mit einem Drink im Eames Lounge Chair gemütlich.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.03.2021 finden Sie hier

Bühne

"MeToo an der Volksbühne" titelt die taz heute: Mehr Feminismus hatte Klaus Dörr zu Beginn seiner Intendanz der Berliner Volksbühne verordnet, nun liegt der taz ein Brief an Themis, der Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt vor, in dem zehn Mitarbeiterinnen Dörr "intime Berührungen, erotisierende Bemerkungen, anzügliche Witze, sexistische Sprüche (…), Upskirting", ein "vergiftetes Betriebsklima" und Altersdiskriminierung vorwerfen, wie Viktoria Morasch in einem großen Hintergrundbericht schreibt. Viele der Frauen wollen aus Angst anonym bleiben. "Verena von Waldow, die heute Dramaturgin ist und am Schauspiel Stuttgart Assistentin des Intendanten war, sagt, Klaus Dörr habe ihr bei einer der vielen Premierenfeiern gesagt: 'Du bist eine scheiß Assistentin, aber jeder will dich ficken.' (…) Laut von Waldow funktioniere Klaus Dörrs System so: 'Alle einmal durchprobieren, mal gucken, ob eine anbeißt.' Eine frühere Mitarbeiterin von Dörr am Maxim-Gorki-Theater beschreibt es so: 'Er sucht sich die raus, die sowieso etwas wacklig sind, am Anfang der Karriere zum Beispiel, und dann gibt er den großen Versteher. Manche Frauen fühlen sich anfangs auch geschmeichelt - wo Übergriffe anfangen, ist ein schmaler Grat.' Eine Frau, sie arbeitet an der Volksbühne, fasst es so zusammen: 'Es ist bei ihm immer eine Mischung aus Fördern und Übergriffigkeit.'"

Im taz-Gespräch mit Anna Fastabend erklärt Eva Hubert, Vorständin von Themis, weshalb Betroffene meist lange schweigen: "Das hat ganz stark mit dem branchentypischen Gefühl zu tun, dass doch eigentlich alle eine große Familie sind und für die richtige Sache kämpfen. Hinzu kommt, dass man beim Proben oder Drehen viel Zeit miteinander verbringt. Häufig sitzt man an den Feierabenden noch zusammen, trinkt Wein, diskutiert. Da verschwimmt das Berufliche mit dem Privaten. Und natürlich gibt es in diesen Branchen eine ganz andere Körperlichkeit als bei normalen Bürojobs."

Außerdem: In der NZZ vermisst Bernd Noack neben der Kultur vor allem auch die Kulturkritik. Die nachtkritik streamt am Wochenende die Serie "Urlaub in Deutschland" des Theaterhauses Jena. Besprochen wird das Projekt "Creation Notebooks" der brasilianischen Choreografin Lia Rodrigues im HAU 4 (taz).
Archiv: Bühne

Kunst

Wandjina, Australien, Kimberley, 1938, Douglas C. Fox, Aquarell auf Papier. © Frobenius-Institut / Museum Rietberg

In der NZZ reist Philipp Meier in der Ausstellung "Kunst der Vorzeit" im Zürcher Museum Rietberg zu den "Ursprüngen der Kunst". Die Ausstellung zeigt Kopien prähistorischer Felsbilder aus den Frobenius-Expeditionen, wobei die meist von Künstlerinnen angefertigten Kopien eher als von den Vorlagen "inspirierte Nachschöpfungen" gelten, fügt Meier hinzu. Nicht alles ist auf Anhieb verständlich: "Was zum Beispiel diese Menschengestalten mit gehörnten Tierköpfen bedeuten, oder was es mit jenen chaotischen Wimmelbildern aus lauter übereinandergemalten Pferden, Zebras, Büffeln und insektenartigen Menschengestalten auf sich hat. (...) Zu anderen Bildern haben wir einen unmittelbaren Zugang. Da ist eine Elefantenmutter, die mit ihrem Rüssel fast zärtlich ihr Junges umfasst und solcherweise vor einer sich nähernden Raubkatze zu schützen versucht. Da geht es weder um Magie noch um Tierkult. Die Szene muss einen unserer Vorfahren vor sehr langer Zeit schlicht und einfach ergriffen haben, genauso wie sie uns heute ergreifen würde. Und allein deshalb hatte er sie wohl dargestellt. In wesentlichen Dingen, so scheint es uns vor einem solchen Werk, hat sich die Menschheit in ihrer langen Entwicklungsgeschichte kaum groß verändert."

