Efeu - Die Kulturrundschau

Rätselhafte Inseln der Anarchie

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06.07.2016. Das Blog der NYRB ergründet die psychologischen Porträts Marcel Sternbergers. Die SZ gerät kurz hinter Castrop-Rauxel in ein Pandämonium der unsichtbaren Ansprache. Der Tagesspiegel sieht die Volksbühne in allergrößter Gefahr, und zwar der Provinzialisierung. Und alle trauern um Abbas Kiarostami, der uns ein Kino voller Licht und Luft schenkte, wie die taz schreibt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.07.2016 finden Sie hier

Kunst

Marcel Sternbergs Fotografien von Frida Kahlo (Mexiko 1952) und Sigmund Freud (London 1939)

Im Blog der NYRB schreibt Lucy McKeon über die psychologischen Porträts des Fotografen Marcel Sternberger, den der Historiker Jacob Loewentheil mit einem sehr instruktiven Buch ins Gedächtnis ruft: "Er erklärte seine Technik in einem Manuskript, das bis zu Sternbergers Tod 1956 unveröffentlicht geblieben war. In diesem Text, der verschiedene Techniken und Anweisungen illustriert ('Augen mit hängenden Lidern fotografiert man am besten mit einem hellen indirekten oder einem harmonisch diffusen Licht'), macht Sternberger auch verschiedene Unsicherheiten aus - Kamerascheu, Studioprahlerei - und Methoden, sie zu verringern. Er warnt Porträtisten vor übertriebener Hintergrundbeleuchtung, vor Requisiten, Special Effects und steifen Posen: 'Die kritische Kamera toleriert keinen Exzess.'"

Till Briegleb berichtet in der SZ von der Triennale "Emscher Kunst", die den vertrauten Ruhrpott mit einigen "rätselhaften Inseln der Anarchie" ins Fremdartige verschiebt. Etwa die Klanginstallation von Janet Cardiff und George Bures Miller: "Es ist ihre documenta-Arbeit 'Forest (for a thousand years)', die bei Castrop-Rauxel zwischen Stinkmorcheln und Farnen an einem Reitpfad in der Natur versteckt ist. Mit ultrapräsenten Geräuschen wie Atmen, Krieg- und Maschinenlärm, Gewitterdonner, Rascheln oder dem Gehämmer von Spechten sowie einem Vokalstück von Arvo Pärt verwandelt diese Audiokomposition den Wald in ein Pandämonium der unsichtbaren Ansprache." Hier ein Ausschnitt von der Documenta:



Weiteres: Elena Beis berichtet in der taz vom selbstorganisierten Kunstfestival Asterismos auf der Insel Amorgos.

Besprochen werden die Schau zur Fotografin Berenice Abbott im Gropius-Bau in Berlin (taz) sowie die Ausstellungen "Die Vermessung des Unmenschen - Zur Ästhetik des Rassismus" im Lipsiusbau in Dresden und "Unheimliche Nähe - Menschenaffen als europäische Sensation" in der Universitätsbibliothek Albertina in Leipzig (FAZ).
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Musik

Besprochen werden der Auftritt von Massive Attack mit Gästen in Berlin (Tagesspiegel), ein Konzert des Ensemble Mosaik in Berlin (taz), das neue Album der Avalanches (The Quietus), Uwe Dierksens Album "Blue Rock Thrush" (FR), neue Punk- und Hardcoreveröffentlichungen (The Quietus) und die Doppel-CD "Unheard Bird", die bislang unbekannte Aufnahmen von Charlie Parker enthält (SZ).
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Stichwörter: Mosaik

Bühne

Für einen Offenbarungseid hält es Rüdiger Schaper im Tagesspiegel, dass man in Sachen Volksbühne dem Berliner Senat ein Bekenntnis zur Arbeitssprache Deutsch abgerungen hat: Hier gehe es ja wohl nicht mehr um das Haus an sich, sondern wohl eher um Ressentiments und Einhegungen im Milieu, meint er: "Eine gewisse Tragik liegt darin, dass die Volksbühne, die so viel bewegt hat, nun wie ein Fels in der Brandung stehen soll. Alles verändert sich, hier kann man sich festhalten, an der eigenen Geschichte. Marmor, Stein und Eisen bricht, aber diese Bühne nicht. Es schmerzt, wie aus dem radikalen Staatstheater der Wendezeit ein sentimentales Stadttheater geworden ist ... Wenn Dercon nicht eine faire Chance bekommt, ist die Volksbühne wirklich in Gefahr."

Weiteres: In Bayreuth übernimmt Hartmut Haenchen Andris Nelsons' mit Aplomb vakant gewordene Stelle als Dirigent der "Parsifal"-Premiere, meldet Jana Lotze im Tagesspiegel (mehr im Efeu vom Samstag. Für die SZ hat Reinhard J. Brembeck das Opernfestival in Aix-en-Provence besucht.

