Efeu - Die Kulturrundschau

Unfähig, den Dämon zu besiegen

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25.11.2022. Update: Hans Magnus Enzensberger ist gestorben. Auch die SZ wünschte sich jetzt nach den Äußerungen einiger putinliebender Musiker aus Teodor Currentzis' MusicAeterna eine Distanzierung des Dirigenten. Suspendierungen findet sie allerdings unpraktikabel. Die FAZ schwärmt von Frances O'Connors Film "Emily" über Emily Brontë. Die FR entdeckt in einer Frankfurter Ausstellung die Werke vierer jüdischer Künstlerinnen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.11.2022 finden Sie hier

Musik

Merklich zerknirscht muss die SZ nun auch anerkennen, dass man Axel Brüggemanns und Alexander Strauchs Recherchen (mehr dazu hier) zu einigen haarsträubenden Social-Media-Aktivitäten von Ensemblemitgliedern aus Teodor Currentzis MusicAeterna nicht mehr einfach als Internet-Gedöns wegwedeln kann (vor ein paar Tagen sah das noch deutlich anders aus). Dass sich nach Suspendierungen durch den Veranstalter (Intendant Raphael von Hoensbroech relativiert: "Wenn Sie 200 Leute in einem Ensemble haben, sind da immer auch Leute mit ganz kruden Gedanken darunter") die Reihen der Musiker lichten, die heute Abend im Konzerthaus Dortmund auf der Bühne stehen, mag daran einen gewissen Anteil gehabt haben. Dennoch ist es dem SZ-Kritiker Egbert Tholl merklich wichtig, Brüggemann und Strauch, deren Recherchen er zwar gerne aufgreift, fortlaufend mit Spitzen zu desavouieren. Suspendierungen hingegen scheinen Tholl "auf Dauer eine wenig praktikable Lösung für den Chor. Musiker wegen unerträglicher Äußerungen vor Konzerten im Westen zu suspendieren, um dann in St. Petersburg, wo MusicAeaterna seit 2019 beheimatet ist (nach Stationen in Nowosibirsk und Perm), wieder mit ihnen zu spielen, wirkt ein wenig bizarr. Gerade bei einem Ensemble, das für seinen Geist des engen künstlerischen Zusammenhalts berühmt ist. Mit diesem Geist, der zu bewundernswürdigem musikalischen Enthusiasmus führen kann, ist auch das umfassende Schweigen zu erklären. Vielleicht allerdings kriegt ein russischer Musiker auch Probleme, wenn er in die Heimat zurückkehrt und zuvor im Westen seine Posts auf demokratischen Standard gebracht hat." Und "auch wenn Currentzis nicht gerade stehen kann für das, was seine Muskerinnen und Musiker im Netz raushauen - seine deutliche Distanzierung davon täte Not". Im Dlf hat Brüggemann über seine Recherchen gesprochen.

Weitere Artikel: Ilgaz Gökırmaklı fragt sich in der taz nach den Gründen für den aktuellen und ziemlich sagenhaften Erfolg Taylor Swifts, die derzeit mit allen Awards beschmissen wird, die überhaupt infrage kommen. Besprochen werden Cosey Fanni Tuttis Memoir "Re-Sisters: The Lives and Recordings of Delia Derbyshire, Margery Kempe and Cosey Fanni Tutti" (taz), Dan Gellers und Dayna Goldfines Kino-Dokumentarfilm "Hallelujah" über die Entstehung von Leonard Cohens gleichnamigem Evergreen (Standard), Daniel Rysers Biografie über den Rapper Stress (NZZ) und das neue Album von Mose (Standard).
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Bühne

