9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht zwingend Sinn

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2018. Supermächte: Einen Tag vor den russischen Wahlen beschwört der Soziologe Igor Eidman in der NZZ die Europäer, Putin keine politische Rationalität zu unterstellen: Seine Logik sei die des organisierten Verbrechens. Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze benennt in Zeit online den Anteil der Demokraten am Erfolg Donald Trumps. Facebook muss in einem zerknirschten Blogpost einräumen, dass die Firma Cambridge Analytica seit 2015 Daten seiner Nutzer missbrauchte - Techcrunch resümiert den Vorgang.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.03.2018 finden Sie hier

Europa

Wladimir Perewersin, ein ehmaliger Mitarbeiter Michail Chodorkowskis bei Yukos, hat als Kollateralschaden des Chodorkowski-Prozesses Jahre in russischen Gefängnissen verbracht und lebt heute in Deutschland. Im taz-Gespräch mit Steffi Unsleber schildert er das russische Gefängnisleben: "In vielen Zellen sind mehr Menschen eingesperrt als es Betten gibt. Wir mussten in Schichten schlafen. Zum Verhör haben sie mich oft dann geholt, wenn ich gerade mit dem Schlafen dran gewesen wäre. Ich war wochenlang wach und habe kaum gegessen. Das System in Russland funktioniert so, dass Menschen erniedrigt werden. Jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde stehst du unter Druck. Das verändert die Leute. Sie hassen das System, sie hassen aber auch die anderen Menschen. Sie werden verrückt." In einem in der taz vorabgedruckten Kapitel seines Buchs erzählt er, wie er sich den Bauch aufschlitzte, um eine Verlegung zu erreichen.

In der NZZ versucht der seit 2011 in Leipzig lebende russische Soziologe Igor Eidman, Cousin des ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow, uns zu erklären, wie Putins hybride Kriege gegen den Westen funktionieren, denen wir so wenig entgegenzusetzen haben. "Die europäische Öffentlichkeit versucht Putin zu verstehen, seine Handlungen zu erklären, indem sie seinem Handeln die eigene rationale Logik zugrunde legt", resümiert Eidmann. "Doch diese Logik greift nicht. Putin und sein System der Eliten bilden eine eigene mafiöse Welt und sind überzeugt, darin allen anderen überlegen zu sein. Putin denkt als Pate und hält alle anderen Staatsoberhäupter für Vertreter konkurrierender Mafia-Clans. Sein Ziel ist es, sie entweder sich zu unterwerfen oder zu vernichten (wenn nicht physisch, so politisch). Er hat den Ehrgeiz, 'Oberbandit' der Welt zu sein, so wie einst Al Capone in Chicago den Tarif durchgab."

Das Gerede von Sanktionen ist nur vorgetäuscht, meint Leonid Ragozin in politico.eu. In Wirklichkeit verstünden sich Briten und Russen prächtig, behauptet er und verweist auf die britische Reaktion im Fall Alexander Litwinenko: "Nur ein Jahr danach nahm der britische Ölgigant BP Gespräche mit Wladimir Putins Regierung auf, um konfiszierte Anlagen des Jukos-Konzerns zu kaufen. Und dies trotz der Tatsache, dass der früherer Besitzer der Firma, Michail Chodorkowski, gerade eine zehnjährige Gefängnisstrafe absaß - als politischer Gefangener."
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Internet

Sehr viel Wind macht auf Twitter ein Post auf dem Firmenblog von Facebook. Paul Grewal, Vizepräsidenten des Netzgiganten, erklärt da, dass man der Firma Strategic Communication Laboratories (SCL) Zugang zu Facebook-Daten gesperrt hat. Diese Firma bot Nutzern ein psychologisches Profil nach der Preisgabe von Facebook-Daten. Die Sperrung öffentlich zu machen, sei ungewöhnlich, aber das liege an der Prominenz der Firma Cambridge analytica, an die die SCL Daten weitergegeben hatte. Cambridge analytica hatte sich nach den amerikanischen Wahlen gebrüstet, per Facebook Einfluss genommen zu haben (unsere Resümees). Jonathan Shieber und Taylor Hatmaker resümieren den Vorgang bei Techcrunch.  "Je nachdem, wen man fragt, spielte die im Vereinigten Königreich beheimatete Cambridge analytica eine entscheidende Rolle bei den Wahlen - oder landete nur einen Maketing-Coup, um künftige Geschäfte anzukzurbeln." Aber "die Tools, die Cambridge analytica entwickelte, standen im Zentrum der Kritik an Facebooks Modell der Werbung und gesponserte Posts in seinem Netzwerk." Interessant an dem Facebook-Post ist übrigens, dass man einräumt, schon im Jahr 2015 Unregelmäßigkeiten festgestellt zu haben.

