Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.10.2002. Die SZ findet den Stardirigenten Christian Thielemann gar nicht so gut. Die FAZ bereitet uns auf den Literaturherbst vor: Familie, Familie... Die taz bringt ein Gespräch mit dem Physiker, Mathematiker und Theoretiker Heinz von Foerster. Die NZZ sucht nach Gründen für die Krise der Buchbranche.

SZ, 07.10.2002

Als hätten die Orchester nicht schon genug Probleme kaprizierten sie sich ausgerechnet auf Christian Thielemann als neuen Stern am Dirigentenhimmel, wundert sich Reinhard Brembeck. Da die Münchner Philharmoniker ihn gern unter Vertrag nehmen möchten, holt Brembeck zur Generalabrechnung mit Thielemann aus: "Die Moderne ist ihm, trotz einiger Versuche, nie so recht ein Herzensanliegen geworden, und mit der historischen Aufführungspraxis, mit der so ziemlich alle anderen Dirigenten seines Alters vertraut sind, hat er große Probleme. Man muss sich nur seine vor wenigen Jahre erschienene, recht unsägliche Beethoven-CD anhören, um sich davon zu überzeugen". Allein Brembeck kann sich nicht ganz entscheiden, ob er diese "anachronistische Haltung" als einen "Mangel an Neugier" oder als "Desinteresse an der intellektuellen Relevanz von klassischer Musik" deuten soll. "Kein Wunder", schreibt er, "dass eine derart rückwärts gewandte Gestalt wie Thielemann gerade bei traditionsbewussten Institutionen gut ankommt, in Bayreuth, beim Amsterdamer Concertgebouw-Orchester, bei den Wiener und den Münchner Philharmonikern." Wir wünschen viel Spaß beim nächsten Pfitzner-Konzert.

Weitere Artikel: Auf der Suche nach dem Mittelpunkt Europas hat sich Rolf Gustavsson ins ukrainische Chop begeben. Oliver Fuchs unterhält sich mit der Sängerin Holly Valance über ihr Album "Footprints" und seine Phantasien. Selten schafft es der Tod eines Polizeichef ins Feuilleton, der Stockholmer Hans Holmer hat es geschafft. Holmer, der vergeblich versuchte, eine Verschwörung hinter dem Mord an Olof Palme auszumachen, gebühre ein besonderer Rang "unter den Erfolglosen der Kriminalgeschichte", schreibt "tost" in seinem Nachruf. Thomas Thieringer porträtiert den Mann, der Kottan war, aber eigentlich Kabarettist ist: Lukas Resetarits (mehr hier). Andreas Bernard beginnt ein Tagebuch mit "Montag" und natürlich mit den Boomtown Rats. Christian Kortmann berichtet von der Alpen-Tagung "Future Mountains" in Stams.

Auf der Medien-Seite moniert Christopher Keil die "Ausgewogenheit" des Deutschen Fernsehpreises (und einiges mehr).

Besprochen werden Christoph Marthalers Inszenierung von Elfriede Jelineks "In den Alpen" in München, ein Opern-Spektakel von Andre Heller und mit Jessye Norman im Pariser Chatelet, Christian Freis Dokumentarfilm über den Kriegsfotografen James Nachtwey (mehr hier), Kai Wessels Film "Das Jahr der ersten Küsse", Karin Sanders Projekt "wordsearch" (mehr hier) in der New York Times und Bücher, darunter ein neuer Band mit Reden und Schriften von Willy Brandt (und dem emphatischen Titel "Partei der Freiheit"), Gitta Serenys Buch "Das deutsche Trauma" oder Hans Küngs Memoiren "Erkämpfte Freiheit" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 07.10.2002

Bernhard Pörksen hat mit dem Physiker, Mathematiker und Theoretiker Heinz von Foerster (mehr hier und hier) offenbar kurz vor dessen Tod ein "letztes Gespräch" geführt. Sehr schön ist etwa zu lesen, wie Foerster damit kokettiert, dass er das Label Konstruktivismus, zu dessen Begründern er zählt, eigentlich gern losgeworden wäre - und es dabei bestens illustriert: "Wenn mich jemand fragt: Sind Sie ein Konstruktivist, dann frage ich, um überhaupt einen Zugang zu seiner Welt zu bekommen, immer zurück: 'Was ist das? Was meinen Sie?' Er wird irgendetwas antworten, ich werde wieder etwas sagen - und auf einmal entsteht ein Dialog, in dem die verschiedenen Ansichten und Auffassungen sich ausgleichen und für ein gegenseitiges Erstaunen und Entzücken sorgen können. Vielleicht wird mein Gesprächspartner irgendwann zu dem Schluss kommen: 'Ich habe keine Ahnung, was dieser Foerster überhaupt redet.' 'Sehr gut', sage ich dann, 'erfinden Sie etwas!'."