Chulpan Khamatova in "Postscriptum". Foto © Jānis Deinats


Am Neuen Theater in Riga inszenierte Alvis Hermanis in diesem Sommer "Postscriptum", ein Stück, das er mit einer der berühmtesten Theaterschauspielerinnen Russlands, Chulpan Khamatova, verfasst hat, die mit grauer Perücke eine Literaturlehrerin spielt. Das Stück half der Kritikerin Alla Shenderova zu verstehen, "wie Russland an den Punkt gekommen ist, wo es gerade steht", schreibt sie in einem eindrucksvollen Theaterbrief aus Lettland für die nachtkritik. Hermanis und Khamatova haben Kapitel aus Dostojewskis "Die Dämonen" (russ. "Bessy"),  Auszüge aus Artikeln der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja und das Videofragment eines Gesprächs zwischen dem Schriftsteller Dmitrij Bykov und dem ukrainischen Politiker und Blogger Oleksij Arestovych in ihr Stück gemischt: So gelingt es den beiden "nicht nur, das Publikum an die Existenz einer dunklen Macht glauben zu lassen und sondern sehr disparate Geschichten zu einem Theaterabend über die neuen russischen Dämonen und ihre Vorfahren zusammenzufügen. ... Unfähig, den Dämon zu besiegen und Buße zu tun, erhängt Stavrogin sich am Ende. Auch Matrescha legt sich eine Schlinge um den Hals und tötet sich selbst. Die mit Gas vergifteten 'Nord-Ost'-Geiseln [im Moskauer Theater 2002] sterben an Erstickung, wie zwei Jahre zuvor die dreiundzwanzig Matrosen des Atom-U-Boots 'Kursk', das in der Barentsee versank. Anna Politkowskaja wurde ermordet. Auf Dmitriy Bykov wurde ein Mordanschlag verübt. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. 'Rettet unsere Seelen, / Wir leiden an Atemnot …' schrieb der Dichter, Sänger und große Meister der Selbstzerstörung Wladimir Wyssotskij schon vor einem halben Jahrhundert."

Besprochen werden Jörg Pohls Inszenierung von Lasse Kochs Mediensatire "Wilhelm Troll" am Theater Basel (nachtkritik) und die Uraufführung von Nuran David Calis' Stück "Das Erbe", inszeniert von Pınar Karabulut an den Münchner Kammerspielen (nachtkritik, SZ).
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Literatur

Update: Hans Magnus Enzensberger ist gestorben, meldet u.a. Zeit online. Erika Thomalla erinnert im Freitag an Hans Magnus Enzensbergers und Gaston Salvatores Zeitschrift TransAtlantik. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw.

Besprochen werden unter anderem Julian Barnes' "Elizabeth Finch" (FR), die E.T.A.-Hoffmann-Ausstellung im Deutschen Romantik-Museum in Frankfurt (online nachgereicht von der FAZ), Monika Fagerholms "Wer hat Bambi getötet?" (Standard), Joe R. Lansdales Horrorthriller "Moon Lake" (TA), Chantal Akermans "Meine Mutter lacht" (SZ) und die Ingeborg-Bachmann-Ausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (FAZ).
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Kunst

Erna Pinner, Köpfe von vier Kronenkranichen, 1920er Jahre, Jüdisches Museum Frankfurt 


Wer kennt die Künstlerinnen Rosy Lilienfeld, Amalie Seckbach, Erna Pinner und Ruth Cahn? Für Lisa Berins (FR) ist die Ausstellung "Zurück ins Licht. Vier Künstlerinnen - Ihre Werke. Ihre Wege" im Jüdischen Museum Frankfurt jedenfalls eine Entdeckung: "Das Publikum kann jetzt selbst durch die Ateliers der vier Künstlerinnen streifen. Es wird überrascht sein, wie progressiv diese vier Frauen waren, die sich zu einer schwierigen Zeit als Künstlerinnen neben ihren männlichen Kollegen behaupteten - und deren Karrieren mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten abrupt endeten."

Und taz-Kritiker Jochen Becker erhält in einer Ausstellung des Kunstpalasts Düsseldorf tiefen Einblick in das Leben der verstorbenen Fotografin Evelyn Richter: "Richters frühe Aufnahmen sorbischer Trachten stehen August Sanders ethnologischer Sicherungsarbeit im Westerwald  nahe. Doch dann stürzte sich ihre Kamera berauscht in die sowjetischen Metropolen; auf einem Selfie in Minsk von 1957 fällt sie aus der kontrollierten Rolle und blickt verliebt in die Kamera. In der Stadtverwaltung von Kiew hängen Pläne zum Wiederaufbau - erst wenige Jahre zuvor hatte die Deutsche Wehrmacht hier nur Zerstörung und Tod hinterlassen. 'Von da an konnte ich einfach nicht mehr so fotografieren wie bisher', wird sie im Katalog zitiert."

