Efeu - Die Kulturrundschau

Die tausend Hände, die einen solchen Dolch halten

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13.08.2022. In New York wurde ein Anschlag auf Salman Rushdie verübt, der dabei möglicher Weise ein Auge verloren hat. Kamel Daoud bekennt bei Twitter seine ohnmächtige Wut: "Auf Salman Rushdie wird mit dem Messer eingestochen. Und auf jeden von uns mit ihm." Wir verlinken auf weitere erste Reaktionen. Die Welt sucht nach über tausend Büchern, die aus den Stundenplänen britischer Universitäten verschwunden sind. Standard und critic.de berichten vom Filmfest Locarno. Die FAZ genießt einen Tränenregen im Barocktheater von Schloss Drottningholm. Die Literaturkritiker erinnern sich mit Liebe an Sempé.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.08.2022 finden Sie hier

Literatur

Mehr als dreißig Jahre, nachdem Ajatollah Khomeini in einer "Fatwa" aufrief, Salman Rushdie zu ermorden, ist der Schriftsteller nun tatsächlich Opfer eines Attentats geworden: Bei einer Veranstaltung in New York wurde er mit einem Messer angegriffen - der Täter hat mehrfach zugestochen. Derzeit befindet Rushdie sich an einer Beatmungsmaschine im Krankenhaus, meldet der Guardian. Sein Sprecher Andrew Wylie sprach in einer Mitteilung von "signfikanten Verletzungen: 'Die Nachrichten sind nicht gut. Salman wird wahrscheinlich ein Auge verlieren; die Nerven in seinem Arm wurden verletzt und seine Leber wurde durchstoßen und verwundet." Als mutmaßlichen Täter konnte die Polizei den 24-jährigen Hadi Matar aus New Jersey identifizieren, meldet der Guardian außerdem. Die FAZ sammelt Stimmen und Reaktionen.

Wenige Kommentare in den Medien bisher, der Mordversuch geschah gestern Abend hiesiger Zeit. Kamel Daoud bekennt bei Twitter seine ohnmächtige Wut: "Auf Salman Rushdie wird mit dem Messer eingestochen. Und auf jeden von uns mit ihm. Aus vollem Herzen stehe ich zu dem immensen Schriftsteller unserer Zeit. Gegen jene, die die Welt auf eine einzige Geschichte reduzieren wollen, die Geschichte ihres verrückten Glaubens. Zorn über die tausend Hände, die einen solchen Dolch halten."


"Und all das, weil Salman Rushdie ein Buch geschrieben hat", schreibt Gal Beckerman von Atlantic. "Die vielleicht aufrüttelndste unmittelbare Reaktion kam von PEN America: 'Wir können uns an keinen vergleichbaren Vorfall eines öffentlichen gewaltsamen Angriffs auf einen literarischen Autor auf amerikanischem Boden erinnern'. Und das ist wahr: Welche anderen Gesellschaften haben uns ermordete Autoren beschert? Stalins Sowjetunion ist diejenige, die mir am schnellsten in den Sinn kommt. Osip Mandelstam, der in einem Gefangenenlager starb. Isaac Babel wurde hingerichtet."

Hannes Stein schreibt in der Welt: "Vor ein paar Jahren hat Rushdie gesagt, dass ein Roman wie 'Die satanischen Verse' heute nicht mehr veröffentlicht werden könnte. Zu groß sei heute der Konformitätsdruck, die Ideologie des kulturellen Relativismus habe gesiegt. Das Schreckliche ist, dass er Recht haben könnte."

"Was für eine Schande! Was für eine Regression der liberalen Moderne", ruft Deniz Yücel auf Welt+ als er die Recherchen der Times liest, derzufolge an britischen Universitäten über tausend Bücher aus den Stundenplänen entfernt oder mit Warnungen versehen wurden. Die Auswahl erfolgt offenbar nach paternalistischer Willkür, auch moderne Klassiker der antirassistischen Literatur wie Colson Whiteheads "Underground Railroad" sind betroffen: Dieses "Meisterwerk wurde mit dem Pulitzer-Preis sowie dem National Book Award for Fiction' ausgezeichnet und von Amazon als Serie verfilmt. Doch an der Universität Essex gilt es wegen der 'anschaulichen Beschreibung von Gewalt' als bedenklich und wurde aus der Lektüreliste eines Einführungskurses gestrichen." Betroffen ist auch Thomas Thistlewoods Bericht der Gewalt, die im 18. Jahrhundert in den USA gegen Sklaven gerichtet wurde, "ein in der Tat erschütterndes, aber auch ein authentisches Zeugnis, das zwar nicht zum literarischen Kanon gehört, das aber angehende Historiker kennen sollten, zumindest, wenn sie sich mit dem transatlantischen Sklavenhandel beschäftigen. An der Universität Lancaster geht's auch ohne. ... Was für eine Bevormundung!" Auch Thomas Meineckes "Tomboy" ist allem Anschein nach betroffen.