Besprochen werden John Neumeiers Ballettchoreografie zu Olivier Messiaens Sinfonie "Turangalîla" (FR, FAZ) und Hermann Beils zweistündige Bühnenfassung von Heimito von Doderers Großroman "Die Dämonen" bei den Festspielen Reichenau (Standard).
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Literatur

Lindesay Irvine meldet im Guardian, dass der prestigeträchtige Caine Prize for African Writing in diesem Jahr an den südafrikanischen Autor Lidudumalingani geht. Seine prämierte Kurzgeschichte "Memories Lost" erzählt von einem jungen Mädchen, das seine geistig behinderte Schwester vor Ungnade und Aberglauben bewahren muss. Sie ist hier als pdf zu lesen.

In der NZZ erklärt Schriftsteller und Übersetzer Felix Philipp Ingold die verschiedenen Verfahren zur Bildung der derzeit so omnipräsenten Wortspiele und Neologismen, während gleichzeitig oft von einer "Verluderung" der deutschen Sprache gesprochen wird: "Die Verfahren wortspielerischer Techniken gehörten ursprünglich dem Bereich der Poesie an. Für die Gebrauchssprache... hatten sie keine merkliche Relevanz. Fast ist man versucht, von 'gesunkenem Kulturgut' zu reden, wenn man feststellt, mit welcher Selbstverständlichkeit heutzutage auch in durchaus kunstfernen Zusammenhängen höchst anspruchsvolle dichterische Verfahren brillant gehandhabt werden."

Weiteres: Gerrit Bartels (Tagesspiegel), Hans-Peter Kunisch (SZ) und Judith von Sternburg (FR) schreiben zum Tod des Schriftstellers Markus Werner.

Besprochen werden unter anderem Christoph Ribbats "Im Restaurant" (FR), Kan Takahamas Manga "Stille Wasser" (Tagesspiegel), neue Bücher von Günter Herburger (SZ), Tamara Ireland Stones "Mit anderen Worten: ich" (NZZ) und Christian Hallers "Die verborgenen Ufer" (FAZ). Mehr aus dem literarischen Leben im Netz auf Lit21, unserem fortlaufend aktualisierten Metablog.
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Film

"Wenige Filmkünstler haben das Kino so sehr geprägt wie Abbas Kiarostami", stellt Daniel Kothenschulte in seinem für die FR verfassten Nachruf fest: "In einer Zeit als im westlichen Kino die Postmoderne herrschte, als Bilderflut und Ironie das Maß der Dinge waren, kam ausgerechnet aus einer islamischen Diktatur eine ganz andere Art von Kino: eine puristische Filmkunst, die noch an die Wahrhaftigkeit einer ausdrucksvollen Einfachheit glaubte."

In der taz würdigt Ekkehard Knörer Kiarostami als "einen der ganz Großen des Kinos": "Kiarostamis Filme sind offene Kunstwerke par excellence. Sie verrätseln so wenig wie sie erklären. Sie verbergen nichts, alles liegt offen zutage, sie sind ein Kino der Luft und des Lichts, der Landschaft und der Menschen darin, aber auch der Zeit, die man in der Nähe der Menschen verbringt, denen die Kamera fast immer unbewegt folgt." Über ein bloßes Spielen mit den Grenzen der Zensur im Iran reichen diese Filme hinaus, schreibt er: "Kiarostamis modernistische Ästhetik der hochreflexiven Ambivalenz ist sicher nicht einfach ein Produkt der Zensur, eher ist sie das Raffinierteste, was unter den Bedingungen einer Diktatur möglich war."

Außerdem zu Kiarostami: Hanns-Georg Rodek weist in der Welt auf eine Leerstelle in Kiarostamis Werk hin: "Was fast vollkommen fehlt, ist die moderne, junge, urbane Frau." In der NZZ würdigt Susanne Oswald den iranischen Filmemacher und dessen komplexes, hintersinniges Werk. In der Berliner Zeitung erinnert sich Anke Leweke an persönliche Begegnungen mit dem Verstorbenen. Weitere Nachrufe in FAZ, in der SZ, im Tagesspiegel und auf ZeitOnline. Kiarostamis 2006 entstandenen Kurz-Dokumentarfilm "Roads of Kiarostami" kann man auf Youtube sehen. Außerdem: Ein paar von Kiarostamis traumhaft schönen Fotografien aus den achtziger Jahren.



Weiteres: Im Tagesspiegel empfiehlt Claudia Lenssen die große Douglas-Sirk-Retrospektive im Zeughauskino Berlin. Im Standard plaudert Dorian Waller mit Penelope Cruz über das Krebsdrama "Ma Ma". In der SZ verneigt sich David Pfeifer vor Sylvester Stallone, der heute siebzig wird. Dietmar Dath erinnert in seinem Liebesbrief in der FAZ daran, "dass Stallones Schauspielerpersona eigentlich mehr mit italoamerikanischer Panthergeschmeidigkeit zu tun hat - das heißt: mit Al Pacino oder John Travolta - als mit dem bolzengeraden Grobianismus der Schwarzenegger-Lundgren-Seagal-Gladiatorenära." Auch die NZZ gratuliert mit Björn Hayer dem "härtesten Hund Hollywoods".

Besprochen werden Bernadette Knollers "Ferien" (taz) und die gleichnamige Verfilmung von John le Carrés Thriller "Verräter wie wir" mit Ewan McGregor (FAZ).
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