Efeu - Die Kulturrundschau

Glanz und Ruhm, aber kein Geld

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14.06.2022. In der Welt erklärt Regisseurin Nicolette Krebitz, warum sie eine Sophie Rois nicht unterm Patriarchat leiden lassen kann: Der fällt viel zu viel für sich selber ein. In der SZ erinnert sich Klaus Lemke an seine aufregenden Tage mit furchterregenden Rockern. Die NZZ lernt im Münchner Museum Fünf Kontinente die Rindenmalerei der Aborigines zu deuten. Die FAZ sieht bei den Ruhrfestspielen marokkanischen Aufbruchsgeist über die Bühne fliegen. Das Zeit-Magazin trägt jetzt keine Mädchenfarben mehr, sondern Shocking Pink.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.06.2022 finden Sie hier

Film

Bilder, die die Welt braucht: Sophie Rois und Milan Herms in "AEIOU"

In ihrem neuen Film "AEIOU" erzählt Nicolette Krebitz nach "Wild" (über die Liebe zwischen einer Frau und einem Wolf - unsere Kritik) erneut eine Liebesgeschichte unter ungewöhnlichen Vorzeichen: Er (Milan Herms) ist irgendwo um die 20, sie (Sophie Rois) ist deutlich älter. Warum interessiert sich die Filmemacherin für solche Konstellationen, hat Marie-Luise Goldmann im Welt-Interview gefragt: "Weil ich mir nichts Langweiligeres vorstellen kann, als Sophie einen gleichaltrigen Mann gegenüberzusetzen und mir dieses Blabla dann anzugucken. Erstens, weil ich denke, dass es diese Geschichten schon tausendmal gibt. Und zweitens, weil mich nicht interessiert, was das Patriarchat einer unabhängigen Frau für Alltagsprobleme beschert, sondern weil ich wissen will, was dieser Frau ganz unabhängig vom herrschenden Gesellschaftsmodell für sie selber einfällt. ... Ich habe diesen Film auch für mich gemacht, um Bilder in die Welt zu setzen, die die Welt braucht."

In der FAZ spricht Claudius Seidl mit Krebitz - es geht vor allem darum, dass "Wild" mit Nominierungen für den Deutschen Filmpreis überhäuft wurde, wohingegen "AEIOU" lediglich für den besten Schnitt nominiert ist. Die Regisseurin glaubt, der Film "wird von der Akademie vielleicht als ein bisschen arrogant empfunden. Sie hätten Sophie lieber leiden sehen. ... Die Filmakademie sagt: Wir entscheiden selbst, welche Filme die Fördergelder bekommen. Nicht eine Jury, nicht Journalisten und Filmkritiker. Die meisten Autorenfilmer der sogenannten Berliner Schule sind nicht in der Akademie. Ich bin es übrigens auch nicht." Außerdem findet sie, "dass man die Preise von den Fördergeldern trennen sollte. Das heißt, man würde den Filmpreis so lassen, wie er ist: dass die Akademiemitglieder abstimmen, wie bei den Oscars. Und wie bei den Oscars gäbe es Glanz und Ruhm, aber kein Geld. Und unabhängig davon gäbe es eine Jury, die Fördergelder verteilt."

Rocker 0083

In der SZ lauscht David Steinitz Klaus Lemkes Erinnerungen an die Dreharbeiten zu "Rocker", den der Filmemacher 1972 fürs ZDF drehte und der seitdem beachtlichen Kultstatus entwickelt hat. Gedreht wurde mit Laien aus dem Biker-Milieu. "'Wir hatten irre Angst vor den Rockern. Vor denen hätte jeder Angst gehabt. Die sind gekommen und gegangen, wann sie wollten. Wenn auf dem Weg ein Motorrad kaputtging, was ständig passierte, weil die alle aus jeweils 500 verschrotteten Motorrädern zusammengebaut waren, dann blieb die ganze Gang stehen und wartete, bis das Ding repariert war.' ... Nach der letzten Klappe fuhren die Rocker einfach weg, ohne ein Wort. Aber einer warf ihm über die Schulter seine Lederjacke zu. Lemke weiß nicht einmal, wer genau, aber es war der ultimative Ritterschlag. Er trug die Jacke zwei Jahre lang jeden Tag - dann wurde sie ihm geklaut." Auf Flickr gibt es im übrigen ein fantastisches Fotoalbum mit Fotos von Heinrich Klaffs, der die Dreharbeiten dokumentierte.