Weitere Artikel: Der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerassimow nimmt nach einer Pause sein Kriegstagebuch aus Charkiw wieder auf. Doris Akrap streift für die taz durch die Literaturszene von Riga. Sylvia Staude spricht für die FR mit dem Krimiautor Christoffer Carlsson. Karl Wagner erinnert in der NZZ an den Schriftsteller Karl Emil Franzos und dessen Roman "Der Pojaz". In der Langen Nacht des Dlf Kultur widmet sich Beate Ziegs den Literaturen der Sinti und Roma. Die NZZ präsentiert in einer Bilderstrecke Schriftsteller in Badehosen.

Besprochen werden unter anderem Kristina Gorcheva-Newberrys "Das Leben vor uns" (taz), Ralf Rothmanns "Die Nacht unterm Schnee" (NZZ), Bryan Washingtons "LOT" (SZ), Christine Langers Gedichtband "Ein Vogelruf trägt Fensterlicht" (FR), Émile Bravos Comic "Spirou oder: die Hoffnung" (taz), Amor Towles' "Lincoln Highway" (Dlf Kultur), und Kim de l'Horizons Debütroman "Blutbuch" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Jean-Jacques Sempé 2016 beim Signieren. Foto: Olivier Meyer, CC BY-SA 4.0


Die Zeitungen sind voll mit Nachrufen auf Sempé. Man kann sich keinen anderen Künstlern vorstellen, dem so viel Liebe entgegengebracht wird - in Frankreich natürlich: "Beim Trauern um seine 'Grands Hommes' und längst auch Frauen ist Frankreich unübertroffen", schreibt ein bewundernder Jürg Altwegg in der FAZ. "Es weiß, was es ihnen verdankt, und ist fähig, die Trauer in Worte zu fassen" - aber auch in Deutschland. Von Sempé konnte man lernen, die Widrigkeiten des Lebens und seine Widersprüche mit Humor zu begegnen - oder mit "zarter Menschlichkeit", wie Arno Widmann in der FR vorschlägt: "Meine Lieblingszeichnung von ihm zeigt eine Bibliothek, die fast an einen Dom erinnert. Bücher, Bücher, Bücher, Bücher, Tausende, Zehntausende, ach was unzählig viele Bücher. Unten stehen zwei Herren: 'Warum willst Du ein Buch schreiben?' 'Ich möchte mich aus der Menge hervorheben'. Das macht Sempé aus: Der heiter-spöttische Blick auf die eigene Lage."

"Bei Pfützen habe ich oft an ihn gedacht", bekennt Katrin Bettina Müller in der taz. "Denn schon als Ballettschülerin hatte es mir eine Zeichnung von Sempé angetan, in der vier kleine Ballettratten mit großem Vergnügen vom Bordstein in eine Pfütze hüpfen."

Harry Nutt (BlZ) hatte es besonders ein Salatkopf angetan: "Nichts ist einfach. 'Nothing is simple', heißt ein kleiner Band des französischen Zeichners Jean-Jacques Sempé, auf dessen Cover ein kleines Landhaus abgebildet ist. Ein überdachter Schuppen, Holz vor der Hütte. Gestört ist die Idylle jedoch durch ein geradezu zwanghaftes Bedürfnis, sich abzugrenzen. Vom Nachbargrundstück trennt das kleine Anwesen ein langer, gerader Zaun. Gerade? Nicht ganz. Die Bestellung der Grundstücke unterscheiden sich durch zwei öde Monokulturen, in denen sich ein Salatkopf als derart störrisch erwiesen hat, dass der geradlinige Zaun einen Winkel schlagen muss."

Und Einsamkeit und Liebe konnte er wie kein anderer. Matthias Heine erinnert sich in der Welt an "eine Zeichenfolge, in der man zunächst ein küssendes Paar vor einem abfahrbereiten Zug im Bahnhof sieht. Um es herum stehen lauter Männer in Sechzigerjahre-Angestelltenkluft, die sehnsüchtig zu ihnen hinüberschauen. Als der Zug abfährt, winken aus jedem Fenster Hände der einzigen Frau auf dem Bahnhof zu."

