Dan Diner

Gedächtniszeiten

Über jüdische und andere Geschichten
Cover: Gedächtniszeiten
C.H. Beck Verlag, München 2003
ISBN 9783406505607
Broschiert, 296 Seiten, 12,90 EUR

Klappentext

"Gedächtniszeiten" versammelt Beiträge Diners zum Thema Geschichte und Erinnerung, Gesellschaft und Gedächtnis, sowie der methodischen Umsetzung hybrider Kulturerfahrung im Prozess nachholender Säkularisierung. Dabei legen seine Forschungen stets Vergleichs- und Verschmelzungshorizonte von Orient und Okzident gleichermaßen zugrunde. Diners luzide Rekonstruktionen der historischen Diskurse, die um Vorherrschaft im kollektiven Gedächtnis ringen, sind Bausteine einer Gedächtnisgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 03.07.2003

Ist "Europa" nur ein idealisierter Begriff der Eliten, eine Illusion, die skeptischer Nachfrage nicht standhält? Oder gibt es eine allen Europäern gemeinsame Identität, die auf einem kollektiven Gedächtnis fußt? Diese Frage ist nicht erst seit der Zuspitzung des aktuellen transatlantischen Konfliktes zum Problem geworden. Einen interessanten Blick auf Europa wirft Dan Diner in dem vorliegenden Buch, meint Rezensent Willi Jasper. Stets würden seinen Forschungen Vergleichs- und Verschmelzungshorizonte zwischen Orient und Okzident zugrunde liegen. Anhand immer wiederkehrender Konfliktfelder wie "Russland", der "Balkan" und die "Türkei" habe der Autor ein aktuelles "Assoziationsfeld für längst vergangen geglaubte Konstellationen gefunden". Als Beispiel hierfür nennt der Rezensent den vom Diner präsentierten historischen Rückblick auf die "orientalische Frage" welche Europa seit dem Krimkrieg 1853-1856 begleite. Wie in früheren Zeiten drohen Europa auch heute Konflikte, welche von der Peripherie ins Kernland ausstrahlten. Auch stelle der Autor dar, das der Widerspruch zwischen "altem" und "neuem" Europa ein originär innereuropäischer sei. Der Kontinent sei schon immer ambivalent gewesen. So seien die "Traditionen des Kolonialismus, des Nationalismus und des Völkermords" europäisch. Doch gelte dies auch für die "Werte und Rechtskategorien, an denen sie gemessen und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden". All dies stelle der Autor in seinem Werk gut dar. Und so resümiert Jasper: "Das von Diner skizzierte historische 'Erfahrungsmodell' der europäischen Säkularisierung ermöglicht eine Kritik an der heutigen EU-Realität, die nicht nostalgisch und national ist, sondern radikal europäisch und universell."

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 19.04.2003

Man solle doch, empfiehlt Thomas Meyer, die vorzüglichen Essays dieses Band in der Reihenfolge ihres Erscheinens lesen - so entfalte sich Dan Diners "anspruchsvolles kulturwissenschaftliches Programm" besonders deutlich. Es geht diesem nämlich darum, "die Wurzeln für die Entwicklung Europas im 20. Jahrhunderts freizulegen und dabei den Blick auf die vernachlässigten Einflussgrößen Orient und Osteuropa zu lenken", schreibt Meyer. Dazu sucht Diner nicht nach ungeschriebener Geschichte, sondern rückt neue oder vernachlässigte Lesarten historischer Momente und Konstellationen in den Vordergrund, führt der Rezensent weiter aus. Er setze, mit anderen Worten, auf die erhellende Kraft von Perspektivwechseln - gegen die vorhandene Begrifflichkeit, die alles mit Nationenbildung und Bürgertum erklärt und gegen die viel zu eindeutige "alte Denkweise von Kontinuitäten und Brüchen in der Geschichte".

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 08.04.2003

Als "veritables Lesebuch zur europäischen Geschichte" würdigt Rezensent Tim B. Müller den nun vorliegenden Band "Gedächtniszeiten", der eine Reihe von Aufsätzen, darunter "klassische Arbeiten", von Dan Diner versammelt. Etwa den 1984 erstmals verfassten Beitrag über Max Horkheimers Auseinandersetzung mit Auschwitz, nach Einschätzung Müllers "noch immer die wichtigste Untersuchung dazu". Auch Diners Studie über die Judenräte ist in Müllers Augen ein "wahrhafter Klassiker". Diese und andere Texte fügen sich Müller zufolge ein in eine größere Leitlinie, die Diners Buch durchzieht: die Geschichte eines Raumes - Europa. Diner erzähle die Geschichte Europas von der Peripherie, von Odessa, Istanbul oder Israel aus. Dadurch gewinne er einen neuen Blick auf vertraute Phänomene. Als "naheliegenden Kunstgriff" erachtet es Müller, dass Diner seine Fallstudien einer integrierten europäischen Geschichte als Geschichte der Juden vorträgt - Juden lebten nun einmal sowohl im Orient wie im Osten und Westen Europas. Ganz ohne Makel ist das Buch nach Müller indes nicht: das Einleitungskapitel hält Müller für eine "sprachliche Zumutung". Nichtsdestoweniger: "Diese kleinen Unebenheiten", so der Rezensent, "schmälern jedoch nicht die Bedeutung des von Diner Dargebotenen".
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.03.2003

Friedrich Niewöhner lobt dieses Buch, das 15 Aufsätze über jüdische, islamische und westeuropäische Geschichte des 20. Jahrhunderts enthält, sehr. Die sorgfältige "jedes Wort abwägende" Sprache des Autors gefällt ihm gut, was besonders bei dem Aufsatz über den von den Nazis eingesetzten "Judenrat" der Konzentrationslager hilfreich ist, weil er durch sprachliche Distanz die Leser zum Nachvollziehen der Gedankengänge "geradezu zwingt", wie der Rezensent angetan bemerkt. Er betont, dass Diners Art der Geschichtsschreibung "wegweisend" sei, weil die Darstellung von "Transnationalität und Transterritorialität" der jüdischen Bevölkerung Europas für die "europäische Historik" exemplarisch sei. Bei den Beiträgen zur israelischen Geschichtsschreibung werde für den Leser zudem "deutlich", wie schwierig dieses Unterfangen bei einem Land sei, das immer noch im Prozess der "Suche nach der eigenen Legitimität" stecke, so der Rezensent zustimmend.
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