Im Kino

Jeder Krieg ist Wahnsinn

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann
15.03.2023. In "Luftkrieg" zeigt Sergei Loznitsa die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Das Problem ist, dass er sich für die aus dem Archiv gezogenen und in die Dokumentation montierten Filme nicht wirklich interessiert. Wenn "Luftkrieg" tatsächlich ein verstörendes Potenzial besitzt, dann in dem ästhetischen Ehrgeiz, der, mehr oder weniger verhalten, in fast allen Aufzeichnungen zutage tritt.

Natürlich ist der Begriff der Naturgeschichte absurd. Das illustriert der Film selbst, der den Krieg, genauer: den Luftkrieg, als eine hochindustrielle Angelegenheit kenntlich macht. Und dabei dem entsprechenden Material aus Filmarchiven in Großbritannien, Deutschland, Frankreich erstaunlich viel Zeit einräumt, bevor er sich wieder den Bildern der zerstörten Städte zuwendet.

Die dokumentarischen Aufnahmen aus den Produktionsstandorten des Luftkriegs gehören zu den interessantesten in Sergei Loznitsas "Luftkrieg - Eine Naturgeschichte der Zerstörung". Nicht weil sie den Titel des Films in Frage stellen. Und auch nicht, weil sie dem viel zitierten Topos von der Industrialisierung der Vernichtung so perfekt korrespondieren. Vielmehr sind es die Sorgfalt der Montage und die Aufmerksamkeit für das Detail, die vor allem die in britischen Fabriken gefilmten Episoden aus dem Alltag der Kriegsindustrie auszeichnen. Handgriffe, Abläufe, Übergänge, Facharbeit; viel Interaktion zwischen Mensch und Maschine, noch mehr Interaktion zwischen Mensch und Mensch, eine konzentrierte, fast heitere Atmosphäre der Produktion, die sich auch achtzig Jahre später nicht ganz aus der Sichtung verlieren will. Die hier gefilmt worden sind, vermitteln den Eindruck, dass sie gerne bei der Arbeit waren. Und das Material vermittelt den Eindruck, dass man sie gerne dabei gefilmt hat.

Andernorts, in einem Film aus einem kriegsrelevanten Betrieb in Nazi-Deutschland, ist die Atmosphäre getragener. Zwischen den Schichten ein Moment der Sammlung, zwischen einer Etappe der Produktion und der nächsten ein Festakt, der die Belegschaft an einem Ort vereint. Man spielt Wagner, Meistersinger, direkt in der Fabrikhalle; Wilhelm Furtwängler dirigiert, und wenn die Kamera gerade nicht mit seinen Gesten befasst ist, richtet sie den Blick auf die Gesichter derjenigen, die in der Halle sitzen und lauschen: deutsches Volk aller Altersstufen, das den Dienst an der Maschine für einen Augenblick unterbrochen hat. Es ist ein sehr gekonnter Film, der hier fünf oder sechs Minuten Screen Time erhält. Und gekonnt ist auch das britische Pendant, das anstelle der Gemeinschaft das Prinzip der effizienten Arbeitsteilung in Szene setzt und vermutlich zu den komplexesten Filmporträts industrieller Fertigung gehört, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gedreht wurden.

Das Problem ist, dass Sergei Loznitsa sich für diese aus dem Archiv gezogenen Filme nicht wirklich interessiert. Nicht für ihre Spezifika, nicht für ihre Differenz und noch weniger für ihre unheimliche Nähe zu diversen Positionen innerhalb der dokumentarischen Kinematografie (auch: der Fotografie) der 1920er und -30er Jahre. In der Perspektive von "Luftkrieg" sind beide Filme Dokumente der Kriegsindustrie, nichts anderes. So wie davor und danach die Luftaufnahmen der zerstörten Städte oder die während der Einsätze aus den Flugzeugen heraus gefilmten Bilder oder die Einstellungen der Eingangssequenz, in der das Mosaik eines relativ idyllischen Nazideutschlands entworfen wird, nie etwas anderes sind als generisches Material, thematisch sortiert und in eine Erzählung eingefügt, die der Regisseur andernorts in den Worten resümiert hat: "Jeder Krieg ist Wahnsinn."


Dass sein Film indes, wie in demselben Interview behauptet, eine bessere Einsicht in den Horror der Luftkriege oder ein neues Verhältnis zur Perspektive der Opfer herstellen würde, trifft nur bedingt zu. Vielmehr vermittelt das Material, das für die Kompilation von "Luftkrieg" ausgewählt wurde, den Eindruck, dass sich die kinematografische Aufmerksamkeit, die im Umfeld der Bombardements mobilisiert wurde, primär auf Restbestände von Architekturen, Infrastrukturen, Fahrzeugen, Haushalten gerichtet hat und sehr viel weniger auf die Körper, die, tot oder lebendig, nach den Angriffen aufgelesen (ausgegraben) und zur Identifikation in Reihen ausgelegt wurden. Auch die Aufnahmen der Restbestände sind instruktiv. Und auch sie sind irritierend: material history in Gestalt von Häuserskeletten, Fensterhöhlen, gestapelten und gereihten Objekten, die für den Blick der Filmenden offensichtlich ein Faszinosum dargestellt haben.

Wenn "Luftkrieg" tatsächlich ein verstörendes Potenzial besitzt, dann wäre es genau hier zu verorten: in dem ästhetischen Ehrgeiz, der, mehr oder weniger verhalten, in fast allen Aufzeichnungen zutage tritt, die 1940, … -44, -45 prä oder post factum entstanden sind und in die Kompilation Eingang gefunden haben. Es gibt viele Travelings in den Straßenaufnahmen aus den zerstörten Städten; viel Sinn für Wahrzeichen und Blickachsen in den Aufnahmen derselben Städte aus der Luft; viel Serialität in den Mikro- und Makroordnungen der Filmbilder; und noch dort, wo die Kamera sich einem Strom von Ausgebombten zuwendet, ist eine Einstellung gewählt worden, die nichts als die Füße derjenigen zeigt, die ihre Leiterwagen über das Straßenpflaster zerren: mit Schuhen, häufiger ohne Schuhe, einzelne mit Bandagen umwickelt, ein langes Defilee in beinahe choreografischer Qualität.

Welche Kamera? - Von wem geführt? - In welcher Stadt und nach welchem Angriff? - In wessen Auftrag, für welche Wochenschau (später: welches Newsreel) und damals mit welchem Kommentar versehen? - Wenn nach der Sichtung von "Luftkrieg" kaum eine dieser Fragen beantwortet werden kann (allenfalls punktuell), dann liegt dies vor allem daran, dass die Bilder aus dem Archiv der Illustration einer Botschaft dienen, die mit relativ wenig Widerspruch zu rechnen hat und aus eben diesem Grund nicht auf das Filmmaterial angewiesen ist, das entsprechend nachlässig behandelt wird.

Stefanie Diekmann

Luftkrieg - Die Naturgeschichte der Zerstörung - Deutschland, Litauen, Niederlande 2022 - Regie: Sergei Loznitsa - Laufzeit: 112 Minuten.