Weitere Nachrufe von Claudia Mäder in der NZZ, von Gerrit Bartels im Tagesspiegel und von Andreas Platthaus in der FAZ.

Elina Brotherus, Der Wanderer 2. Aus der Serie "The New Painting", 2003, © Elina Brotherus


Eine Lektion in feministischer Fotografie bekommt FAZ-Kritiker Freddy Langer von der Künstlerin Elina Brotherus im Fotografie Forum Frankfurt erteilt: "Über ihre gesamte Karriere hinweg fotografiert Elina Brotherus vor allem sich selbst. Doch während es sich anfangs um klar autobiografisch begründete Selbstporträts handelte, beschloss sie 2004, sich nur noch als Modell für ihre und andere künstlerische Ideen zu betrachten. Während sie also hier in intimen Selbstbefragungen Einblicke in ihren Gefühlshaushalt zulässt, schlüpft sie dort in fremde Rollen und beruft sich auf Ideen der Kunst und der Kunstgeschichte. In einem Bild allerdings finden die Ansätze zusammen: im Motiv 'Disobedience', einem Doppelporträt, für das sie gemeinsam mit der österreichischen Aktionskünstlerin Valie Export im Studio posiert und deren Arbeit 'Stand Up, Sit Down' paraphrasiert."

Jörg Häntzschel hat sich für die SZ drei Videotelefonate lang mit zwei Mitgliedern von Ruangrupa über die Antisemitismusvorwürfe unterhalten: Reza Afisina bedauert, nicht genug hingeguckt zu haben bei einigen Kunstwerken, während Farid Rakun die Vorwürfe einfach rassistisch findet und jammert: "Wenn es nicht der Antisemitismus wäre, dann wäre es etwas anderes, das ist seit Januar klar und wird täglich klarer. ... Es ist egal, was wir tun. Im Januar wurden wir schuldig gesprochen, seitdem müssen wir ständig beweisen, dass wir es nicht sind."

Besprochen werden zwei Liebermann-Ausstellungen in Berlin: in der Alten Nationalgalerie und in der Liebermann-Villa am Wannsee (NZZ)
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Musik

Hingerissen bespricht Björn Bischoff für Zeit am Wochenende das gemeinsame Album von Danger Mouse und Black Thought: "Beats und Bässe erscheinen immer fein justiert, der eigene Groove des Albums deutet darauf hin, dass es als Gesamtkunstwerk angelegt wurde. Alles hier verweigert sich der Schnelllebigkeit des aktuellen Popzeitgeists, dem kurzen Abriss oder dem einfachen Moment. Und dann sind da ja auch noch Black Thoughts Texte. Nie verrutschen dem Rapper Metrik oder Flow, virtuos springt er von Assoziation zu Assoziation und umkreist seine Themen. Storytelling ist das, aber in sehr kleine Stückchen aufgeteilt. Eine wall of words, aus der zwar keine Refrains herausbröseln, aber sehr viel Sinn und Verstand." Wir hören rein:



Viel Freude hat auch tazlerin Stephanie Grimm beim Hören des viele Jahre verschobenen Debütalbums des Londoner Jazzoktetts Kokoroko, das sich bei einem Workshop in Kenia formiert hat. Diese "Fusion aus Jazz und Afrobeat kommt vielstimmig daher. Es steckt Funk, Soul und viel Londoner Gegenwart darin: flirrende, leicht psychedelische wirkende Highlife-Gitarren; Bläser, die nicht niedelig oder kantig wirken, sondern warm und weich klingen. Eine urban anmutende Polyrhythmik, durch die ein entspannter Groove führt. Das alles eingebettet in Musik, die eher durch komplexe Klang- und Rhythmustexturen als durch eingängige Hooklines besticht. Dazu ein ständiges Pingpong zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Die Musik von Kokoroko nimmt diesen Dialog mit Leichtigkeit auf." Wir hören gerne rein:



Weitere Artikel: In der NZZ porträtiert Janique Weder den Männerchor Heimweh, der in der Schweiz Beyoncé von der Spitzenposition in den Charts verdrängt hat. In der SZ würdigt Cornelius Pollmer den K.I.Z.-Rapper Felix Kummer, der in den nächsten Wochen solo tourt.