Weitere Artikel: Der im April verstorbene Schauspieler Michael Degen war zum Zeitpunkt seines Todes nicht 90 Jahre alt, sondern vier Jahre älter, berichtet Michael Scholten in der FAZ: Seine Mutter hatte ihm während der Nazizeit einen gefälschten Pass mit einem späteren Geburtsdatum besorgt - nicht nur um den jüdischen Jungen vor seinen potenziellen Mördern zu schützen, sondern auch um ihn dem Zugriff der Wehrmacht zu entziehen. Für die NZZ porträtiert Andreas Scheiner den israelischen Schauspieler Dov Glickman aus der Serie "Shtisel". Peter Körte und Bert Rebhandl werfen in der FAS einen Blick auf die Filmstarts dieser Woche. In der Presse empfiehlt Patrick Holzapfel die Werkschau Ulrike Ottinger im Wiener Filmmuseum.
Archiv: Film

Design

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"Pinkstinks" hieß vor ein paar Jahren eine feministische Kampagne, die sich gegen Rosa als traditionelle Mädchenfarbe wandte - dabei hätte man ja allen Grund gehabt, für das Gegenteil einzutreten, schreibt Tilmann Prüfer in seiner Stilkolumne für das ZeitMagazin anlässlich einer Präsentation von Valentino, der gerade in Zusammenarbeit mit den Farbdesignern von Pantone eine Kollektion in Pink entworfen hat. "Es heißt heute 'Empowerment-Pink'. Statt Angepasstheit soll Pink nun Stärke symbolisieren. Das hat es ja immerhin schon einmal getan. Denn bevor Rosa als Mädchenfarbe eingeführt wurde, war es die Farbe, die mit Durchsetzungskraft und Stärke gleichgesetzt wurde. Elsa Schiaparelli etwa hatte keine zahmen Prinzessinnen im Sinn, als sie in den Dreißigerjahren ihre Kleider in Shocking Pink entwarf."
Archiv: Design

Kunst

Yirrwala: "Lumah Lumah the Big Maraian Cult Hero", ca. 1970. Bild: Museum 5 Kontinente
Das Münchner Museum fünf Kontinente zeigt die Plewig-Sammlung von Aborigines-Kunst, die Annegret Erhard in der NZZ zufolge eigentlich auch jedem Kunstmuseum gut anstünde. Zu sehen ist Rindenmalerei, die sich über den dekorativen Aspekt hinaus allerdings nur ganz erschließt, wenn man sich auf kulturelle und spirituelle Traditionen der Aborigines einlässt, warnt Erhard: "Felsmalereien und die Körperbemalung für die geheimen Zeremonien, die beiden wichtigen, bis heute lebendigen Komponenten der Überlieferungen, sind als Lehrmaterial zu betrachten, als Landkarten und Wegbeschreibungen, auch im archivalischen Sinn. Ursprünglich malten die Aborigines ihr Anschauungsmaterial auch auf die aus Eukalyptusrinde bestehenden Wände ihrer Schutzhütten. Vermehrt in den zwanziger und dreißiger Jahren schufen die Künstler, ermutigt durch Missionare und Forschungsreisende, schließlich Bark-Paintings, da sich diese für den Transport und den Verkauf besser eigneten. Auch deren Narrative wurden angepasst und 'exportfähig' dargestellt. Streng strategisch transportierten sie lediglich Inhalte, die auch tatsächlich offenbart werden durften; Codes und Clan-Zeichen wurden verklausuliert. Ein Verrat an der eigenen Spiritualität, den Dreamings, war damit ausgeschlossen."
Archiv: Kunst

Bühne

Fiq - Réveille-toi! Foto: Groupe Acrobatique de Tanger

"Wer nicht in der Luft schwebt, der lebt nicht", lernt FAZ-Kritiker Kevin Hanuschke bei den Ruhrfestspielen, die in diesem Jahr einem Neuen Zirkus Raum geben, der vor allem in Frankreich, aber auch in Marokko von sich reden macht. Die Groupe Acrobatique de Tanger zum Beispiel verbindet in ihrem Stück "Fiq" Poesie und Aufbruchswillen, dazu Hip-Hop, Breakdance, Clownerie, Akrobatik und Taekwondo, wie Hanuschke erzählt: "Zwei der Artisten wollen Marokko verlassen. Ob sie es schaffen, bleibt offen. Laute Rufe - 'Wach auf! Wach auf!' - führen immer wieder aus der Traumwelt heraus, auf die Straßen von Tanger mit der Musik, den bunten Gewändern und der Lust und dem Frust der Jugendlichen. Vieles, was das junge Marokko bewegt, hat mit westlicher Popkultur zu tun, doch die Gruppe aus Tanger will auch die traditionelle marokkanische Akrobatik in die Szenerie einbinden. In einer Szene setzt sich die Truppe auf die Getränkekisten und diskutiert die gegenwärtigen politischen Probleme des Landes - die Frauenrechte, die Abtreibungsfrage, Jugendarbeitslosigkeit oder den Autoritarismus."

