Efeu - Die Kulturrundschau

Überschuss an Schönheit

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28.04.2017. Die Welt besucht den neuen Konzertsaal im Dresdner Kulturpalast, die NZZ besichtigt das Konzerthaus La Seine Musicale in Boulogne-Billancourt. Nach wie vor hin und weg sind die Filmkritiker von Angela Schanelecs "Der traumhafte Weg". Le Monde fragt sich, was Netflix-Produktionen auf einem Filmfestival wie Cannes zu suchen haben. Computerspielemusik wird immer komplexer, berichtet die SZ. Außerdem schreibt sie einen Nachruf auf Joe Ouakam, Afrikas ersten modernen Künstler.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.04.2017 finden Sie hier

Film


Überschuss an Schönheit: Angela Schanelecs "Der traumhafte Weg"

Die Begeisterung für Angela Schanelecs fragmentarisch-spröde erzählten "Der traumhafte Weg" hält an. Dies ist Schanelecs bislang "sinnlichster Film", hält Andreas Busche im Tagesspiegel fest: "Durch Reinhold Vorschneiders abstrakte Kameraarbeit, das gewöhnungsbedürftige 4:3-Format, die hypnotische Montage und den artifiziellen Sprachduktus stellt sich eine somnambule Stimmung ein." Ähnlich lautet das Lob von Patrick Holzapfel im Perlentaucher: "Die Lichtmodulationen und Bildkompositionen von Schanelecs Kameramann Reinhold Vorschneider sind von bestürzender Schönheit. Das Karge ... produziert den Überschuss, das Imaginäre - wie die Lakonik im Traum." Cosmia Lutz versichert in der Welt: "Ganz zart hängt hier alles zusammen, nein, rührt aneinander, bleibt trotzdem für sich."

Auch Daniel Kothenschulte von der FR schmilzt dahin: "Es gibt einen Überschuss an Schönheit in diesem Film, doch keine Ästhetisierung. Der Eindruck, den der fragmentarische Stil hinterlässt, ist der eines kunstvollen Bilderbuchs, das die Geschichte, die es illustriert, nie gänzlich preisgibt. Auf der Leinwand wirkt diese Verdichtung gleichermaßen streng wie leicht, was eine seltene und beglückende Erfahrung ist." Zeit-Kritikerin Katja Nicodemus attestiert der Regisseurin "einen ganz eigenen Sinn für die Sinnlichkeit all dessen, was in einer Einstellung geschehen kann. Für das leise Rauschen des Windes oder für Sonnenlicht, das wie zärtlich auf einen Hinterkopf fällt. Für Körper, die auf faszinierende Weise fremd wirken und sich im Blick ihres Kameramannes Reinhold Vorschneider entdecken lassen. Und ganz besonders: für das genaue Gefühl von Orten und Räumen, die in Schanelecs Kino nie Locations sind."

Außerdem wird am Wochenende der Deutsche Filmpreis verliehen. Dazu hat Cornelia Geißler für die Berliner Zeitung ein ausführliches Porträt über den für "Die Blumen von gestern" nominierten Regisseur Chris Kraus verfasst. Nominiert sind auch Nicolette Krebitz ("Wild"), Maren Ade ("Toni Erdmann") und Anne Zohra Berrached ("24 Wochen"), mit denen sich Andreas Busche und Christiane Peitz vom Tagesspiegel an einen Tisch gesetzt haben. Die außergewöhnliche Ballung von Nominierungen für Regisseurinnen lässt das Gespräch auch zum Thema Quote wechseln. Auf gönnerhafte Gesten und Fördermittelvergabe auf Grundlage von Geschlechtsteilen haben alle drei keine Lust. Ade ist dennoch "für eine Quote, auf alle öffentlichen Gelder weltweit. 50 Prozent muss das Ziel sein, auch wenn es nicht sofort umsetzbar ist. Einfach auch um herauszufinden, woran es liegt. Wenn am Ende herauskommt, dass wir selber schuld sind, bitte, dann haben wir es schwarz auf weiß. Außerdem wäre endlich Schluss mit Frauenpreisen und all den Panels und Interviews zur Frauenfrage."

Für den Freitag hat Matthias Dell anlässlich der Preisverleihung das Bildgenre des "Filmförderung zurückgezahlt"-Triumphfotos im Falle einer erfolgreichen Filmauswertung analysiert: "Die Serialität der Bilder ist faszinierend. Es ließen sich - zumal über all die Jahre, in denen die Förderchefinnen auf den Bildern nun schon ihrem Job nachgehen - vermutlich umfassende Mode-Geschichten verfassen. Man erfreut sich an der Professionalität der Repräsentantinnen und erkennt wiederkehrende Performance-Strategien."