CaptionBild: Max Beckmann. Der Nachhauseweg, aus: Die Hölle, 1919. Lithografie



Zwischen 1915 und 1933 lebte Max Beckmann in Frankfurt, genau jene Zeit nimmt die "kleine, feine" Ausstellung "Städels Beckmann/Beckmanns Städel" nun in den Blick, freut sich Sandra Danicke in der FR, die etwa in dem Kreidelithographie-Zyklus "Die Hölle" "eindringliche Horrorszenarien" nach dem Ersten Weltkrieg betrachtet: "Es sind schlaglichtartige Szenen aus einem großstädtischen Alltag, in denen Beckmann eine traumatisierte Gesellschaft porträtiert und den Betrachterinnen und Betrachtern ihre Ängste und Nöte förmlich um die Ohren haut: eine hungrige Familie, die um eine kümmerliche Dose Sardinen herum am Esstisch sitzt, unheimliche Begegnungen und Ereignisse auf offener Straße, ein grausames Verbrechen auf dem Dachboden, eine hektische Tanzszene, die jeglicher Vergnügung entbehrt."

Im Monopol-Gespräch mit Patricia Grzonka erklärt die in London lebende Galeristin Julia Muggenburg, wie hart Corona, vor allem aber der Brexit die britische Kunstszene trifft: "Seit dem Brexit gibt es viel mehr Bürokratie, und es besteht eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die Verordnungen. Galerien müssen sehr schlau vorgehen, wenn sie Künstler zeigen, die nicht aus England sind. Der Versand der Kunstwerke unterliegt neuen Bestimmungen: Es fällt eine Mehrwertsteuer an, die bereits im Voraus bezahlt werden muss, unabhängig davon, ob eine Arbeit verkauft wird oder nicht. Wenn die Leihgabe zurückgeht, wird diese zurückerstattet, aber dieser Prozess dauert Monate. Neu ist auch, dass Künstler*innen Arbeitsvisa brauchen, die individuell für jeweilige EU Länder gelten."


Weiteres: Im Tagesspiegel berichtet Birgit Rieger über das bei Christie's für 69 Millionen Dollar digitale Kunstwerk des Instagram-Künstlers Beeple. Im taz-Gespräch mit Ronald Berg erklärt Hannes Langebein, Direktor der Stiftung St. Matthäus, wie sich der Dialog zwischen Kunst und Kirche gestalten könnte.

Besprochen wird die große Werkschau "Andy Warhol Now" im Kölner Museum Ludwig, die zwar einen Schwerpunkt auf Warhols Homosexualität und seinen Hintergrund als Kind slowakischer Migranten setzt, in der SZ-Kritiker Alexander Menden aber dennoch nicht unbedingt einen "frischen, queeren Blick" auf all die bekannten Werke gewinnt und die Neo-Rauch-Ausstellung "Der Beifang" im Berliner Gutshaus Steglitz (Tagesspiegel).
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Literatur

Jede Literatur ist Transzendenz und Übertragung, erinnert Deniz Yücel in der Welt mit Blick auf die hartnäckigen Debatten um die Übersetzung der Gedichte von Amanda Gorman. Aktivisten, die es ablehnen, dass Weiße Gormans Texte übertragen, und dies mit ihrer eigenen "Verletztheit" begründen, haben sich eh von vornherein für Argumente nicht mehr zugänglich verschanzt und betreiben im Grunde das Geschäft der Gegenseite, die sie angeblich kritisieren, schreibt er. "Wer meint, Amanda Gorman könne nur von schwarzen Übersetzerinnen in andere Sprache übertragen werden, interessiert sich nicht für die Lyrikerin Gorman, sondern für die eigenen ideologischen Projektionen auf sie. Für dieses Denken, das Menschen ihre Individualität abspricht und in ihnen bloß Repräsentanten und Träger von Identität sieht, gibt es einen Fachbegriff: Rassismus."