Besprochen werden ein Salzburger Smetana-Abend mit Daniel Barenboim und dem West-Eastern Divan Orchestra (Standard) und das neue Cro-Album (ZeitOnline).
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Film

Versuchungen und Verstrickungen: Valentina Maurels "Tengo sueños eléctricos"

Das Filmfestival von Locarno ist "ein Hafen für eine breite, eklektische Mischung aus Filmen und Kinematografien", berichtet Frédéric Jaeger auf critic.de. Im Wettbewerb stößt er mit Valentina Maurels "Tengo sueños eléctricos" auf einen "unheimlich intensiven Film" aus Costa Rica. Es geht um ein pubertierendes Mädchen zwischen zwei Eltern, die sich trennen. "Das Coming of Age wird sehr konsequent aus der Perspektive des Mädchens erzählt, samt allen Versuchungen und Verstrickungen, die in dem Alter naheliegend sind. Mit einer bewegten und bewegenden Handkamera stürzt uns der Film in die wechselhafte Gefühlslage der Protagonistin und antizipiert die Dramen, die sich abzeichnen. Besonders schön ist, wie sich dabei die unterschiedlichen Ebenen der Konflikte (Geld, Status, Poesie, Erotik) gegenseitig durchdringen und bedingen."

Valerie Dirk vom Standard berichtet von den Entdeckungen, die sich hier machen lassen - insbesondere seit das unmittelbare Konkurrenzfestival Venedig vor allem das US-Kino abfischt. "Altmeister Alexander Sokurow beweist, dass das Interesse an neuen, ungewöhnlichen Ästhetiken nicht an das Alter gebunden ist. In 'Skazka' (Fairytale) treffen Hitler, Mussolini, Churchill und Stalin digital aus Archivaufnahmen reanimiert in einem Hieronymus-Bosch-Höllenszenario aufeinander. Sie brabbeln herum, kommentieren die Uniformen der anderen, klopfen an Gottes Tor. Das ist großes Kino, bild- und tongewaltig, komisch und ambivalent. Sokurow kann mit seinem Anti-Propaganda-Film, auch wegen seiner tendenziell Putin-kritischen Haltung, als Favorit gelten. Der Ukraine-Konflikt hat sich hingegen kaum in das Festival eingeschrieben." Mit Sokurows Putinkritik ist es im übrigen aber auch so eine Sache: Andreas Scheiner spricht in der NZZ eher von einer "On-Off-Beziehung" zwischen dem Künstler und dem Präsidenten, der sich auch schon mal persönlich dafür einsetzt, dass der Regisseur seine Filme finanziert bekommt.

Weitere Artikel: Im Filmforum Bremen trauert Marco Koch angesichts leerer Regale in Warschau um das einst reiche DVD-Angebot in Polen, wo man dank englischer Untertitel tief eintauchen konnte in die polnische Filmgeschichte. Marc Hairapetian plaudert für die FR mit den Hauptdarstellern des neuen Kinderfilms "Der junge Häuptling Winnetou" (unsere Kritik). Philipp Stadelmaier schreibt für ZeitOnline einen Nachruf auf die Schauspielerin Anne Heche, die den Folgen eines Autounfalls erlegen ist. Besprochen wird Lav Diaz' auf DVD veröffentlichter Film "Batang West Side" (critic.de).
Archiv: Film

Bühne

Einen "erlesen-schönen Abend" verbrachte FAZ-Kritikerin Anja-Rosa Thöming im schwedischen Schloss Drottningholm, in dessen Barocktheater George Petrou Antonio Vivaldis Oper "Giustino" inszeniert hat. Petrou "ist davon überzeugt, dass das Schlosstheater Drottningholm von 1766 eine lebendige Seele hat, wie er im Gespräch ... betont. Enthusiastisch führt er den Backstagebereich vor und zeigt auf die originale Holz- und Seiltechnik unter der Bühne: 'Hier ist das Zentrum der Aufführung, hier werden die Szenenwechsel vollzogen. Sie brauchen keine vier Sekunden, nur starke Arme, die die Seile ziehen.' Windmaschine, Regenmaschine, Wellenmaschine, Donnermaschine haben für Petrou nichts Museales, sondern verbinden die Bühne sinnlich direkt mit dem Publikum. In den zart rieselnden Klang der Regenmaschine hat er sich so verliebt, dass er sie zu einer Arie, in der zum Pizzikato der Streicher vom 'Tränenregen' die Rede ist, auf die Bühne stellt und von zwei stummen Dienern sanft drehen lässt. Was die Darbietung der Arie keineswegs stört."

Weiteres: In der SZ zeigt sich Egbert Tholl enttäuscht vom Auftakt der Ruhrtriennale, in der nmz berichtet Joachim Lange. Besprochen wird Puccinis "Il Trittico" bei den Salzburger Festspielen (nmz).
Archiv: Bühne