In der Welt freut sich Manuel Brug, dass in Prag der jüdische, 1942 von den Nazis ermordete Musiker Erwin Schulhoff wiederentdeckt wird. Mit deutscher Finanzierung wurde an der Prager Staatsoper dessen Don-Giovanni-Version "Flammen" aufgeführt: "Es ist wirklich eine der schrägsten, verrücktesten, in ihrer konsequenten Konventionsverweigerung auch faszinierendsten Opern überhaupt, die Schulhoff da ersonnen hat."

Hier bekommt man einen hübschen kleinen Eindruck von "Flammen":



Besprochen werden die ersten Stücke bei den Autor:innentheatertage in Berlin (BlZ), Leonard Evers' Science-Fiction-Oper "Humanoid" in Hannover (taz), Wagners "Meistersinger von Nürnberg" an der Deutschen Oper (BlZ), das Turiner Tanz- und Artistikstück "Gelsomina Dreams" im Frankfurter Gallus-Theater (FR), Maya Arad Yasurs "Amsterdam" am Staatstheater Darmstadt (FR).
Archiv: Bühne

Architektur

In der NZZ bewundert Laura Helena Wurth den Sommerpavillon, den der Chicagoer Künstler Theaster Gates für die Serpentine Gallery in Kensington Gardens als kontemplativen Ort der Stille entworfen hat (unser Resümee). Im Observer sieht Rowan Moore in der Schwarzen Kapelle auch eine Hommage aufs Handwerk, die Arbeit und die Energie. "Gates zahlt Tribut an seinen verstorbenen Vater, einem Dachdecker: "'Wenn er auf einem Dach war', sagt der Künstler, 'hatte er die meiste Energie ... Er war am glücklichsten, wenn er arbeitete', und er gab sein Ethos an seinen Sohn weiter."
Archiv: Architektur

Literatur

Besprochen werden unter anderem Heinz Strunks "Ein Sommer in Niendorf" (SZ), Claudia Schumachers "Liebe ist gewaltig" (FR), Gary Shteyngarts "Landpartie" (taz), neue Gesamtausgaben der frankobelgischen Comicklasser "Simon vom Fluss" von Claude Auclair und "Jonas Valentin" von Bom und Frank (taz) sowie Andrea Tompas "Omertà" (FAZ)
Archiv: Literatur
Stichwörter: Tompa, Andrea, Strunk, Heinz

Musik

Gerade einmal 26 Jahre alt ist der finnische Dirigent Klaus Mäkelä, der künftig dem Amsterdamer Concertgebouw vorstehen soll und als Wunderknabe gehandelt wird. Christian Wildhagen hat ihn sich für die NZZ einmal genauer angesehen und ihn, "der sehr bescheiden, aber willensstark auftritt, in einem harmonischen Wechselspiel zwischen zwei Rollen, die eigentlich schwer in Einklang zu bringen sind", erlebt: "Er ist einerseits ein unwiderstehlicher Motivator, der unablässig fordert, formt und vorandrängt, als säße er bei allen beteiligten Instrumentengruppen gleichzeitig mit am ersten Pult. Er ist andererseits aber auch ein souveräner Kontrolleur des Geschehens, eine Art Wagenlenker, der die Zügel in den entscheidenden Momenten straff zu ziehen weiß. ... Bei aller Intensität des Musizierens gestattet sich Mäkelä fast keine äußerlichen Showeffekte." Vor zwei Jahren dirigierte er das hr-Sinfonieorchester:



Außerdem: Beseelt schwebt FAZ-Kritiker Gerald Felber vom Comeback-Jahrgang des Leipziger Bachfests nach Hause, getragen von einer beglückten Stimmung wie sie seit langem - wenigstens drei Jahren - nicht mehr herrschte. Betört hat ihn etwa (beileibe nicht nur) der Monteverdi Chor unter dem Taktstock von Sir John Eliot Gardiner. Michael Pilz erkundet in der Welt das Sommerloch und kehrt mit den Geheimnissen aus Rio Reisers "Junimond" daraus zurück. Besprochen werden Jens Balzers Buch "Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache" (NZZ), ein Auftritt der in London lebenden russischen Elektronikproduzentin Lolina (taz), ein Konzert von Patti Smith (FR), die auf Netflix gezeigte, französische HipHop-Castingshow "Rhythm + Flow: Nouvelle École" (taz) und neue Jazzveröffentlichungen, darunter "Louise" des Emile Parisien Sextetts (SZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik