Efeu - Die Kulturrundschau

Es geht nicht ums Auserzählen

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21.02.2017. Packend, kraftvoll und wild finden NZZ und Tagesspiegel Andrea Scartazzinis Oper über den taumelnden König "Edward II". Der Standard bewundert die Ballerina Rebecca Horner. Die taz feiert die kanadische Bildhauerin Liz Magor. Die Welt stürzt sich mit Walt Whitman ins vibrierende New York. Die Zeit führt vor, wie von Trollen inspirierte Musik klingt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.02.2017 finden Sie hier

Bühne


Edward II. an der Deutschen Oper Berlin. Foto: Monika Rittershaus.


Opern müssen nicht logisch sein, und sie dürfen auch Stereotype bedienen, findet Frederik Hanssen im Tagesspiegel und lässt sich deshalb Andrea Lorenzo Scartazzinis wilde Oper "Edward II" an der Deutschen Oper gefallen. Es geht um den Sturz des englischen Königs, der seinen Günstling Gaveston der Königin vorzog: "Packendes, kraftvolles Musiktheater geht da über die Bühne, saugt die Zuschauer in einen Strudel aus Bildern und Klängen, reißt Assoziationsräume auf, verführt, verschreckt." In der NZZ sieht das Georg-Friedrich Kühn ähnlich: "Sehr farbig, bildkräftig, dicht ist die Musik des 1971 in Basel geborenen Scartazzini. Nie verdeckt sie die Gesangsstimmen. Sie schattiert die Einsamkeit des Königs (Michael Nagy), seine Gebrochenheit als gehetzter Außenseiter. Aber auch die Figuren in seinem Umfeld - Gaveston, der alerte Liebhaber (Ladislav Egr, stets in Feinripp-Unterwäsche); Isabella, die verstoßene Königin (Agneta Eichenholz); Mortimer, der diktatorisch auftretende Militärführer der Gegenpartei und Vertraute Isabellas (Andrew Harris); die beiden Comic-Helfer-Figuren -, sie alle entfalten ihre je eigene Aura."

Begeistert, aber auch wehmütig berichtet Helmut Ploebst im Standard von John Neumeiers Doppelabend "Le Pavillon d'Armide / Le Sacre" in der Wiener Staatsoper, bei dem vor allem die Ballerina Rebecca Horner triumphierte: "Mit ihrer fantastischen Körperartikulation gab sie dem apokalyptischen Finale des 1972 entstandenen Stücks eine Wucht, die dem Publikum buchstäblich den Atem nahm. Wie nebenbei hat Neumeier mit dieser nun 45 Jahre alten Arbeit gezeigt, dass das moderne Ballett damals wagemutiger war als heute."

Besprochen werden Armin Petras' Inszenierung von Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" in Stuttgart (taz), die Eröffnung der Händel-Festspiele am Staatstheater Karlsruhe eröffnen mit Floris Vissers Inszenierung der "Semele" (FR), Tim Plegges Choreografie des "Sommernachtstraum" am Hessischen Staatsballett (FR) und Hector Berlioz' "Les Troyens" in Franfurt (bei denen FAZ-Kritikerin Eleonore Büning "Unendlich süße Wehmut" erlebte).
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Literatur

Der Literaturwissenschaftler Zachary Turpin hat einen bislang unbekannten, 1852 als Fortsetzung anonym erschienenen Roman von Walt Whitman entdeckt. Diese Geschichte - "Life and Adventures of Jack Engle: An Auto-Biography" - "könnte durchaus seine schönste Erzählung sein", schreibt dazu Wieland Freund in der Welt, "vielleicht ist sie die ausgeformteste, und in jedem Fall hat sie enorm vom Wirken Charles Dickens' profitiert, der zur selben Zeit seinen Gerichtsroman 'Bleak House' veröffentlichte. ... So besticht 'Jack Engle' vor allem durch seine Beschreibung New Yorks, einer Stadt, die Whitman so großartig gefunden hat wie sich selbst - nicht weil hier das Geld zu Hause war, sondern die Verschiedenheit." An dieser Stelle kann man sich den Roman als pdf herunterladen.

Weiteres: Im Interview mit der NZZ plaudert der Schriftsteller T. C. Boyle anlässlich seines neuen Romans "Die Terranauten" über Trump, den Klimawandel und Visionen. Im Tagesspiegel würdigt Michael Braun die gestern mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnete Schriftstellerin Ilma Rakusa: Diese habe als "polyglottes 'Unterwegskind' (...) eine Weltkarte der Poesie angelegt." Der Standard bringt Tagebucheinträge von Daniel Wisser. Für Tell lotet Sieglinde Geisel die literarische Tiefe aus.