Weitere Artikel: In monopol erinnert Jens Hinrichsen an die Fotografin Tina Modotti, deren Bilder gerade im Fhochdrei in Berlin zu sehen sind. Elke Buhr unterhält sich für monopol mit dem kanadischen Künstler Jon Rafman über Künstlicher Intelligenz in der Kunst.. Besprochen wird außerdem eine Ausstellung der abstrakten Malerei Hans Hartungs in der Berliner Galerie Max Hetzler (BlZ)
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Film

Lässt in beengten Situationen die Flamme lodern: "Emily" 

In "Emily" erzählt Frances O'Connors das (kurze) Leben der "Wuthering Heights"-Schriftstellerin Emily Brontë - für FAZ-Kritiker Andreas Kilb ein "unvergesslicher" Film: "Selten schafft es ein Film, seine Heldin zu ergründen, ohne ihr Geheimnis anzutasten. Dass das in 'Emily' gelingt, ist nicht zuletzt Emma Mackey zu verdanken, die aus dem Drama einer einsamen Seele das Panorama einer vereinsamten Epoche macht." Für tazlerin Jenni Zylka steckt in diesem Film viel zu viel an Weltschmerz-Romantik, die dann auch noch "einer vorhersehbaren Dramaturgie" folgt. Dass der Film darüber hinaus den Kenntnisstand der Brontë-Forschung zugunsten von Liebelei-Spekulationen übergeht, tut das übrige: "O'Connor rührt im Ekstase-Topf, und schickt ihre Lovebirds nach einigen amourösen Eifersüchteleien in einsame Hütten, wo sie sich ihrer geknöpften und gebundenen Kleidungsschichten entledigen und übereinander herfallen. ... Immerhin: Die Flammen der verbotenen Liebe lodern hoch." Außerdem hat Frankfurter Allgemeine Quarterly ihr Gespräch mit der Hauptdarstellerin Emma Mackey online nachgereicht.

Alice Diops "Saint Omer"

Im Perlentaucher empfiehlt Nikolaus Perneczky Alice Diops "Saint Omer", der am 30. November im Berliner Kino Arsenal in einer Diop-Werkschau und später auch beim Berliner Festival Around the World in 14 Films zu sehen ist, bevor der Film im Frühjahr 2023 auch regulär im Kino läuft. Diops Film umkreist eine Kindsmörderin und den Prozess, der gegen sie gemacht wird. "Bevor sie mit 'Saint Omer' ihren ersten Spielfilm realisierte, war Alice Diop Dokumentaristin. Der Film inszeniert den Prozess als Gegenstand einer Recherche, wie sie Diops eigenem Film vorausgegangen sein mag. Die Inszenierung lädt ein zur genauen Beobachtung, zum Abwägen des vielstimmigen Chors, der um die Anklagebank versammelt ist, orchestriert von einer Richterin, der man das Bemühen um Verstehen und Empathie durchaus glaubt. Das Drehbuch (mitgeschrieben von Goncourt-Preisträgerin Marie NDiaye) registriert das Ringen der Justiz um Objektivität, aber auch rassistische Vorurteile und Übergriffe."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte (FR) und Josef Grübl (SZ) verneigen sich vor Rosa von Praunheim, der heute 80 Jahre alt wird. Besprochen werden Rian Johnsons Krimikomödie "Glass Onion" (Tsp, ZeitOnline), Guillermo del Toros Animationsfilm "Pinocchio" (Zeit, unsere Kritik), Luca Guadagninos "Bones and All" (Welt, unsere Resümees hier und dort), die Serie "Wednesday", für die Tim Burton vier Folgen inszeniert hat (ZeitOnline) und Clara Sterns in Österreich anlaufender Debütfilm "Breaking the Ice" (Standard).
Archiv: Film