In Frankreich gibt es einen ziemlichen Ärger, weil das Festival von Cannes zwei Netflix-Produktionen in den Wettbewerb aufgenommen hat, 'The Meyerowitz Stories' des amerikanischen Reguisseurs Noah Baumbach und 'Okja' des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-ho. Die Frage ist, ob diese Filme überhaupt als "Kino" gelten können, schreibt  Thomas Sotinel in Le Monde: "In den Wochen vor dem Festival haben sie wiederholt, dass Filme, die 'von unseren Abonnenten finanziert' wurden, in erster Linie für diese Abonnenten bestimmt sind und sie allenfalls kurz im Kino liefen, bevor sie online gestellt werden. In Frankreich ist das verboten, denn hier sehen die Regeln einen dreijährigen Abstand zwischen der Auswertung in den Sälen und der folgenden Präsentation auf Videokanälen wie Netflix vor."

Weiteres: Michael Palms Essayfilm "Cinema Futures" beschäfigt sich mit Fragen nach dem analogen Filmmaterial im digitalen Zeitalter, berichtet Sven von Reden im Standard. In der Welt befasst sich Hanns-Georg Rodek mit der filmischen Darstellung von Flugzeugträgern als Phallussymbole. Zum Tod von Jonathan Demme schreiben Daniel Kothenschulte (FR), Ekkehard Knörer (taz), Thomas Klein (Berliner Zeitung), Hanns-Georg Rodek (Welt) und Dietmar Dath (FAZ).

Besprochen werden Jonathan Littells Dokumentarfilm "Wrong Elements" über ugandische Kindersoldaten (FR, Tagesspiegel), James Gunns Weltall-Sause "Guardians of the Galaxy Vol. 2" (taz, Welt) und Lech Kowalskis beim Festival Visions Du Réel gezeigter Dokumentarfilm "I Pay for your Story" (NZZ). Und die Simpsons blicken auf die ersten 100 Tage Trump zurück:

Archiv: Film

Bühne

Bei Mariame Cléments Inszenierung von Francesco Cavallis Oper "La Calisto" in der Opéra national du Rhin Straßburg "wird viel mit dem Zaunpfahl gewinkt", aber die Musik reißt es raus, schwärmt Christopher Warmuth in der FAZ: "Das, was szenisch platt gewalzt wird, differenziert der Dirigent und exzellente Cembalist Christophe Rousset mit seinem erlesenen Barockensemble Les Talens lyriques unermüdlich aus. Die nur dreizehn Musiker erreichen auch die letzte Ecke des verhältnismäßig ebenso kleinen Opernhauses und umgarnen das Ohr mit einem spritzigen, immer bis zur Neige ausgekosteten, sich energisch aufbäumenden Klang. Brüche sucht man hier vergebens. Das Ensemble gleitet durch die Arien und Rezitative mit phänomenaler Geschmeidigkeit."

Weiteres: Der Tagesspiegel wirft einen Blick aufs Programm des Berliner Theaterfestivals "Augenblick mal!" Die französische Theaterintendantin und Regisseurin Ariane Mnouchkine wird für ihr Lebenswerk mit dem Goethepreis geehrt, meldet die FR. Besprochen wird das Gastspiel des Béjart Ballet Lausanne in Zürich (NZZ).
Archiv: Bühne

Musik


Der neue Saal (Foto: Jörg Simanowski)

Neue Konzertsäle schießen auch weiterhin wie Pilze aus dem Boden. In der Welt berichtet Manuel Brug nun von der Eröffnung des neuen Saals, der dem Dresdner Kulturpalast eingebaut wurde. Sein erster Eindruck scheint positiv zu sein: "Unter der weißen Decke können Elemente aus- und eingefahren werden, um sich so auf die Klangbedürfnisse unterschiedlicher Klangkörper einzustellen. 1800 Plätze umfasst der Philharmonie-Spielplatz mit vor allem für das Orchester angemessener Akustik, die in Absprache zwischen Orchester und dem Akustikbüro Peutz geplant wurde. Sie soll den 'Dresdner Klang', einen tiefenbetonten, warmen Streichersound, zum 'Leuchten' bringen." Mehr über den neuen Saal auf BR Klassik.