In der Frage um Repräsentation, ums Zuhören und der Kenntnisnahme von diskriminierten Positionen des Sprechens sind Einfühlungsvermögen und Respekt als allererstes geboten, schreibt Frank Heibert in seinem sehr um genaues Abwägen bemühten Tell-Essay zur Gorman-Debatte. Aber ersetzt eine weiße Übersetzerin wirklich die schwarze Originalstimme hinter einer Übersetzung? Mitnichten, "wer übersetzt, spricht nämlich immer für jemanden, an seiner oder ihrer Stelle - in einer anderen Sprache. Es gehört zum Ethos, zur Verantwortung dieses Berufs, sich so gewissenhaft wie möglich in das Andere einzufühlen und den neu geschriebenen Text so überzeugend wie möglich zu gestalten." Somit ist "das Problem einer Übersetzung des Gorman-Gedichts ins Niederländische durch Rijneveld nicht die fehlende schwarze Erfahrung, sondern die fehlende Übersetzungserfahrung. ... Bei der Entscheidung des Meulenhoff-Verlags gab wohl vor allem ein übersetzungsfernes Argument den Ausschlag: Rijnevelds Prominenz durch den International Booker Prize."

Weitere Artikel: Elke Brüns meditiert in der taz über das sich neu verhandelnde Verhältnis zur Tierwelt, das sie in T.C. Boyles neuem Roman "Sprich mit mir", aber auch in der Netflix-Doku "Mein Lehrer, der Krake" sich abzeichnen sieht. Der Schriftsteller Bora Ćosić schreibt in der NZZ über sein Leben auf dem Land, wohin er sich zurückgezogen hat. Rainer Moritz ackert sich für die Literarische Welt durch die acht Neuübersetzungen von "1984", die nun auf den Markt gekommen sind, da George Orwells Romane gemeinfrei sind. Für die FAZ hat sich Thomas David mit dem Lektor und Lyriker Robert Robertson per Schalte unterhalten.

Besprochen werden unter anderem Christian Krachts "Eurotrash" (Jungle World, Freitag), Esther Safran Foers "Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind" (taz), Ulrich Peltzers "Das bist du" (taz), Lana Bastašics "Fang den Hasen" (FR), Charlie Kaufmans "Ameisig" (Dlf Kultur), Monika Helfers "Vati" (taz), Amy Waldmans "Das ferne Feuer" (online nachgereicht von der FAZ), Rutu Modans Comic "Tunnel" (Intellectures), Amano Jakus SF-Manga "Adou" (Tagesspiegel), Rainer Hanks "Die Loyalitätsfälle" (Literarische Welt), Andreas Maiers "Die Städte" (SZ) und Arezu Weitholz' "Beinahe Alaska" (FAZ).

Außerdem bringt die FAZ heute ihre erste Literaturbeilage des Jahres, die wir in den kommenden Tagen auswerten.
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Musik

Sinem Kılıç stellt auf ZeitOnline die Amsterdamer Band Altın Gün vor, die den Fundus türkischer Musik durchleuchtet und bei diesem "verrückten Laborversuch uralte Melodien mit dem knisternden Retrosound der Siebziger zusammenbraut". Das klingt dann so:



Außerdem: Die FAZ hat Victor Sattlers Bericht über den politischen Hiphop aus Tansania online nachgereicht. Und zum Nachhören beim Dlf Kultur: ein Konzert der Berliner Philarmoniker unter Paavo Järvi mit Igor Levit.
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Design

Vor 65 Jahren wurde der legendäre Eames Lounge Chair - ursprünglich übrigens als Nickerchen-Koje für Billy Wilder - und damit ein zeitloser Klassiker des Möbeldesigns entworfen, schreibt Gerhard Matzig in der SZ. Er ist "nicht nur das denkbar eleganteste Emblem der bergenden, zum Überlebensraum werdenden Drinnen-Welt. Er ist auch das zeichenhafte Versprechen einer besseren Welt. Wo man nichts sonst zum Glücklichsein braucht. Außer ein paar Plaids, die auf dem Ottoman (Fußhocker) platziert werden. Dazu kann man geradezu alpin aufragende Bücherberge rund um den Sessel zu einer Mauer der Sehnsucht formen. Jetzt noch ein guter Drink in Griffweite: Wer das nicht Paradies nennt, saß noch nie lesend, trinkend und schlafend im Eames."
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Film