Besprochen werden das Kölner Filmfest Feminale (mehr hier) und Marthalers Jelinek-Inszenierung "In den Alpen" in München.

Schließlich Tom.

FR, 07.10.2002

Reines Rezensions-Feuilleton heute in der FR: Besprochen werden eine Ausstellung über Glück, Stadt und Raum in der Berliner Akademie der Künste (mehr hier), der Alexander Kluy das Etikett "gedankenheiteres Potpourri" anhaftet und einen "herkulischen Mut zur Beschränkung" bescheinigt. Peter Michalzik zeigt sich enttäuscht davon, dass Marthaler und Jelinek, die eigentlich ein hassliebendes Traumpaar bilden müssten, doch nicht zusammen passen, wie er der Münchner Inszenierung "In den Alpen" entnommen hat. Hans-Klaus Jungheinrich lobt die Aufführung von Monteverdis "L'Orfeo" in Baden-Baden: Der "minuziösen Durchdachtheit" des "inszenatorisch lapidar" gezeichneten Schicksalsgangs entspreche die "nuancierte Feinarbeit der musikalischen Interpretation mit den genau getroffenen Sängercharakteren".

Besprochen werden außerdem politische Bücher, darunter David Clay Larges Berlin-Biografie und Ernst-Otto Czempiels Studie zur "Weltpolitik im Umbruch" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Stichwörter: Akademie der Künste, Umbruch

NZZ, 07.10.2002

Thomas Macho, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin, sucht anlässlich der Frankfurter Buchmesse nach Gründen für die Krise des Buchhandels, die in seinen Augen von Ratlosigkeit und Uneinigkeit in der Beurteilung des Mediums geprägt ist - vor allem im Vergleich zum Internet. "Die Qualitäten des Mediums Buch - etwa seine Langlebigkeit - erscheinen erst vor einem weiteren Horizont, der sich als Repräsentation des Wissens charakterisieren lässt. Bibliotheken und Archive sind in dieser Hinsicht nicht bloß Sammlungen von Texten und Büchern, in denen ein jeweils spezifisches Wissen verkörpert ist, sondern vor allem Klassifikations- und Ordnungssysteme, die ihrer eigenen Logik und Evolution folgen." Paradox findet es Macho jedoch, dass sich der Buchhandel beim Verkauf "unbeirrt an Kategorien und Einteilungen der Vorlesungsverzeichnisse (oder Volkshochschulprogramme) aus den fünfziger Jahren" orientiert. So sei die Krise des Buchhandels eine, "die aus mangelnder Anpassung an die Evolution der Wissensrepräsentation selbst entsteht."

Sehnsuchtsvoll blickt Barbara Villiger Heilig nach München, wo der "wie lange noch? - Intendant" Christoph Marthaler Elfriede Jelineks neues Stück "In den Alpen" in den Münchener Kammerspielen uraufgeführt hat. Sie wird für das Warten belohnt: "Die riskante Verbindung der Brandopfer von Kaprun mit dem Holocaust (...) wäre unter dem Eindruck der Aktualität wohl an Un- oder Missverständnis gescheitert. Marthalers Trauerarbeit indessen lebt nicht vom Tagesgeschehen, sondern von der All-Täglichkeit eines Geschehens, das der Alltag lieber ungeschehen machen würde."

Weitere Artikel: Angelika Overath unternimmt einen Rundgang durch die Räume des Martin-Heidegger-Museums in Messkirch, das in der Gestaltung ganz dem Leben des Philosophen nachempfunden ist - in Form einer "philosophisch-didaktischen, einer politisch-ethischen Gratwanderung", wie Overath beschreibt. Peter W. Jansen schaut auf das Leben des kürzlich verstorbenen flämischen Filmregisseurs Andre Delvaux zurück, dessen hinterlassenes Werk klein, aber beachtlich sei. Jürgen Tietz setzt sich mit der Frage auseinander, ob Lübecks Anspruch, eine Stadt des Unesco-Weltkulturerbes zu sein, immer noch gerechtfertigt ist. Und Margit Ulama wirft einen kurzen Blick zurück auf die Architekturtage in Österreich.

