Im Kino

Wurstige Grandezza

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
21.11.2023. Ridley Scotts "Napoleon" verschreibt sich ganz dem Spektakelkino, sowohl in den Schlachtenszenen als auch im Bereich des Sexuellen. Das schaut oft fabelhaft aus und ist ausgezeichnet gespielt; was gleichwohl fehlt, ist der letzte Wille zur Verdichtung.


Das Ancien Régime geht erhobenen Hauptes in den Tod. Marie Antoinette blickt, wenn sie in der Eröffnungsszene des Historyblockbuster-Biopics "Napoleon" zur Guillotine geführt wird, dem tobenden Pöbel offen ins Gesicht und schert sich auch nicht um die Tomaten, die bald ihre einst soziale Überlegenheit anzeigende Perücke verunstalten. Mit materialistischem Ehrgeiz protokolliert Ridley Scott die Handgriffe ihrer Henker, wenn sie den Kopf der einstigen Königin fürs Fallbeil zurechtlegen, ihren Hals freilegen, schließlich das die Klinge befestigende Seil lösen und die Schwerkraft ihr tödliches Werk verrichten lassen.

Ein toller, viszeraler Beginn, und eine Weile schaut es auch danach noch so aus, als hätte Altmeister Ridley Scott einen regelrechten Splatter- und Schauer-"Napoleon" gedreht. Da wäre zum Beispiel die Szene, in der die von Joaquim Phoenix mit wurstiger Grandezza verkörperte Hauptfigur, vorläufig noch lediglich ein Leutnant der französischen Armee, nach einer Schlacht in der blutigen Wunde herumpult, die eine Kanonenkugel im Torso seines Pferdes geschlagen hat. Oder die Szene, in der Napoleon während der Ägyptischen Expedition einen Sarkophag öffnet und sich an den darin konservierten antiken Gebeinen zu schaffen macht.

Gar so makaber geht es später, nachdem der Emporkömmling sich selbst zum Kaiser gekrönt hat, zwar nicht mehr zur Sache; gleichwohl bleibt Scotts Version der Geschichte vom größten und größenwahnsinnigsten aller europäischen Feldherren auch im Folgenden mit Haut und Haaren Spektakelkino. Die geopolitischen Verwerfungen, denen Napoleon seinen Aufstieg verdankt und die er selbst bald entscheidend mitprägt, interessieren den Regisseur nicht die Bohne; und auch als Zeitbild, als Blick auf die Lebenswelt und Moral einer vergangenen Epoche, bleibt "Napoleon" blass. Zumindest in der zweieinhalbstündigen Kinofassung, in der das "Volk" nach einer wüsten, fröhlich obszönen Orgienimpression früh im Film weitgehend aus dem Bild verschwindet - möglich, dass die bereits angekündigte, noch einmal zwei volle Stunden längere Streamingversion in dieser Hinsicht ein bisschen nachlegt.



Stattdessen also Historienkino der Attraktionen, und zwar entlang zweier Hauptverktoren. Zum einen setzt es jede Menge Napoleon-Kink: Scott stellt die Ehe des Königs mit Joséphine de Beauharnaisals (Vanessa Kirby) als eine eskalierende Amour fou mit beständig wechselnden sexuellen Kräfteverhältnissen dar. Wobei es Joséphine ist, die gleich beim Kennenlernen die entscheidende Richtung vorgibt, wenn sie, vor ihrem zukünftigen Ehemann sitzend, die Beine spreizt und dem Machtmensch prophezeit, dass er sich von dem Anblick, den sie ihm in diesem Moment freigibt, zeitlebens nicht mehr losreißen können wird. Napoleon wiederum zeichnet der seit jeher eher rustikal psychologisierende Scott als einen ewigen Adoleszenten, der sich einer nicht gerade allzu verfeinerten Liebestechnik befleißigt. Phoenix' Grunzen während der Beischlafsankündigung ist zweifellos ein Höhepunkt des Films; weckt aber auch Sehnsucht nach jener völlig enthemmten Napoleon-Sauerei, die Scotts die Grenzen des guten Geschmacks nie allzu weit hinter sich lassender Historienblockbuster dann doch nicht sein darf.

Zum anderen sind da natürlich die Schlachten, die napoleonischen Kriege, in denen das französische Heer zunächst von Sieg zu Sieg eilt, dann in Russland fatale Verluste einstecken muss, bevor es beim letzten Aufbäumen in Waterloo eiskalt abserviert wird. Showman, der er ist, baut Scott insbesondere die beiden ikonischsten Schlachten fast schon zu kleinen Filmen im Film aus, mit einem jeweils eigenständigen visuellen Konzept. Napoleons Triumph bei Austerlitz ist ganz elementare Wucht, ein donnernder französischer Ansturm, der den Gegner zunächst aufs Eis und dann mitsamt der Kamera unter Wasser treibt. Blutrote Schlieren im fahlen Licht des Kältetods.

Waterloo hingegen wird zum Zeitbild in Grüntönen. Während die beiden Armeen sich abwartend beäugen, inszeniert das wechselhafte Wetter auf den wogenden Wiesen zwischen Franzosen und Briten ein adrettes Lichtdrama. Wer sich zuerst bewegt, verliert, das wissen prinzipiell beide Heerführer, aber der Duke of Wellington (grandios: Rupert Everett), der die Engländer kommandiert, kann sich das Abwarten eher leisten, weil die verbündete preußische Armee früher oder später eintreffen wird. Durchaus geschickt, wie Scott sich hier von der vorher strikt napoleonischen Erzählperspektive löst und zwischen den beiden Feldherren hin und her schneidet. Spät im Film erhält Napoleon nicht nur im Sexuellen, sondern auch im Militärischen ein Gegenüber auf Augenhöhe. Wenn die beiden Kontrahenten ihre phallischen Fernrohre auspacken, schwingt auch in dieser Konfrontation Libidinöses mit.

Und sonst? Schon auch ein bisschen Leerlauf. Das brennende Moskau, in das die napoleonische Armee von den Russen gelockt wird, schaut gleichfalls einigermaßen spektakulär geisterhaft aus, die meisten anderen Stationen des historischen Bilderreigens werden jedoch vergleichsweise lustlos abgehandelt. Napoleons zweite Ehe mit Marie-Louise von Österreich bleibt Episode, der Wiener Kongress hat kaum zwei Minuten Screentime, die Verbannungen nach Elba und St. Helena stehen im Zeichen des Schmerzes ob der Trennung von Joséphine, bzw der Trauer um ihren Tod. Da zielt Scott auf Gefühle in einer Größenordnung, die deutlich mehr melodramatische Vorarbeit erfordert hätte. Vielleicht wird das eine oder andere in der Langfassung prägnanter konturiert sein - was dem routiniert unterhaltenden und gerade im Schauspiel oft erfreulich exaltierten "Napoleon" zu wirklich großem Kino fehlt, ist allerdings gerade nicht epische Breite (und ganz sicher auch nicht die hier und da angemahnte "Aktualität", also jene Lektionen für die Gegenwart, nach denen es die Filmkritik sonderbarerweise selbst in Historiendramen dürstet), sondern, ganz im Gegenteil, ein konsequenter Wille zur Verdichtung und Zuspitzung.

Lukas Foerster

Napoleon - GB, USA 2023 - Regie: Ridley Scott - Darsteller: Joaquin Phoenix, Vanessa Kirby, Tahar Rahim, Rupert Everett, Mark Bonnar, Paul Rhys, Ben Miles, Riana Duce u.a. - Laufzeit: 158 Minuten.