Der österreichische Filmemacher Peter Patzak ist gestorben. Man kennt ihn vor allem als den kreativen Kopf hinter der ORF-Polizei-Satire "Kottan ermittelt". Darin wurde "mit Ermittlungen, die von größerer Dummheit geprägt waren, als irgendeine Polizeibehörde dieser Welt erlaubt, das Verbrecherische an Wien freigelegt", erinnert Bert Rebhandl im Standard. Ursprünglich kam Patzak aber aus der Malerei, er drehte in New York und später auch "den hochinteressanten Thriller 'Parapsycho - Spektrum der Angst'. ... Patzak machte damals wohl ein paar Sprünge zu viel, denn für den Typus des internationalen Genrekinos, den er mit den genannten Filmen eher skizzierte als ausarbeitete, fehlte damals in Österreich wie in Deutschland eine tragfähige ökonomische Grundlage. Dass man ihn aber für einen Regisseur mit Potenzial hielt, geht aus einer prestigereichen Literaturverfilmung wie 'Das Einhorn' (1978, nach Martin Walser) oder später aus dem Krimi 'Der Joker' (1987, mit Peter Maffay in der Hauptrolle)." Das Filmarchiv Austria hat ein Filmgespräch mit Patzak vom Februar 2020 in seinen (ohnehin empfehlenswerten) Youtube-Kanal gestellt: 



David Steinitz warnt in der SZ vor dem bloßen gefühlten Expertentum, das sich manche Zeitgenossen schon alleine auf der Grundlage von Netflix-Serien über historische Sujets selbst bescheinigen. Schließlich mischen sich darin Fakten und Drehbuchideen aufs Entschiedenste. Aktuelles Beispiel: die Netflix-Serie "The Crown" und die aktuelle Debatte ums britische Königshaus im Zuge des jüngsten TV-Auftritts von Harry und Meghan. "Das Paradoxe" an diesem Auskennertum: "Einerseits scheint es vielen Menschen egal zu sein, mit welchem Halbwissen sie da um sich werfen. Andererseits sind viele Menschen schwer beleidigt, wenn sie merken, dass die Macher einer fiktiven Serie es wagen, Sachen zu erfinden." Wobei andererseits "Filmemacherinnen und Filmemacher gerade durch ihre künstlerische Freiheit die Essenz bestimmter Ereignisse manchmal besser destillieren können als die Geschichtswissenschaft."

Außerdem: Die FAS hat Karen Krügers Bericht von ihrem Besuch im neuen Fellini-Museum in Rimini online nachgereicht. Für den katholischen Filmdienst blickt Joachim Valentin auf Spuren des Religiösen im Klimawandel-Kino. Im Tagesspiegel schreibt Lena Schneider zum 90. Geburtstag von Wolfgang Kohlhaase. In der FAZ gratuliert Dietmar Dath Wolfgang Petersen zum Achtzigsten.

Besprochen werden Anthony und Joe Russos Veteranendrama "Cherry" (Presse) und Catherine Breillats "Schmutziger Engel" von 1991 (critic.de).
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Architektur

Nicht nur in Frankfurt ist der Wohnbedarf ebenso groß wie der Wunsch, keine Neubaugebiete vor die eigene Haustür gesetzt zu bekommen, schreibt Matthias Alexander in der FAZ. Im Nordwesten von Frankfurt konnte man sich immerhin auf ein riesiges Neubaugebiet einigen, mit dessen Planung das Architekturbüro Cityförster nach einem städtebaulichen Wettbewerb betreut ist, so Alexander, der dem Entwurf einiges abgewinnen kann: "Der eigentliche Clou des Siegerentwurfs, der Raum für bis zu 23 000 Einwohner und 8000 Arbeitsplätze vorsieht, ist die Aufteilung in vier eigenständige, durch Grünflächen voneinander getrennte Quartiere. In abgewandelter Form lebt hier auf, was Ernst May mit dem Neuen Frankfurt in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erdacht und am konsequentesten in der Römerstadt verwirklicht hat: Es handelt sich um in die Landschaft komponierte, klar konturierte Satellitenstädte, die weitgehend aus sich heraus funktionieren. Die aktuell populäre Idee des Superblocks mit Vorrang für Fußgänger und Radfahrer, wie sie durch das Vorbild Barcelona populär geworden ist, spielt auch hinein."

Außerdem berichtet Alexander von einem FAZ-Kongress mit dem Titel "Zwischen den Zeilen", in dem Rem Koolhaas ausführte, was der Westen mit Blick auf urbane Ballungsräume von Afrika lernen könne.
Archiv: Architektur