Computerspielemusik
wird immer komplexer, umfangreicher, symphonischer, staunt Bernd Graff in der SZ: Dass namhafte Orchester ästhetisch überzeugende Game-Scores einspielen, ist keine Seltenheit mehr. Vor allem aber wird die Musik immer interaktiver: "Schon jetzt ist es so, dass etwa das Spiel 'Spore' seine Musik während der Spielerhandlung 'on the fly' erst komponiert. In anderen Spielen wird eine Hintergrundmusik durch die Spieleraktionen mit Soundeffekten angereichert, der Spieler also zum Mitkomponisten. Mit anderen Worten: Die Spiele könnten sich in Zukunft vom Musikteppich, den ein Film unabhängig vom Zuschauer über die Bilder ausbreitet, zu dynamischen Tracks entwickeln, die so individuell sind wie der Spielverlauf eines einzelnen Spielers."

Weiteres: Eine wieder aufgetauchte Handschrift von Gustav Mahlers erstem "Kindertotenlied" gibt Einblick in die Entstehung des Stücks, berichtet Alexander Odefey in der NZZ. Das HipHop-Subgenre Grime mag seinen Novitätencharakter verloren haben, doch in den Veröffentlichungen von Mr. Mitch (hier Auszüge aus dem aktuellen Album) hat es sich seinen Charakter als "hybrider Stilmutant" bewahrt, versichert Christian Werthschulte in der taz. Ebenfalls in der taz verabschiedet sich Ulrich Gutmair von der Szeneband Saalschutz, die sich nach 16 Jahren Ravepunk auflöst. Für den Tagesspiegel hat Martin Böttcher die Technomusikerin Pilocka Krach besucht.

Besprochen werden Arcas "Arca" (taz), Ryuichi Sakamotos Comebackalbum "async" (The Quietus), das neue Album der Gorillaz (taz, Standard, mehr im gestrigen Efeu) und weitere neue Popveröffentlichungen, darunter "Zukunftsmusik" von DJ Hell (ZeitOnline). Daraus das aktuelle Video:

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Literatur

In der NZZ schwärmt Christoph Egger von einem Schriftstellerlexikon von 1882, das er für quasi kein Geld antiquarisch gehoben hat.

Besprochen werden Olga Slawnikowas "2017" (NZZ), Marlon James' mit dem Booker Prize ausgezeichneter Roman "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" (Freitag), Tom Kummers "Nina & Tom" (NZZ), Brian K. Vaughans und Cliff Chiangs Comic "Paper Girls" (Tagesspiegel) und Jostein Gaarders "Ein treuer Freund" (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Stichwörter: Meta

Kunst

Der Senegalese Issa Samb, genannt Joe Ouakam, gilt als Afrikas erster moderner Künstler, schreibt Jonathan Fischer (SZ) in seinem Nachruf: "Mit großen Ausstellungen hatte das kaum zu tun. Denn der Bildhauer, Maler, Filmemacher, Dichter und Philosoph Joe Ouakam gehörte zu den Künstlern, die kein Œuvre im klassischen Sinne brauchen. Zwar war er auch auf der letztjährigen Biennale 'Dak'art' mit Bildern vertreten. Ein Kunstwerk aber war der Mann selbst. Wenn Künstlerkollegen in Oaukams Freiluftatelier eintrudelten, schien ihre Kommunikation nicht über Worte zu laufen. Als vielmehr darüber, dass selbst das Kleinste eine Bedeutung hat. Ouakam etwa stand einmal auf, um ein Blatt, das vom Baum gefallen war, an die 'richtige' Stelle zu legen. Entrückt. Und hyperpräsent."

Weiteres: In der Presse bietet Almuth Spiegler einen Überblick über die Ausstellungen in Köln, Bonn und Prag zu Gerhard Richters 85. Geburtstag. Die NZZ porträtiert die Zürcher Galeristin Susanna Kulli, die nach 33 Jahren ihre Galerie schließt. Die FAZ informiert über den Streit um den Standort für ein Berliner Exilmuseum. Und der Tagesspiegel gibt Tipps fürs Berliner Gallery Weekend.
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Architektur

Nach dem Auditorium de Radio France und der Philharmonie de Paris ist nun mit La Seine Musicale in Boulogne-Billancourt innerhalb von drei Jahren der dritte große Konzertsaal im Großraum Paris entstanden, berichtet Marc Zitzmann in der NZZ: "Von dem riesigen Glas-Portal am Vorplatz führt eine innere Straße durch den ganzen Bau hindurch zur Westspitze. Zunächst herrschen Beton und Glas vor, nüchterne Waagerechten und Senkrechten, Grautöne, die bronzefarbenes Oberlicht wärmt. Doch im ebenerdigen Foyer des Auditoriums gerät dann alles ins Wanken: Die Rundpfeiler wachsen schief und schräg zur Decke, nach den doppelten (Roll-)Treppen verleihen 7 Millionen flaschengrüne Mosaiksteinchen den nunmehr gewölbten Wänden die Anmutung einer Reptilienhaut."
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