Besprochen werden der neue Comic aus der "Valerian und Veronique"-Reihe (taz), Tex Rubinowitz' "Lass mich nicht allein mit ihr" (Zeit Online) und Adolf Muschgs Erzählung "Der weisse Freitag" (NZZ).

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Kunst


Liz Magor, Carton II, 2006, Collection du Musée d'art contemporain de Montréal, Foto: Richard-Max Tremblay. Migros Museum.

Als echte Entdeckung feiert Beate Scheder in der taz die kanadische Bildhauerin Liz Magor, der das Migros Museum in Zürich eine große Ausstellung widmet: "In einem aufwendigen Prozess produziert sie täuschend echte Abgüsse von Steinen und Putzgeräten, Handtüchern, Kleidersäcken, Textilien, Pappkartons und weiterem mehr. Die kombiniert sie mit Fundstücken vom Sperrmüll, aus Secondhandläden oder dem Supermarkt. Das Zusammenspiel der Materialien erweckt neues Leben in ihnen, und es verdreht die Wertigkeiten: Da sind die abgenutzten Teile von der Resterampe, dort die von ihr angefertigten Skulpturen, die ebensolche imitieren, aber als Kunstwerke einen ganz anderen Status besitzen. Was hat welchen Wert und warum? Was machen die Dinge mit uns und wir mit ihnen?"

Weiteres: Cy Twombly schickt einen immer auf die Suche, freut sich Marc Zitzmann in der NZZ, auch in der Ausstellung im Centre Pompidou suche man immer noch Sinn und Form. Paul-Anton Krüger berichtet in der SZ von Kunst Festival "21,39" in Jeddah, mit dem sich jetzt auch Saudi-Arabien auf dem Kunstmarkt positionieren will: "Die Förderung von Unterhaltung und Kunst ist neuerdings Staatsdoktrin, ebenso der Bau von Bibliotheken und Museen - natürlich im Einklang mit den Werten des Islam."
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Architektur

Die heutige Verbindung von Staat und Kirche in Polen ist Oliver Hamm nicht unbedingt sympathisch, aber wie der Katholizismus in Zeiten des Sozialismus den Kirchenbau durchsetzte, ringt ihm in der NZZ Respekt ab: 3779 Kirchen wurden gebaut und zwar finanziert durch Einzelspenden: "Wenn gar nichts anderes mehr half, bediente man sich auch einmal eines illegalen Tricks, etwa bei der Sankt-Lorenz-Kirche in Breslau (1978-1980), die gegenüber der zuständigen Behörde als Lagergebäude deklariert worden war, um eine Baugenehmigung zu erwirken. Die Architekten Wiktor Dziełaj und Zenon Pretozyński ließen sich von der Sünde, einen staatlichen Beamten betrogen zu haben, von Kardinal Henryk Gulbinowicz freisprechen."
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Musik

Für die Zeit porträtiert Daniel Faulhaber den Basler Musiker Manuel Gagneux, der sich von einem Trollforum dazu inspirieren ließ Gospel und Black Metal miteinander zu kombinieren und jetzt nach Tweets maßgeblicher Leute als großer Hype gefeiert wird. Mit seinem Projekt Zeal & Ardor stellt er sich die Fragen: "Was wäre gewesen, wenn sich die Sklaven damals dem Glauben ihrer Herren verweigert hätten, wenn sie nicht zum Christentum, sondern zum Satanismus konvertiert wären? Wenn sie also nicht Gott, sondern dem Teufel ihre Treue geschworen hätten?" So klingt das dann:



Julian Weber unterhält sich für die taz mit Dave Longstreth vom Projekt Dirty Projectors, deren gleichnamiges Album den unterschiedlichen Facette der Liebe gewidmet ist und den taz-Popredakteur restlos glücklich macht: Das Album "ist eine musikalische Offenbarung, Blue-Eyed Soul fürs 21. Jahrhundert, wie er zwingender nicht klingen kann." Hier als Hörprobe ein aktuelles Video:



Weiteres: Im Rap melden sich immer mehr Lesben schlagfertig zu Wort, berichtet SZ-Kritiker Jan Kedves in einem Überblicksartikel. Für die Berliner Zeitung plaudert Steven Geyer mit Fat Mike von der Punkband NoFX. In der Berliner Zeitung schreibt Mike Wilms zum Tod von Gerrit Meijer, der mit PVC eine der ersten Punkbands Berlins gegründet hat.

Besprochen werden eine neue Film- und CD-Kassette über Otto Klemperers Schaffen (SZ), ein Konzert der Wiener Philharmoniker vor deren Reise nach New York (Standard), ein Konzert des Pianisten Radu Lupu (SZ), Maggie Rogers' Debüt-EP "Now That The Light Is Fading" (Freitag) und neue Jazzveröffentlichungen (The Quietus).
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