Außerdem: Mark Scott und Nicholas Hirst resümieren bei politico.eu eine von Google-Kritikern erstellte Studie über Einflussnahme des Konzerns in der akademischen Sphäre.   
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Gesellschaft

Zu Horst Seehofers neuester Intervention schreibt Wolfgang Herles in Tichys Einblick: "Der neue Heimatminister hat die Debatte mit dem Satz belebt: 'Der Islam gehört nicht zu Deutschland.' Das Problem mit diesem Satz ist, dass die Verneinung von Unsinn ('Der Islam gehört zu Deutschland') noch nicht zwingend Sinn ergibt. Der Mond gehört eindeutig nicht zu Deutschland. Dennoch scheint er auch hier, was nicht zu verhindern ist."
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Kulturpolitik

Eine Differenz jenseits der gerade modischen Differenzen benennt Klaas Ruitenbeek, der bald abtretende Chef des Museums für Asiatische Kunst in Berlin-Dahlem, das ins Humboldt-Forum einziehen und hoffentlich nicht einem erweiterten Kulturbegriff geopfert wird. Er insistiert im Gespräch mit Susanne Messmer von der taz, dass es einen Unterschied zwischen ethnologischen und Kunstmuseen gibt. "Die Ethnologie wollte lokale Sprachen, Kulturen und Religionen dokumentieren, von denen man wusste, dass sie im Zuge der Globalisierung verschwinden würden. Sicher war man sich auch des Kunstwertes vieler der gesammelten Objekte bewusst, aber das kam nicht an erster Stelle. Das Museum für Asiatische Kunst wurde 1906 gegründet, um ein Statement zu machen. Man wollte zeigen, dass die asiatische Kunst der europäischen ebenbürtig ist, und sie mit den Methoden der Kunstgeschichte erschließen. Ich denke, das sind zwei kostbare Traditionen. Es wäre sinnvoll, wenn man das auch weiterhin anerkennt."
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Ideen

Biologie ist gar kein Schicksal. Es stellt sich heraus, dass wir Geschlechterrollen  konstruieren können, freut sich die Kulturwissenschaftliern Christina von Braun, die in ihrem Buch "Blutsbande" eine kritische Geschichte westlicher Verwandtschaftskonstruktionen vorlegt, im Gespräch mit Nina Apin in der taz: "Die Neurobiologin Ruth Feldman hat schwule Väter in Israel untersucht, die Kinder aufziehen. Bei diesen Vätern fand sie einen ähnlichen Bereich im Gehirn aktiviert wie sonst bei Müttern. Es zeigte sich, dass sich der 'Aufmerksamkeitssinn' auch bei Männern einstellt, wenn sie, bei Abwesenheit einer Mutter, die alleinige Fürsorge für den Nachwuchs übernehmen. Das heißt, die soziale Rolle verändert die Biologie! Forschungen wie diese zeigen, dass die angeblich unveränderbare Biologie eine Folge sozialer Verwandtschaftsdefinitionen sein kann - und nicht umgekehrt."
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Politik

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze findet im Interview mit Zeit online Donald Trumps Politik zwar völlig gaga, aber er versteht seinen Erfolg in Amerika, das schon mit der Wahl Barack Obamas gezeigt habe, wie sehr es das Establishment verabscheut: "Sein Narrativ ist simpel: Seit den 1970er Jahren wird die amerikanische Wirtschaft durch die Globalisierung erdrückt. Und die bisherigen Regierungen in Washington haben sich nicht dagegen gewehrt. Er unterstellt seinen Vorgängern schlicht Dummheit. Sie hätten beispielsweise die Freihandelsverträge miserabel ausgehandelt. Deshalb braucht es jetzt eine Regierung, die endlich handelt. ... man kann den Liberalen zu Recht vorwerfen, lange nicht wirklich hingeschaut zu haben. Nehmen Sie Detroit: Wie kann eine Stadt so dahinsiechen und kaputtgehen, ohne dass eine große öffentliche Debatte um die richtige und gerechte Wirtschaftspolitik geführt wurde. Detroit steht beispielhaft für den strukturellen Wandel und zeigt exemplarisch die gravierenden Folgen für die Bevölkerung. Es hat uns aber viel zu wenig gekümmert."
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