Besprochen werden die Inszenierungen von Arnold Schönbergs "Erwartung" aus dem Jahre 1909 und dem Stück "La Voix humaine" von Francis Poulenc von 1959 im Pariser Chatelet und ein Konzert des Zürcher Kammerorchesters.

FAZ, 07.10.2002

Einen Tag vor Eröffnung der Buchmesse hält Literaturchef Hubert Spiegel Vorschau auf den literarischen Herbst. "In diesem Herbst, in dem der Himmel über den Frankfurter Messehallen besonders tief hängt, und mancher Buchhändler sich den teuren Ausflug zur Messe kaum noch leisten kann, handeln auffällig viele Neuerscheinungen von der Familie, also von jenem Ort, wo Seelenkatastrophen noch von Hand gefertigt werden, in Heimarbeit." Jonathan Franzens "Korrekturen" mit dem Parkinson-geplagten Vater gab das Vorbild, nun folgen, so Spiegel, Alison Louise Kennedy mit ihrem Roman "Alles was du brauchst" (Wagenbach) und die deutschsprachigen Autoren Adolf Muschg, Hans-Georg Behr, Arnold Stadler, Christoph Meckel und Melitta Breznik. In einem zweiten Artikel werden schon die wichtigsten Besprechungen der morgigen Literaturbeilage in der FAZ genannt.

Neuerdings werden wieder Städte vom Reißbrett geplant, berichtet Niklas Maak, der etwa einen von Norman Foster in Hongkong geplanten, komplett mit Glas überdachten Stadtteil nennt. Der Grund für die neuerliche Revloution im Städtebau ist einfach: "Während sich in Europa die öffentliche Diskussion hingebungsvoll an Stadtschlössern, Traufhöhen und anderen Fragen der Altstadtdekoration festbeißt, geht es anderswo darum, wie man in den nächsten zehn Jahren etwa 50 Millionen neue Städter unterbringt: 1975 gab es weltweit nur fünf Städte mit über zehn Millionen Einwohnern, heute sind es neunzehn."

Weitere Artikel: Barbara Hahn und Peter Schöttler widersprechen Hans-Ulrich Gumbrecht, der vor einigen Tagen die europäische Halutung zum Irak kritisierte. Paul Ingendaay bereitet uns auf das Erscheinen des ersten, lange erwarteten Bandes von Gabriel Garcia Marquez Autobiografie "Vivir para contarlo" (etwa: "Leben, um davon zu erzählen") vor - er erscheint auf spanisch am Donnerstag (hier ein langer Artikel aus der neuesten Nummer von La Jornada zum Ereignis). Jürg Altwegg berichtet, dass dem umstrittenen Roman "Rose bonbon" von Nicolas Jones-Gorlin, der bei Gallimard erschienen ist, ein Verbot durch das französische Innenministerium droht. Katja Gelinsky bereitet uns auf die Saison am Supreme Court in Washington vor - auch Terrorprozesse werden hier verhandelt. Andreas Rossmann schreibt zum Tod der Bühnenbildnerin Herta Boehm. Joseph Croitoru liest osteuropäische Zeitschriften, die sich mit der Funktion der Sozialdemokratie heute befassen.

Auf der letzten Seite bringt Gerhard R. Koch die ehemalige Hamburger Kultursenatorin Christina Weiss als neue Staatsministerin für Klultur ins Spiel. Andreas Rosenfelder schickt eine Reportage aus dem Wahlkreis Warendorf, der fest zu Jürgen Möllemann steht. Und Christian Schwägerl bemerkt schwarz-grüne Annäherungen in der Biopolitik. Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises. Dietmar Dath stellt die Science-fiction-Serie "Farscape" vor. Und Michael Handeld schildert die medienpolitischen Zustände beim ZDF.

Besprochen werden die Uraufführung von Elfriede Jelineks Stück "In den Alpen", inszeniert von Christoph Marthaler, in München (das Stück hat die Bergbahnkatastrophe von Kaprun zum Hintergrund, aber "der Text besitzt keine geistige Spannung, er zielt auf nichts", schreibt Renate Schostak), ein Auftritt des Chansonniers Tim Fischer in der Alten Oper Frankfurt, die Ausstellung "Shopping" in der Frankfurter Schirn und Wolfgang Rihms "Tutuguri"-Ballett in Stuttgart.